Es ist erst ein paar Minuten nach acht an diesem Mittwochmorgen, doch in Ulrich Noss’ Praxis drängen sich bereits die Paare. In die Mittagspause, das weiß Noss schon jetzt, wird er es heute wieder nicht schaffen, und auch am Wochenende wird er arbeiten müssen. Noss’ Praxis hat auch sonntags geöffnet, denn der weibliche Eisprung schläft nie – und die Zeit seiner Patientinnen drängt. Dr. Noss kann sie davon erlösen, manchmal.
Über 150 Patienten suchen jeden Tag in der Münchner Innenstadt in der Straße mit dem Namen »Tal« nach einem Parkplatz vor der Praxis Bollmann, Brückner, Noss. 150 Menschen, die sich ein Kind wünschen, aber keines bekommen können. Praxen wie diese, die sich auf kinderlose Paare spezialisiert haben, sind in Deutschland in den letzten zwanzig Jahren überall entstanden, vier in München, 16 in Berlin. Sie sind die letzte Hoffnung für viele Paare. Noss ist der Typ Arzt, der seinen Patienten das Gefühl gibt, man könne ihn problemlos auch am Abend anrufen. Er strahlt eine grauschläfige Sanftheit aus, die signalisiert, dass bei ihm auch die intimsten Details gut aufgehoben sind, und seine Augen scheinen tief in die Seele der Menschen blicken zu können. Im Wartezimmer mustern sich die Paare gegenseitig verstohlen aus den Augenwinkeln, denn sie wissen: Sie sind alle aus dem gleichen Grund hier.
(Lesen Sie auf der folgenden Seite: Wechseljahre mit 35. Das wird nichts mehr mit dem Kind.)
Der Morgen beginnt mit einer schlechten Nachricht. Die Arzthelferin Sabine Ranz hat Noss eine Akte auf den Tisch gelegt, und beim Anblick der Untersuchungsergebnisse murmelt er: »Verdammt, verfrühtes Klimakterium. Wechseljahre mit 35. Das wird nichts mehr mit dem Kind.« Mit einem Seufzer schlägt er die Akte zu. Heute Abend wird er ein trauriges Telefonat führen müssen.
Vielleicht aber klappt es bei den anderen Paaren, die im Wartezimmer ihrem »Kinderwunschgespräch« entgegensehen: Ein Paar nach dem anderen sitzt vor ihm, alle ein wenig zu aufrecht vielleicht, zaghaft erzählend: wie lang sie schon versuchen, ein Kind zu bekommen; wann sie anfingen, sich Sorgen zu machen; wie sie schließlich zu Dr. Noss gelangten. Noss weiß, dass es den Paaren hilft, wenn er ihnen mit unemotionaler Routine begegnet. Er fragt dann: »Wie alt sind Sie? Wann die letzte Regel? Spermien schon untersucht?«
Nina Langner* hat diese technische Atmosphäre anfangs überrascht. Sie staunte, wie schnell alles ging. »Du kommst da rein«, sagt sie, »und schon geht es los, schon bist du mittendrin im System.« Bald aber war sie froh, dass es so wenig um Gefühle geht in dieser Praxis, dass keine Babyfotos an den Wänden hängen, dass die Paare wenig untereinander sprechen. Die Praxis organisiert die Zeitpläne absichtlich so, dass morgens, wenn Beratungen und Untersuchungen kinderwilliger Frauen stattfinden, keine Schwangeren zu sehen sind. Die kommen erst am Nachmittag. Die Unglücklichen sollen die Glücklichen nicht sehen.
Langner gehört noch nicht zu den Glücklichen. Sie ist 40 Jahre alt und vielleicht so etwas wie ein Prototyp der Frauen, die zu Noss kommen. Sie hat ihre Designerjeans in die Stiefel gesteckt, die blonden Haare zum Zopf gebunden, sie ist erfolgreich als Kommunikationschefin eines großen Unternehmens. In ihrer Schwabinger Dachterrassenwohnung hängen Andenken an ihre Reisen: Thailand, Mexiko, Südafrika, Sri Lanka.
Seit sechs Jahren versuchen sie und ihr Mann Thomas, ein Architekt, ein Kind zu bekommen, und seit knapp einem Jahr ist Langner nun in Behandlung, drei Inseminationen, wie man das Spritzen des Spermiums in die Gebärmutter während des Eisprungs nennt, hat sie schon hinter sich – ergebnislos.
(Lesen Sie auf der folgenden Seite: Sechzehn Eizelle statt einer - pro Zyklus.)
Noss hat ihr nun Hormonspritzen verordnet, damit sich viele Eizellen bilden, zehn, vielleicht 16 – bei einem natürlichen Zyklus entsteht eine, selten zwei. In ein paar Tagen hat sie ihren Termin zur Entnahme dieser Eizellen, die sich dann in einem Brutkasten mit dem Spermium des Mannes zu Embryonen entwickeln und in die Gebärmutter zurückgesetzt werden. In der Welt der künstlichen Befruchtung heißt dieses Verfahren IVF, kurz für »In-vitro-Fertilisation«, also »Befruchtung im Glas« – die Erschaffung von Leben außerhalb des Körpers.
Wenn Nina Langner zu Dr. Noss geht, denkt sie sich gegenüber ihrem Kollegen Ausreden aus. Der Kaminkehrer. Die Wurzelbehandlung. Der verstopfte Abfluss. In welcher Firma hört man es schon gern, wenn die Mitarbeiterinnen schwanger werden wollen, noch dazu wochenlang zum Arzt müssen? Wie die meisten Frauen erzählt auch sie nicht mal ihren Freunden davon.
Obwohl mittlerweile jedes achtzigste Kind in Deutschland durch künstliche Befruchtung zur Welt kommt und bei jedem zehnten ärztliche Hilfe benötigt wird, ist das Thema stigmatisiert: Gesellschaft und Religion fordern fruchtbare, potente Paare. Nina Langner aber sagt, ihr komme beim Anblick der vielen modernen Paare, die dort im Wartezimmer sitzen, manchmal der Gedanke, dass diese künstliche, technische, zielorientierte Atmosphäre perfekt zu den modernen Lebensläufen passt.
Langners Bauch, blau gefleckt von den Hormonspritzen, spannt bereits über den prallen Eierstöcken. In wenigen Tagen wird sie morgens nüchtern in die Praxis fahren, in den Raum neben den Operationssaal gehen, ihre Kleidung ablegen und auf die Narkose warten. Sie wird aufgeregt sein, doch Noss wird sie beruhigen.
Für den Arzt sind solche Eizellenentnahmen Routine, auch heute stehen sie auf seinem Dienstplan, wie jeden Tag. Er nennt sie »Punktionen«. Insgesamt 1300 Punktionen führen er und seine Kollegen Walter Bollmann und Thomas Brückner im Jahr durch, heute stehen sieben Eingriffe an. Noss hätte irgendwann auch gern zu Mittag gegessen, jemand hat ihm ein Gericht mit Huhn in die Mikrowelle geschoben, aber er hat mal wieder die Sprechstunde überzogen und hastet verspätet in den Umkleideraum, wo die Arzthelferinnen in blauen Kitteln und mit grünen Haarnetzen auf ihn warten.
(Lesen Sie auf der folgenden Seite: Die Bilder mit den Eizellen werden auch auf einen Bildschirm im Operationssaal übertragen: kleine schwarze, wie von grauem Nebel umhüllte Flecken in einer rosa- oder bernsteinfarbenen Flüssigkeit.)
Bevor den Patientinnen die Eizellen entnommen werden, blicken sie vom Operationstisch auf ein Deckengemälde, eine Trompe-l’Œil-Malerei: Es zeigt eine aufgebrochene Mauer, über die Pflanzen in den Himmel wachsen. Vor der Operation zählen die Assistenzärzte per Ultraschall, wie viele Eizellen zu holen sind, um ja keine zu übersehen. Noss sagt: »Das ist, als würde man eine Perle am Meeresgrund vergessen.« Wenn die Patientinnen dann in Narkose gefallen sind, sticht er mit einer langen Nadel in die Eierstöcke und saugt die Eizellen heraus, die in einem Reagenzröhrchen in den Nebenraum gereicht werden. Eine Laborärztin sitzt vor einem Mikroskop und zählt: »Eine, zwei … fünf … acht … zwölf … dreizehn. Vierzehn. Wir haben alle!« Die Bilder mit den Eizellen werden auch auf einen Bildschirm im Operationssaal übertragen: kleine schwarze, wie von grauem Nebel umhüllte Flecken in einer rosa- oder bernsteinfarbenen Flüssigkeit.
Sofort nach dem Eingriff bringt Noss die Eizellen mit den Spermien des Mannes zusammen, oder die Spermien werden, falls sie zu langsam oder unbeweglich sind, in die Eizelle gespritzt: Man nennt das ICSI-Methode, »intracytoplasmatische Spermieninjektion«. Unter einem Mikroskop macht eine Laborantin die Spermien aus. Sie wuseln umher wie Fliegen unter einer Straßenlaterne. Mit einer Injektionspipette saugt sie ein Spermium an und spritzt es in die Eizelle. Wie sie das eine auswählt, das letztendlich in die Eizelle darf? »Ich suche mir einfach ein ganz besonders schönes aus.«
Im Brutkasten wachsen die Zellen zu Embryonen heran. Bei gut entwickelten Zellen hat die Frau Chancen, schwanger zu werden. Je mehr Embryonen sie sich einsetzen lässt, desto höher liegt die Wahrscheinlichkeit für ihr Mutterglück – drei sind in Deutschland höchstens erlaubt. Allerdings steigt dann auch die Gefahr einer Zwillings- oder sogar Drillingsschwangerschaft.
Heike Ehlerts hatte bereits Glück; ihr Glück heißt Johannes und sitzt quietschend und sabbernd auf ihrem Schoß. Johannes hat die gleichen feinen, leicht rötlichen Haare wie seine Mutter, und er ist das, was man in der Sprache der künstlichen Befruchtung ein »Kryokind« nennt: ein Kind, das aus einer befruchteten Eizelle entstanden ist, die zuvor eingefroren war. Die Eizellen wachsen bei einer Hormontherapie oft so zahlreich, dass man die übrig gebliebenen einfriert – falls der erste Transfer nicht klappt oder die Frau später noch ein zweites Kind will.
(Lesen Sie auf der folgenden Seite: Mütter nennen ihre befruchteten Eizellen, die noch im Eis liegen, »Frosties« oder »Eskimos«.)
Mütter nennen ihre befruchteten Eizellen, die noch im Eis liegen, »Frosties« oder »Eskimos«. Ehlerts, 35 Jahre alt, ist selbst Ärztin an einem Kinderkrankenhaus, ihr Mann ist Biochemiker. Sie spricht leise, wenn sie sagt, dass ihr ein wenig mulmig zumute ist bei dem Gedanken, dass es noch keine Langzeitforschungen über IVF-Kinder und Kryokinder im Speziellen gibt. Während ihres Studiums, erzählt sie, sei sie auf eine Studie an Mäusen gestoßen, bei deren künstlich erzeugter Nachkommenschaft ein erhöhtes Risiko an Alterskrankheiten zu beobachten war.
Sie hat sich trotzdem für die künstliche Befruchtung entschieden, obwohl es ihr schwerfiel, von der jahrelangen Schicksalsergebenheit auf die plötzliche Machbarkeit umzuschalten. Liebevoll streichelt sie ihrem Baby über den Kopf. »Mein Mann und ich nahmen es mit Humor. Als ich damals erfuhr, dass zwölf Eizellen in meinem Bauch gewachsen waren, sagte er: brave Legehenne!«
Ob sie ihrem Sohn erzählen wird, wie er gezeugt wurde? »Schon allein, damit er weiß, dass er eines Tages Teil einer Risikogruppe sein könnte«, sagt sie. Die genauen Worte hat sie sich noch nicht zurechtgelegt. »Aber es kann auch nicht viel schlimmer sein als zu sagen: Schatz, du bist entstanden, weil wir so besoffen waren.«
Wer befruchtete Eizellen wie Heike Ehlerts eingefroren hat, bekommt halbjährlich eine Rechnung von 125 Euro Einfriergebühr – so als hätte man Winterreifen bei BMW eingelagert. Wenn die Familien kein zweites oder drittes Kind aus ihrem Depot wollen, können sie selbst entscheiden, wann sie es auflösen und die befruchteten Eizellen »verwerfen«, wie man in der Kliniksprache sagt. Manchmal sieht man Frauen mit einer Schachtel in die Praxis kommen. Sie legen ihre Petrischale in die Schachtel und gehen wieder. Manche begraben sie dann zu Hause im Garten.
(Lesen Sie auf der folgenden Seite: »Ihre Eizellen: Die sind Klasse! Die haben eine hohe Potenz!«)
An den Nachmittagen in seiner Praxis schafft Ulrich Noss Leben. Dann setzt er die Embryonen in die Körper der Frauen ein. Es sind besondere Augenblicke. Noss erzählt, dass in Amerika sogar manchmal Priester zu diesen Embryonen-Transfers mitkommen würden, um den Raum vorher zu segnen. Die Patientinnen dürfen auf einem Flachbildschirm zuschauen, wie eine Petrischale geöffnet wird, auf deren Rand ihr Name und ihr Geburtsdatum steht. Noss zoomt die Zellklumpen auf dem Bildschirm heran. Hoffnung liegt in der Luft, eine leichte Beschwingtheit fast, die Arzthelferinnen scherzen, und die Sonne wirft helles Licht auf die grünen Haarnetze.
Noss sagt zu einer Patientin, die sich gerade auf dem gynäkologischen Stuhl gelegt hat: »Sehen Sie, auf dem Bildschirm – Ihre Eizellen: Die sind Klasse! Die haben eine hohe Potenz!« Dann spritzt er die Embryonen mit einem weichen Schlauch in die Gebärmutter, das dauert nicht einmal zwei Minuten. Zwölf Embryonen-Transfers sind an diesem Nachmittag angesetzt. Im Nebenraum liegen die Frauen danach mit geröteten Wangen nebeneinander auf Liegen, hören Musik von Mozart, die Hände auf dem Bauch, und versuchen in sich hineinzuhören, ob es diesmal geklappt hat. Der Raum scheint wie abgekoppelt vom Rest der Praxis.
Maria Keuter lag sehr oft in diesem Raum, und sie sagt, es sei immer wieder rührend zu beobachten, wer unter den Frauen welche Stimmung ausstrahle, wer sich sicher sei, schwanger zu sein. Wenn Maria Keuter über ihre Erlebnisse der letzten Jahre erzählt, bekommt sie dunkle Flecken auf ihrem Hals. »Jetzt bin ich bestimmt wieder knallrot im Gesicht?«, fragt sie ihren Mann. Aber der lächelt nur und greift fest nach ihrer Hand.
(Lesen Sie auf der folgenden Seite: Tränen und 50 000 Euro Kosten)
In den letzten sieben Jahren hat Georg Keuter sehr oft die Hand seiner Frau auf diese Weise ergriffen, in diesen Augenblicken voller Unsicherheit. Immer, wenn sie fünf Tage nach dem Embryonen-Transfer zum Bluttest in die Praxis fuhren und sich abends ins System der Praxis einloggten, um die Ergebnisse online abzufragen, hielt er ihre Hand auf diese Weise. Und umarmte sie, um ihre Tränen an seiner Schulter aufzufangen, wenn wieder diese Worte erschienen: »Es konnte keine Schwangerschaft festgestellt werden.«
14 IVF-Versuche in sieben Jahren wagten sie, das ergibt ungefähr zweihundert Besuche beim Arzt, immer wieder neue Untersuchungen, Blutproben, Eizellenentnahmen. Georg Keuter sagt, er wolle gar nicht hochrechnen, was das gekostet hat, die Kassen beteiligen sich ja nur bei den ersten drei Versuchen zur Hälfte. »50 000 Euro werden es schon sein.«
Nach dem zwölften Versuch sollte eigentlich Schluss sein, doch dann stieg der Wert des Hormons hCG leicht an (die Arzthelferinnen nennen diesen Zustand »ein bisschen schwanger«). Das bedeutet, dass sich für nur kurze Zeit ein Embryo in der Gebärmutter einnistet, der dann wieder abgeht – in der Natur bemerkt eine Frau solche Schwangerschaften nicht einmal. Doch für die Keuters hieß es: weitermachen!
Nach dem 14. Versuch fuhr Maria Keuter den Computer hoch und las ihrem Mann die Werte am Telefon vor. Maria Keuter las – wie immer seit sieben Jahren – dieselben Worte: »Es konnte keine Schwangerschaft festgestellt werden.« Ihr Mann schrie: »Aber das kann nicht sein, der hCG-Wert ist doch viel zu hoch!« Dann erst, ganz plötzlich, wurden die Worte vor ihren Augen klar: »Es konnte e i n e Schwangerschaft festgestellt werden.«
Dr. Noss hatte die Keuters erlöst, und das war selbst für den Arzt ein Wunder. Er sagt, schon nach dem vierten gescheiterten IVF-Versuch ist die Wahrscheinlichkeit, doch noch schwanger zu werden, statistisch gesehen sehr gering.
Kinderwunschpraxen haben sich, von der Öffentlichkeit wenig bemerkt, als ein Phänomen unserer Zeit etabliert und im Stillen unsere Gesellschaft bereits verändert: Frauen schicken sich zur Geburt Postkarten mit Eskimos darauf. Mütter stellen ihren pubertierenden Kindern die Ärzte vor, die sie gezeugt haben. Wo es eine Nachfrage gibt, entsteht ein Markt, so lautet die Grundformel unserer Gesellschaft, und die Fragen von Ethik und Moral, von Gott und Natur zu stellen und zu beantworten gelingt kaum im gleichen Tempo, wie der Markt wächst und neue Möglichkeiten bietet.
Für die Paare, die ihren Weg in eine Praxis wie die von Bollmann, Brückner, Noss aufgenommen haben, verpuffen alle Bedenken und Fragen in jenem Augenblick, in dem sie den pochenden schwarzen Punkt auf dem Ultraschallbild zum ersten Mal erblicken – wenn der Arzt mit seiner Computermaus über das schwarz-weiß gefleckte Bildschirmbild klickt, das das Ultraschallfoto eines weiblichen Unterleibs zeigt, und sagt: »Da ist er: der Embryo. Das Herz. Der Dottersack. Insgesamt 3,3 Millimeter. Gut entwickelt.« Klick. Für diesen Augenblick geben die Paare alles.