Es gibt drei große Phasen mit Büchern im Leben von Menschen. Die erste: Man hört auf, sie wegzunuckeln. Die dritte: Man hört auf, die Dinge zu glauben, die drinstehen. Die zweite Entwicklungsphase ist die schönste. Es ist die Zeit, in der man gerade anfängt, die Dinge zu glauben, die drinstehen. Da ist man etwa drei Jahre alt und lebt im großen Vorlesezeitalter.
Für Eltern ist das ebenso wunderbar. Da sitzt man als Mutter oder Vater plötzlich vor diesem offenen Wesen, das einem zeigt, was für ein Wunder das Lesen sein kann. Das so genau zuhört, dass es schon beim nächsten Mal jede Vorlese-Abkürzung bemerkt. Das die Geschichte am Körper erlebt: Gänsehaut kriegt, jauchzt und aufspringt, Nägel beißt und sich im Kissen vergräbt. Und das die Protagonisten in sein Leben lässt, ganz wörtlich. »Die Pippi braucht immer so viele Eier«, sagte mein Kind neulich und legte – logisch – den Karton mit den zehn Eiern für Pippi Langstrumpf in unseren Einkaufswagen.
Das Problem an den Heldinnen und Helden in den Büchern ist nur: Sie sind alle rotzfrech.
Es scheint in Kinderbüchern nur zwei Arten von Kindern zu geben: solche, die Pferdeferien mögen, und solche, denen nur Blödsinn einfällt. Es scheint sogar einen gewissen Zusammenhang zwischen der Frechheit des Kindes und dem Erfolg des Buches zu geben. Da wird der schelmische Name der Protagonistin oder des Protagonisten quasi zum Produktversprechen: Pippi, Ronja, Michel, Lotta, Max und Moritz.
Ich, die ich den gesamten Tag damit verbringe, das Kind gewisse Handlungsnormen zu lehren, gebe abends Anarchie-Unterricht. Und lache auch noch mit beim Vorlesen. Eimerweise Wasser auf dem Boden ausleeren. Haha. Aus dem Fenster pinkeln. Haha. Pfannkuchen durch die Küche schmeißen. Haha. Fahrrad klauen. Haha. Mama anschreien. Haha. Lügen, klauen, hauen. Ha, ha, ha.
Nach einer dieser Wochen, in der mein Kind mich mehrfach beleidigt und mich darauf hingewiesen hatte, es brauche mich nicht um Süßigkeiten zu bitten, es könne sich auch im Supermarkt welche »mopsen« gehen, ich dürfe es nicht anrühren, wenn es das nicht wolle, und Eltern seien nur dafür da, die Kinder glücklich zu machen, kam ich zu der Frage: Mache ich mir womöglich das Leben schwer, indem ich mein Kind täglich mit Astrid Lindgren, Maurice Sendak, Erich Kästner, Ellis Kaut und Leo Lionni anreichere?
Janosch, der erklärte Erziehungsfeind, ist natürlich der Schlimmste. Eltern sind in seinen Werken grundsätzlich eher hinderlich für die Entwicklung der Kinder. Bestenfalls benehmen sie sich amüsant. Lächerlich werden sie, sobald sie sich ins Leben der Kinder einmischen. Das ist oft wirklich lustig. Man hat ja Selbstironie, klar. In dem Buch Papa Löwe etwa wird der Vater von der Tochter als »alter Pinsel« aus dem Zimmer gejagt, weil es nun echt mal vorbei sein müsse mit »dem Kommando der Alten über die jungen Mädels«. Ja, beim Vorlesen glucksen da alle Patriarchatsgeplagten noch fröhlich. Aber im echten Leben ist das Ganze um alle gesellschaftspolitischen Pointen gekürzt, und dann ist man einfach nur noch der alte Pinsel, der abhauen soll. Da ist man als Mutter gern mitgemeint.
Man hätte es ahnen können. Diese Bücher verheimlichen ja nicht mal, dass sie jedwede Erziehung sabotieren werden. Sie heißen schon so: Nein, ich will noch nicht ins Bett! Und das abends zum Schlafengehen vorlesen: Na, gute Nacht. Da hilft dann nur noch das Kinderbuch Verdammte Scheiße, schlaf ein! Wobei man danach nicht mehr mit seinem »Scheiße sagt man nicht« anzukommen braucht. Oder das Buch Man wird doch wohl mal wütend werden dürfen: Erleichtert nicht gerade das künftige Herunterdimmen eines Bockigkeitsanfalls.
Mädchen werden noch schamloser angestachelt als Jungs. Und die Grenzen zwischen Ermutigung und Größenwahn sind fließend. Erst heißt es Na klar, Lotta kann Rad fahren und dann plötzlich Lotta kann fast alles. Natürlich will jeder eine selbstbewusste Alleskönnerin und Meinungsführerin großziehen, aber in der Praxis wären Gehorsam und Demut schon auch ganz gut.
Wer sich im Buch mit dieser Lotta anlegt, kann sich sicher sein, nicht mehr zur Ruhe zu kommen. Sie ist witzig dabei, klar. Nur unterm Strich bleibt: Sie weiß alles besser, klare Anweisungen provozieren gegenteiliges Verhalten, und wenn man ihr Kontra gibt, wird sie wütend und schlägt zurück. Bei Kindern sagt man Trotzkopf, im Erwachsenenalter heißen solche Menschen je nach Größe des Einflussbereichs Hausdrache oder Diktator.
Dass das »alles können« natürlich ständig schiefgeht – im Buch wie in echt –, dabei viel zu Bruch geht, irgendwo immer irgendwer blutet und jede Menge Dreck entsteht: geschenkt. Vielleicht wäre es fair, hinten auf den Büchern anzugeben, auf wie viele schwachsinnige Ideen das Kind dadurch kommen könnte, wie viel Krach diese Ideen machen und wie lange man danach aufräumen muss, bitte mit realistischer Stundenangabe.
Wahrscheinlich verhält es sich mit den Kinderbuchhelden ähnlich paradox wie mit Kanzlerkandidaten und Nationalspielern: Abstrakt wünscht man sich etwas – Einblicke in die Seele, Herz auf der Zunge, Stinkefinger, gern auch eine Spur Wahnsinn. Aber in echt ist so eine Authentizität dann doch zu echt.
Die Namen, die reale Kinder in Deutschland bekommen, stützen meine These. Die heißen nämlich nicht nach den lustigen, frechen Ronjas und Michels und sonstigen Kinderbuchprotagonisten, sondern Samuel, Elias, Levi, Lia, Lea und Lina. Also Bibel oder Reiterferien.
Am Ende all dieser Gedanken landet man zwangsläufig bei Conni. Conni ist ein ordentliches Mädchen, und sie tut pro Buch nur eine Sache. Entweder geht sie seitenlang zum Zahnarzt oder ins Bett oder in den Kindergarten – und sie ist darin extrem berechenbar. Sie hört sogar auf ihre Mutter, wenn die Quatsch redet. Connis Sendungsbewusstsein ist furchterregend: Kontinuierlich belästigt sie andere Kinder mit den nachgeplapperten Werturteilen ihrer Eltern. Und das ist noch ihr charakterlich herausstechendstes Merkmal. Ansonsten ist sie – das muss man wirklich so klar sagen – so langweilig, dass es eine Frechheit ist.
Illustration: Pawel Mildner