»Wir waren die Letzten, die aus dem Wartezimmer in die Abendsprechstunde gerufen wurden. Der Arzt fragte uns noch einmal, ob wir uns sicher seien. Mein Mann und ich sahen uns in die Augen, dann sagten wir ›Ja‹. Alle beide. Ich bekam ein starkes Beruhigungsmittel, dann setzte der Arzt eine Kaliumchloridspritze in Luisas Herz. Ein paar Minuten später war alles vorbei. Luisa bewegte sich nicht mehr, auf dem Ultraschall war kein Herzschlag mehr zu erkennen. Als uns der Arzt fünf Tage zuvor, in der 32. Woche der Schwangerschaft, nach einer Fruchtwasseruntersuchung die Diagnose sagte – Trisomie 13, verbunden mit einem schweren Herzfehler, deformierten Nieren und einem fehlgebildeten Gehirn –, entschieden wir uns noch in der Beratungsstelle, die Schwangerschaft abbrechen zu lassen. Wenn Luisa die Geburt überhaupt überlebt hätte, wäre sie wahrscheinlich nach ein paar schrecklichen Minuten gestorben. Wir wollten unserem Kind diese Qualen nicht zumuten, diesen vergeblichen Kampf. Unser Engel sollte dort einschlafen, wo es ihm gut ging: unter meinem Herzen. In der Nacht nach der Abtreibung leitete der Arzt die Geburt ein und am nächsten Morgen um 9.41 Uhr wurde Luisa geboren. Die Hebamme wickelte sie in ein Tuch und legte Luisa in meine Arme. Ich hatte Angst, dass meine kleine Tochter wegen der Fehlbildungen schlimm aussieht, aber sie wirkte ganz friedlich. Sie hatte schwarze Haare wie ihr Papa und winzige Öhrchen. Ich streichelte sie und weinte um sie. Wir waren damals sehr allein mit dieser furchtbaren Entscheidung, und bis heute gibt es Momente, in denen ich zweifle, ob wir uns richtig entschieden haben. In unseren Gedanken lebt Luisa weiter.« Maja Stern*, damals 30 Jahre Wenn heute ein Kind geboren wird, weiß der Arzt schon eine Menge über die Gesundheit des Babys. Die sogenannte pränatale Diagnostik – Ultraschall, Blutanalysen und andere Methoden – bringt im Extremfall Eltern in die schreckliche Lage, über das Leben ihres behinderten Kindes entscheiden zu müssen. Immer mehr Krankheiten können durch vorgeburtliche Untersuchungen immer früher erkannt werden. Gleichzeitig steigt die Zahl der Frauen, die alle Möglichkeiten der mehrstufigen Pränataldiagnostik ausschöpfen. Fast immer kann der Gynäkologe die werdenden Mütter danach beruhigen. Aber was, wenn das Kind behindert ist? Wenn es die Qualitätskontrolle nicht übersteht? Im Falle des Downsyndroms, der häufigsten angeborenen Behinderung, entscheiden sich, je nach Studie, bis zu 94 Prozent der Eltern gegen das Kind. Bei anderen als schwer geltenden Behinderungen sagen 50 bis 70 Prozent der Mütter, sie wollen die Schwangerschaft beenden. Im Einzelfall ist eine solche Entscheidung immer nachvollziehbar, keine Mutter bricht leichtfertig eine Schwangerschaft ab. Aber das Gesamtbild, das sich aus Tausenden von Einzelfällen zusammensetzt, sieht ziemlich eindeutig aus: Darin sind behinderte Menschen kaum mehr vorgesehen. Sie werden, um es deutlich zu sagen, selektiert. Zwar entsteht der größte Teil der Behinderungen, etwa 90 Prozent, erst bei der Geburt oder später im Leben. Und lange nicht alle angeborenen Behinderungen werden vor der Geburt entdeckt. »Aber es gibt schon jetzt weniger behinderte Kinder, das ist ganz klar auch ein Ergebnis der pränatalen Diagnostik«, sagt Klaus Vetter, Professor für Geburtsmedizin in Berlin und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe. Niemand kann gesicherte Zahlen über einen Geburtenrückgang von behinderten Menschen in Deutschland nennen, weil es kein bundesweites Fehlbildungsregister gibt. Aber Studien aus Großbritannien zeigen, dass dort in den letzten 15 Jahren, als die pränatale Diagnostik sich stark verbreitete, deutlich weniger Kinder mit Trisomie 21, dem Downsyndrom, geboren wurden, während die Zahl der Abtreibungen sich verdoppelte. Eine belgische Erhebung meldet ebenfalls einen Rückgang, um immerhin ein Drittel. Dabei müsste der Prozentsatz der Kinder mit Trisomie 21 eigentlich steigen, weil in westlichen Ländern Frauen immer später Kinder bekommen: Vor 15 Jahren waren noch etwa zehn Prozent der Mütter über 35 Jahre, heute sind es rund 23 Prozent. Und mit dem Alter der Frauen steigt das Risiko, ein Kind mit Chromosomenstörungen zu bekommen. »Ich war im Osterurlaub, als meine Frauenärztin anrief und sagte, dass bei meiner Clara eine Mosaik-Trisomie 9 festgestellt wurde. Die Diagnose zog mir den Boden unter den Füßen weg, meine Kleine hatte doch gerade erst begonnen, sich mit zögerlichem Klopfen bemerkbar zu machen. Im Ultraschall erhärtete sich der Befund, und der Chefarzt meinte, eine Nabelschnurpunktion sei nun der nächste Schritt. Danach könnte ich zum Eingriff gleich in der Klinik bleiben. Aber nachdem ich lange mit meinem Mann gesprochen hatte, stand für uns beide fest, dass wir keinen Abbruch wollten. Später rief mich noch ein Mitarbeiter der Humangenetik an und versuchte fast verzweifelt, mich zum Abbruch zu überreden, das Kind sei schließlich schwerstbehindert. Meine Clara kam zur Welt, mit einem Loch im rechten Vorhof des Herzens, einer Gaumenspalte und einem zu kleinen Brustkorb, sie konnte nicht selbst trinken, und in den ersten Wochen lief sie jeden Tag zweimal blau an, weil sie nicht mehr atmete. Wir alle kämpften verzweifelt, aber nach nur ein paar Wochen schlief Clara in unseren Armen endgültig ein. In dieser kurzen Zeit hat dieses kleine Wesen uns so viel gegeben, dass ich keine Stunde missen möchte. Und schon die Entscheidung, die Schwangerschaft nicht zu beenden, hat mein Leben sehr verändert.« Petra Blankenstein, bei Claras Geburt 42 Jahre
Mehr als 40 Prozent der befragten Schwangeren stimmten in einer Umfrage der Aussage zu, es sei unverantwortlich, auf Pränataldiagnostik zu verzichten und deswegen ein behindertes Kind zur Welt zu bringen. Es existiert also ein gewisser sozialer Druck auf schwangere Frauen, sich eingehend vorgeburtlich untersuchen zu lassen, und auf ein anormales Ergebnis zu reagieren. Zudem vermitteln Ärzte oft das Gefühl, es sei selbstverständlich und zwingend, alle Optionen der Pränataldiagnostik zu nutzen. »Das ist ein Geschäft mit der Angst«, beklagt Annegret Braun, Leiterin der Beratungsstelle für Pränataldiagnostik des Diakonischen Werks Württemberg. Auf der anderen Seite bestehen sehr viele Schwangere von sich aus darauf, Gewissheit über den Gesundheitszustand ihres Kindes zu bekommen. »Die Frauen werden sich die Möglichkeiten der pränatalen Diagnostik nicht mehr aus der Hand nehmen lassen, man kann das Rad nicht zurückdrehen«, sagt Klaus Vetter. Das Ergebnis ist eine »Schwangerschaft auf Probe«, bei der die verunsicherten Mütter ihre Kinder erst wirklich annehmen, wenn diese alle Tests überstanden haben. Heutzutage muss eben niemand mehr ein behindertes Kind zur Welt bringen. Wo früher Lebenswege vorgezeichnet und Schicksale unausweichlich waren, versuchen wir heute, den Zufall aus unserem Leben zu verbannen. Am liebsten würden wir unsere Zukunft nach dem Baukastenprinzip selbst gestalten, Leben custom made, individuell auf unsere Wünsche zugeschnitten. Ein behindertes Kind würde mit einem Schlag all das über den Haufen werfen, alles verändern. Der Fahrplan der Pränataldiagnostik beginnt für Frauen allen Alters gleich: Im Mutterpass stehen drei standardmäßige Ultraschalluntersuchungen, verteilt auf die Dauer der Schwangerschaft. Ab der zehnten Woche sind außerdem verschiedene Methoden der Risikoeinschätzung möglich, bei denen meist eine Messung der Nackenfalte und des Nasenbeins des Embryos mit einer Analyse mütterlichen Blutes kombiniert werden. »Mit diesen Verfahren findet man gut 90 Prozent aller Föten mit den gesuchten Problemen«, sagt Klaus Vetter. Allerdings sind alle Ergebnisse bis hierhin nur erhöhte Wahrscheinlichkeiten. Wenn auch solche, die bei den Frauen Panik und Verunsicherung auslösen können, und das fast immer zu Unrecht. Gewissheit bringt erst die sogenannte invasive Diagnostik: Der Arzt sticht mit einer Hohlnadel durch die Bauchdecke und entnimmt Fruchtwasser, Nabelschnurblut oder Gewebe aus dem Mutterkuchen. Die Zahl solcher Untersuchungen stieg in den letzten 30 Jahren rapide an, von 1796 Untersuchungen im Jahr 1976 auf etwa 130 000 heute, etwa jede siebte Schwangere nutzt sie. Zu invasiver Diagnostik raten Frauenärzte meist Patientinnen, die in der Familie bestimmte Erkrankungen haben, deren Tests erhöhte Wahrscheinlichkeiten ergeben haben, oder die älter sind als 35 Jahre. Dabei ist es keineswegs so, dass Mütter ab Mitte dreißig mit einem behinderten Kind rechnen müssten: Selbst bei einer 40-Jährigen beträgt das Risiko nur ein bis höchstens zwei Prozent. Invasive Verfahren sind nicht ungefährlich: Laut einer britischen Studie kommen auf ein abgetriebenes Kind mit Downsyndrom vier Fehlgeburten, bei denen gesunde Kinder sterben. Wollen wir lieber tote als behinderte Kinder? Tatsächlich ist das eine Erklärung. Ein schwer behindertes Kind kann ein Leben lang eine Belastung sein, so die Logik. Nach einer Fehlgeburt kann man ein neues Kind bekommen. Ein gesundes. Den positiven Befund einer Fruchtwasseruntersuchung überleben die meisten Embryos nur wenige Tage, manchmal findet der Abbruch sogar noch am selben Tag statt. »Ich hätte nie gedacht, dass ich abtreibe. Aber mein Mann und ich hatten schon für unsere zwei gesunden Kinder viel zu wenig Zeit. Und jetzt noch ein Kind mit Downsyndrom? Dafür waren wir nicht die Richtigen. Ich will meinen Beruf nicht aufgeben, mein Mann will seinen Beruf nicht aufgeben. Als mir mitgeteilt wurde, es bestehe der Verdacht auf Trisomie 21, habe ich nächtelang nur geheult und wusste nicht weiter. Es war doch mein Kind, ich hatte doch schon Strampelanzüge im Schrank! Eine Woche nach der Fruchtwasseruntersuchung saßen wir wieder beim Arzt. Das Resultat stand fest und unsere Entscheidung auch. Die Ärzte hatten Verständnis, niemand hat mich gedrängt, das Kind zu bekommen. Die Geburt wurde eingeleitet und ich war wie weggetreten. Ich hatte kaum Schmerzen, aber ich spürte, wie mein Ungeborenes mich verlässt. Das war das Schlimmste, was ich je erlebt habe. Sehen wollte ich das tote Kind nicht. Es hätte zu wehgetan. Ich sprach mit fast keinem Menschen darüber, ich schämte mich zu sehr. Den meisten habe ich erzählt, ich hätte einen Abgang gehabt.« Rita Henweg*, damals 33 Jahre
Die bloße Behinderung des Embryos reicht für eine Abtreibung nach der zwölften Schwangerschaftswoche nicht aus. Damit der Eingriff rechtlich zulässig ist, muss der Arzt eine »medizinische Indikation« stellen und bestätigen, dass die Fortführung der Schwangerschaft für die Mutter unzumutbar sei. Diese Regel war im Paragraf 218 eigentlich für Notfälle vorgesehen, bei Gefahr für das Leben der Mutter. Ein schwerbehinderter, aber lebensfähiger Embryo darf mit einer »medizinischen Indikation« ohne weitere Beratung, noch am Tag der Diagnosestellung und bis unmittelbar vor seiner Geburt getötet werden. Juristisch gesehen trennen eine Spätabtreibung, den Fetozid, und einen Mord an einem Kind also nur wenige Minuten. »Das ist für uns Ärzte schwer erträglich, hier wird eindeutig eine Grenze überschritten, die eine Kurskorrektur erforderlich macht«, sagt der Heidelberger Humangenetiker Claus Bartram. Die Bundesärztekammer setzt sich dafür ein, dass die Lebensfähigkeit eine wichtigere Rolle bei Spätabtreibungen spielen soll, und fordert eine Bedenkfrist von drei Tagen zwischen Diagnose und Abbruch. Mit Einsetzen der Geburt dagegen muss der Arzt alles in seiner Macht Stehende unternehmen, um das Leben des Kindes zu retten. Um diesen Konflikt zu umgehen, werden Embryos bei einem Schwangerschaftsabbruch meist auch dann mit einer Kaliumspritze getötet, wenn sie höchstwahrscheinlich die Geburt nicht überstehen würden. Denn sollte das behinderte Kind überleben oder der Arzt im Ultraschall eine schwere Behinderung übersehen, ist er schadenersatzpflichtig. Der Schaden ist in diesem Fall das lebende, behinderte Kind, im amerikanischen Gerichtsterminus zynisch wrongful birth, unerwünschte Geburt, genannt. »Wir erleben in der Beratung leider oft, dass Schwangere in den Sog der Pränataldiagnostik geraten, eine Untersuchung folgt automatisch der nächsten und am Ende bleibt als Möglichkeit nur der Abbruch stehen«, sagt Annegret Braun. »Die Beratung sollte an oberster Stelle stehen, und zwar schon vor der Labordiagnostik«, sagt Claus Bartram, »wir vermitteln in der Pränataldiagnostik ein Hintergrundwissen um die Gesundheit des Kindes. Deswegen muss jede Frau zuerst gefragt werden, was sie wirklich wissen will.« »Drei Tage saß ich mit dickem Bauch auf dem Bett und wartete, während das Kind, um das ich Todesangst hatte, in mir herumturnte. Beim Feinultraschall hatte sich gezeigt, dass mein Sohn erweiterte Hirnventrikel hatte. Eine Untersuchung von Gewebeproben aus meinem Mutterkuchen sollte mir sagen, woran wir waren. Ich surfte durch das Internet auf der Suche nach einer Erklärung für erweiterte Hirnventrikel, und mein Herz raste vor Angst, als ich von all den genetischen Veränderungen und den oft fatalen Folgen las. Dann, nach drei Tagen, rief der Chefarzt an. Trisomie 9, sagte er, und dass eine Psychologin und eine Humangenetikerin bereit seien, mich sofort zu sehen. Die Humangenetikerin versuchte mich zu beruhigen und meinte, dass mein Kind vielleicht ja bald sterbe. Dann müsste ich mir nicht mehr den Kopf über eine Abtreibung zerbrechen. Ich war wahnsinnig vor Angst. Die Humangenetikerin vermittelte den Kontakt zu der Mutter einer 14-jährigen Tochter mit Trisomie 9, und ich fand Selbsthilfegruppen im Internet. Langsam wich die Panik, und je mehr ich aus dem Alltag mit diesen oft fröhlichen und lieben Kindern erfuhr, desto ruhiger wurde ich. Elias kam pünktlich und auf natürlichem Weg. Er ist ein besonderes Kind, auch wenn er vielleicht langsamer ist als andere. Natürlich werde ich nie die Angst verlieren, er könnte einfach so sterben. Aber Elias ist so ein süßes Kerlchen und ich schleppe ihn wie jede andere Babymutter überall mit hin, stolz auf meinen Bub, der bald seinen ersten Geburtstag hat.« Annette Großkirch*, bei der Geburt 40 Jahre Einige Studien deuten darauf hin, dass die Abbruchraten stark davon abhängig sind, wie umfassend die Eltern über die jeweilige Krankheit informiert werden. In Amerika machte man die Erfahrung, dass die Abtreibungsrate nach der Diagnose »Downsyndrom« von 90 auf 60 Prozent fiel, wenn zusätzlich zu einem Humangenetiker auch eine Behindertenkrankenschwester mit den Eltern sprach und über den Alltag mit solchen Kindern aufklärte. Eine deutsche Untersuchung zeigt, dass die Rate der Abbrüche beim Klinefelter-Syndrom, einer Störung der Geschlechtschromosomen, die vor allem mit Unfruchtbarkeit verbunden ist, je nach Beratung sogar zwischen null und siebzig Prozent schwanken kann.
Das Erstaunliche ist: Einerseits ist es gesellschaftlich anerkannt, behindertes Leben vorgeburtlich aufzustöbern und zu vernichten, andererseits war die Akzeptanz für lebende behinderte Menschen nie so groß wie heute. Neunzig Prozent der Befragten sprachen sich in einer Umfrage jeweils dafür aus, Kinder mit Downsyndrom zu fördern und nicht einfach in Heime wegzusperren. Gleichzeitig finden 75 Prozent der Deutschen nichts dabei, ein schwerbehindertes Kind nach der Geburt »sterben zu lassen«. Würden wir es noch verstehen, wenn ein einjähriges Kind eingeschläfert wird, weil es nach einem Sturz einen irreparablen Hirnschaden davonträgt? Wird irgendwann auch die Wirtschaftlichkeit von lebenden Behinderten diskutiert werden, wie es schon heute bei kranken Embryos geschieht? Die amerikanische Fachzeitschrift The Lancet schreibt, dass es sich aus ökonomischer Sicht rechnen würde, allen Frauen kostenlose Fruchtwasseruntersuchungen anzubieten: Damit könnte man die Kosten für die Betreuung vieler chromosomal geschädigter Kinder einsparen. »Wir haben durch die Pränataldiagnostik eugenisches Denken aus Versehen in unsere Gesellschaft gelassen«, klagt die Humangenetikerin Sabine Stengel-Rutkowski. Und noch sind die Möglichkeiten zur Selektion längst nicht ausgereizt. Gerade tobt in der Wissenschaft und Medizin ein Streit, ob auch in Deutschland die sogenannte Präimplantationsdiagnostik zugelassen werden soll. Damit könnten bei einer künstlichen Befruchtung die ersten embryonalen Zellen noch in der Petrischale auf Gendefekte oder Chromosomenstörungen untersucht werden. Gesunde Embryos wandern in die Gebärmutter, kranke in den Müll: Zeugung auf Probe. »Das ist im Prinzip nichts anderes als Pränataldiagnostik, nur zu einem früheren Zeitpunkt. Wenn man das eine erlaubt, kann man das andere eigentlich nicht verbieten«, meint Klaus Vetter. Frank Ulrich Montgomery dagegen, Bundesvorsitzender des Marburger Bundes, spricht von einem ethischen Dammbruch, sollte das Embryonenschutzgesetz gelockert werden. Die nächste, noch viel weitergehende Methode wird bald diskutiert werden: Theoretisch ist es nämlich schon möglich, nahezu alle Erbgut-Informationen eines Menschen auf einen Chip zu packen. Damit kann ohne großen Aufwand das genetische Material eines Embryos abgeglichen werden, auf Veränderungen aller Art. »Das ist eine ganz andere Dimension«, sagt Vetter. Der Unterschied: Während man bei der Pränataldiagnostik und der Präimplantationsdiagnostik nur findet, wonach man sucht, könnte man bei der Chipdiagnostik den Embryo mal eben auf die 30 oder 40 schwersten Krankheiten überprüfen. »Vielleicht müssen wir uns einfach entscheiden, ob wir eine offene Gesellschaft sein wollen. Wenn ja, müssen wir den Bürgern vertrauen und dürfen ihnen in solchen Fragen nicht aus Prinzip hineinreden«, sagt Klaus Vetter. In Frankreich gibt es Diskussionen, ob eine fehlende Hand schon für eine Abtreibung reicht oder ob der ganze Arm fehlen muss; bei einer Umfrage an der Universität Münster gab über die Hälfte der befragten Schwangeren an, schon die Veranlagung zur Fettleibigkeit sei Grund genug abzutreiben. »Als der Arzt etwas von einer Kaliumchloridspritze sagte, war ich völlig durcheinander. Gerade erst hatte er mir erklärt, dass mein Kind fast kein Großhirn habe, einen Wasserkopf entwickle und nicht lebensfähig sei. Dass es das Beste sei, so bald als möglich abzubrechen – immerhin sei ich ja schon im sechsten Monat. Dann sagte er das mit der Spritze, zur Sicherheit sei das, es lähme die Herzmuskeln des Kindes. ›Wieso totspritzen?‹, fragte ich, ›ich dachte, mein Kind kann nicht überleben?‹ – ›Na ja, vielleicht ein paar Minuten, das wollen wir ihm doch ersparen‹, sagte der Arzt. Plötzlich war ich ganz klar im Kopf. ›Keine Spritze‹, sagte ich‚ ›ob mein Kind leben will, entscheidet es selbst.‹ Dann lag Rina da vor mir, 1700 Gramm Mensch, die nicht aufhören wollten zu leben. ›Was willst du denn hier, du hast doch keine Chance‹, dachte ich. Ein anderer Arzt riet mir, sie nicht richtig zuzudecken. Sie sei sehr kälteempfindlich und würde deshalb schnell erfrieren. Und das sei ja wohl das Beste für alle Beteiligten. Die ersten Wochen vergingen. Eine Ärztin fragte mich, ob ich dieses Leben im Ernst für lebenswert hielte. Irgendwann ignorierten Rina und ich alle Prognosen und dummen Sprüche und kämpften einfach weiter. Rina wollte nicht sterben. Es ging ihr sogar immer besser. Im Dezember wird Rina drei. Wir sind eine richtige kleine Familie, vielleicht eine komische, aber ein glückliche Familie.« Alexandra Mayer*, bei Rinas Geburt 22 Jahre