»Das ist ja mein Thema: nicht durchzuhalten«

Das Leben und die Rollen des Schauspielers Uwe Bohm sind manchmal kaum auseinanderzuhalten. Jetzt spielt er in »Tschick« einen prügelnden Vater. Zum Kinostart: ein Gespräch über die Wahrheit und den Schmerz.

Als 14-Jähriger spielte Uwe Bohm im Film »Nordsee ist Mordsee« von Hark Bohm die Rolle eines Arbeiterjungen, dessen Vater säuft und prügelt. Der Junge, Uwe, halblange dunkelblonde Haare, türmt mit Dschingis, einem Mongolen, im selbst gebauten Boot. In diesen Tagen kommt »Tschick« ins Kino, die Verfilmung des Romans von Wolfgang Herrndorf. Ein Junge, Maik, halblange dunkelblonde Haare, dessen Vater nicht säuft, aber prügelt, trifft auf Tschick, der wie ein Mongole aussieht, und die beiden hauen ab, in diesem Fall in einem geklauten Lada. Und Uwe Bohm taucht auch wieder auf – er spielt den Vater des Jungen.

SZ-Magazin: Herr Bohm, der Theaterregisseur Peter Zadek, mit dem Sie viel gearbeitet haben, hat mal zu Ihnen gesagt: »Du bist kein Schauspieler, das ist das Tolle.« Hört man so was gern?
Uwe Bohm: Ist lange her. Angela Winkler und ich waren für ihn die Dilettanten. Er mochte das. Er konnte sehen, wenn jemand was mitbrachte, auch ohne Ausbildung. Wir haben keinen Gérard Depardieu oder Richard Burton in Deutschland, Typen, die von unten kommen. Oder vielleicht haben wir solche Leute, aber sie werden hier nicht wahrgenommen.

Für Ihre Rolle im Film Yasemin bekamen Sie 1988 einen Preis als Nachwuchsdarsteller. War das nicht Anerkennung genug?
Ich fand den Film völlig blöd. Diese Rolle! Aber Fatih Akin sagt, dass Yasemin ihn dazu bewegt hat, selbst Filme zu machen. Herrlich, dass man sich dann später so begegnet, oder?

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Fatih Akin hat jetzt Tschick gedreht. Sie spielen den Vater, der sich nicht für seinen Sohn interessiert. Eine Parallele zu Nordsee ist Mordsee, dem Film von Hark Bohm, mit dem Sie 1976 bekannt wurden.
Auf die Parallelen wurde Wolfgang Herrndorf schon aufmerksam gemacht, das schreibt er in seinem Buch Arbeit und Struktur. Darum hat er sich den Film angeguckt, und er ging ihm am Arsch vorbei. Fand ich gut, endlich mal einer. Die Bilder mochte er. Tschick hat nichts mit Nordsee zu tun – und doch so viel.

Nordsee ist Mordsee und Tschick berühren die Menschen sehr. Warum?
Weil die zwei Jungs was machen, was sich die anderen nicht trauen. Die laufen ja nicht nur weg, sondern widersetzen sich ihren Eltern. Sie sagen, ich hau ab, weil ihr mir auf den Keks geht. Und ich hau richtig ab, nicht nur so ein bisschen. Die wollen ja eigentlich auch eine Familie, wie jedes Kind. Aber sie haben keine. Oder keine, die funktioniert. Du wünschst dir, dass es entspannt ist zu Hause, dass die Eltern sich nicht mehr prügeln, sondern sich verstehen.

Sind Sie mal abgehauen?
Ich bin aus dem Heim abgehauen. Eine Nacht in irgendeinem Treppenhaus, wir haben uns den Arsch abgefroren, und dann sind wir zurück ins Heim, weil es uns so beschissen ging. Die anderen Heimkinder bekamen Fahrradverbot, weil wir mit Fahrrädern getürmt waren, die haben uns die Hölle heiß gemacht. Danach wollte ich nie wieder abhauen.

Warum waren Sie im Heim?
Meine Eltern hatten das Sorgerecht für mich verloren. Ich bin 1962 in Hamburg-Wilhelmsburg geboren. Kurz nach meiner Geburt kam die große Flut, und unser Häuschen war weg. Wir zogen nach Hamburg-Horn in eine Arbeitersiedlung. Wir waren das Proletariat. Mein Vater war Hafenarbeiter und hatte, wie sich später herausstellte, für die DDR spioniert. Er fing an zu saufen, muss ziemliche Verfolgungsängste gehabt haben. Er hat sich gestellt, musste wegen Landesverrats ins Gefängnis, saß zwar nur ein Jahr, verlor aber seinen Job. Ich kam ins Heim, weil das Jugendamt beschloss, dass mein Zuhause nicht mehr funktionierte. Und ich verhaltensauffällig war.

Wo war Ihre Mutter da?
Sie hatte schon einen anderen Mann. Sie war eigentlich froh, dass ich keine Belastung mehr für sie war. Dieser Bruch im Leben, wenn eine Mutter ihr Kind weggibt, das ist was, was du nie mehr hinkriegst.

Haben Sie den Kontakt zu ihr verloren?
Sie ist ein paar Jahre später gestorben. An Leberzirrhose. Hieß es. Sie war oft in der Kneipe gewesen. Wenn sie weg war, haben mein Bruder und ich immer Fernsehen geguckt, obwohl es verboten war. King Kong und die weiße Frau und so.

Und wie haben Sie Hark Bohm kennengelernt?
Hark hatte im Heim für den Film Ich kann auch ne Arche bauen Kinder gecastet. Ich bekam die Rolle. Dann wollte er mit mir auch Nordsee ist Mordsee drehen. Für mich wars toll, ich wurde abgeholt, kriegte Klamotten, eine Gage.

Wie kam es im Heim an, dass Sie in Filmen mitspielten?
Als Nordsee Premiere hatte, im Esplanade-Kino in Hamburg, haben wir das ganze Heim eingeladen. Das war gut für mich, weil man mir jetzt glaubte und mich ernst nahm. Es hatte ja so einiges nicht geklappt in meinem Leben, die Schule zum Beispiel. Da bin ich irgendwann einfach nicht mehr hingegangen. Weiß nicht mehr richtig, warum, ging so unter in dem Chaos. Udo Lindenberg hatte die Musik zu Nordsee gemacht, die kannten und sangen damals alle. Wenn mir einer blöd kam, hab ich gesagt, ich kenne Udo. Das hat immer funktioniert.

Wie wurden Sie ein Bohm?
Später, kurz nach Nordsee, als meine Mutter starb, war ich mit ein paar Kids in Blankenese unterwegs, bin in eine Villa rein und hab da was geklaut. Da dachte ich, jetzt wirst du Bandit, das passt auch. Genau zu dem Zeitpunkt fragte Hark mich, ob ich ihr Pflegekind werden wollte. Ich hab die Bohms in München besucht, fand es immer spannend da, im Haus in der Oberjägerstraße in Freimann. Da saßen Leute wie Fassbinder oder Wim Wenders am Küchentisch. Dann wurde ich doch kein Bandit.

War das Haus eine Art Villa Kunterbunt?
Villa stimmt. Aber das Pferd fehlte. Doch, es war schon lustig eingerichtet. Irgendwie künstlerisch. Zwei große Hunde, wir hatten alle eigene Zimmer, verwilderter Garten, ein Walnussbaum. Hark saß immer in seinem Kämmerchen und schrieb und schrieb. Nur Dschingis ging mir damals ziemlich auf den Keks. Wahrscheinlich weil er stärker war.

Dschingis war eines Ihrer Geschwister. Hark und Natalia Bohm haben Sie und weitere fünf Kinder adoptiert. Sie haben dann in München eine Lehre als Maler und Lackierer angefangen. Ihre Idee?
Hark fragte mich, was möchtest du denn werden, da fiel mir Maler und Lackierer ein. Hark hat mich immer irgendwo untergebracht, obwohl ich ja nicht mal den Hauptschulabschluss hatte. Ich kam also zu Herrn Lehmann, meinem Meister, den ich nicht verstehen konnte, so bairisch redete der. Morgens um sieben gings los. Ein Geselle sagte zu mir: »Lehrlinge dürfen keine Akkordarbeit tun, aber der Geselle bestimmt das Tempo.«

Sie haben die Lehre nicht abgeschlossen. Was sagte Hark Bohm dazu?
Die Bohms wollten wieder nach Hamburg ziehen. Ich dachte, wenn es jetzt zurückgeht, würde ich gern bei Herrn Lehmann aufhören und was Künstlerisches machen. Hark war nicht begeistert, er wollte eigentlich immer, dass wir was zu Ende machen, aber er hat mir was anderes gesucht. Eine Lehre als Theatermaler. Auch die fingen um sieben an, genau wie in München. Und man war gar nicht oft am Theater, sondern in den Werkstätten. Aber mein erster Ausbildungstag war irre. Ich sollte an einem Tennisplatz auf der Bühne des Schauspielhauses etwas ausbessern. Der Regisseur saß unten, neben mir auf der Bühne stand ein durchgedrehter Schauspieler, etwas älter, fulminanter Typ. Es stellte sich heraus, dass der Tennisplatz für Spaß beiseite war, Regie Peter Zadek, und der Schauspieler war Ulrich Wildgruber. Ich hatte natürlich keine Ahnung, wer die waren.

Aber Sie wurden Schauspieler bei Zadek. Wie ergab sich das?
Man bekam damals als Mitarbeiter für eine Mark Karten fürs Theater. Da bin ich ein paarmal hingegangen. Christian Redl in der Rolle von Marlon Brando in Endstation Sehnsucht hat mich total umgehauen, da wollte ich ernsthaft Schauspieler werden. Hab die Theatermalerlehre geschmissen und mich in Hannover an einer Schule für Improvisation beworben. Ich dachte natürlich, ich hab doch einen Film gemacht, die nehmen mich sofort. War aber nicht der Fall. Dann habe ich es mit Rockn’ Roll versucht, die Band hieß Enganliegende Schlaffheit. Aber die Jungs haben ihr Geld für Drogen ausgegeben und konnten die Miete für den Übungsraum nicht bezahlen, das war also auch nichts. Dann kam ich am Klecks-Theater in einem Stück von Gert Heidenreich unter. Und hatte irgendwann ein Vorsprechen am Schauspielhaus für Die Möwe, bekam einen Zweijahresvertrag, spielte Pünktchen und Anton, da sah mich Zadek, mein großes Glück.

Sie bekamen die Hauptrolle in Andi, dem Rockmusical, über das der Spiegel schrieb: »ein Theater-Erdbeben.«
Andi habe ich neulich zum ersten Mal gesehen, ich hatte seit Ewigkeiten einen Mitschnitt bei mir liegen. Und ich war begeistert, dachte, das hätte ich gern mal im Theater gesehen. Damals war mir gar nicht bewusst, was Peter Zadek da machte. Das war so durchdacht, er wehrte sich ganz nebenbei gegen Cats und Hamburg als Musical-Stadt. Allein zu organisieren, dass die Einstürzenden Neubauten bei jeder Vorstellung da waren …

Andi ist ein Barmbeker Prolljunge, ihn braucht oder liebt keiner. Die Themen in vielen Ihrer Rollen sind nah an Ihrer Biografie dran. Haben Sie sich nie benutzt gefühlt?
Nein, es war doch toll für mich. Ich hatte eine neue Familie. Im Grunde hatte ich drei Väter. Meinen eigenen Vater, Hark Bohm und Peter Zadek. Das, was Zadek da machte, war stark. Er konfrontierte die Bourgeoisie mit dem Proletariat. Und ich bekam die andere Seite der Stadt zu sehen. Ich hatte plötzlich Zugang zu ganz anderen Kreisen als früher. Von Wilhelmsburg nach Hamburg-Othmarschen.

Wie haben Sie sich in den anderen Kreisen gefühlt?
Ich habe nette Frauen kennengelernt. Aber ich hatte immer Ehrfurcht vor Typen wie Zadek, Peymann, Fatih Akin. Typen, die wirklich was können. Die was hervorbringen. Zadek hat mal zu mir gesagt, Uwe, komm bloß nicht auf die Idee, Regie zu machen, bleib du bei deinen Leisten. Auf der Bühne habe ich mich irgendwann wohlgefühlt. Wenn du zigmal Peer Gynt spielst, dann ist es irgendwann okay.

Peer Gynt war Ihr letztes Stück mit Zadek, 2004, das macht fast zwanzig Jahre mit ihm. Haben Sie sich je eine Rolle gewünscht?
Als Zadek mir die Hauptrolle für Andi anbot, habe ich gesagt, Herr Zadek, das ehrt mich sehr, aber ich würde wahnsinnig gern den Hamlet spielen. Er sagte, das bist du nicht, du bist zu jung, du bist kein Intellektueller. Ich habe nie wieder gefragt. Jahre später stand ich neben Gert Voss auf der Bühne des Burgtheaters in Wien. Zadek hatte gerade Streit mit Voss, warum, weiß ich nicht. Weil er Voss provozieren wollte, fragte er mich, sag mal, Uwe, welche Rolle würdest du dir wünschen?

Da fiel Ihnen der Hamlet wieder ein.
Nein. Angela Winkler hatte den Hamlet schon gespielt, das war vorbei. Mir fiel Peer Gynt ein. Der war mir sehr nahe. Den wollte ich gern auseinandernehmen.

Was haben Sie von Zadek vor allem gelernt?
Es immer anders zu machen, als man denkt. Einen anderen Weg zu finden als den, der auf der Hand liegt. Nun gibt es Zadek nicht mehr. Ich hab keinen Regisseur mehr an meiner Seite. Meine Vorbilder gibt es auch nicht mehr. Als ich sie kennenlernte, waren die in einem Alter, in dem ich heute bin. Gert Voss. Ignaz Kirchner. Hermann Lause. Hermann Lause sprach über Jamben und sechsfüßige Verse. Ich hab nichts davon verstanden. Ich hatte ja keine Ahnung, hab das alles nie gelernt.

Bedauern Sie, dass Sie keinen Schulabschluss haben?
Wenn man nicht mal einen Hauptschulabschluss hat, ist es nicht toll. Man fühlt sich, als sei man nichts wert. Hark meinte nach Peer Gynt, wenn man den auf der Bühne dargestellt hat, braucht man keinen Schulabschluss mehr. Aber wenn man mit Regisseuren und Autoren spricht und keine Ahnung von Satzbau und Grammatik hat, ist das nicht ideal. Die großen Schauspieler hatten das alle drauf, Versformen, alles. Das würde ich schon noch gern lernen. Hark wollte mir immer was beibringen, und ich hab mich dagegen gewehrt. Inzwischen würde ich es gern können. Mein jüngster Sohn kommt jetzt in die zweite Klasse. Ich bin sozusagen mit ihm in die erste Klasse gegangen.

Sie haben fünf Kinder von vier Frauen, die in Wien, Hamburg und Berlin leben. Haben Sie mit Ihren anderen Kindern die Schule nicht erlebt?
So lange war ich nicht dabei, immer nur bis kurz vor der Einschulung. Das ist ja mein Thema, dieses Abbrechen. Nicht durchzuhalten.

Suchen Sie manchmal nach einer Erklärung für vier Frauen und fünf Kinder?
Immer. Ich glaube, dass ich ständig nach Auswegen und Ausreden gesucht habe. Ich konnte nicht geradestehen, wusste nicht, wie das ging. Aber ich wollte auch so sein, wie ich war.

An wen haben Sie eigentlich gedacht, als Sie den Vater in Tschick gespielt haben?
Das war nicht mein Text, sondern der von Herrndorf und Fatih Akin. Und Fatih weiß genau, was er will. Ich finde, er bringt es in Tschick besser auf den Punkt als Nordsee ist Mordsee und Andi damals.

Was bringt er besser auf den Punkt?
Das Reale. Der Vater in Nordsee war schon gut gespielt damals von Marquard Bohm. Aber er hat es nicht getroffen. Burkhard Driest, der sich ja für einen wirklich harten Kerl hielt und an Andi mitgeschrieben hatte, hat es auch nicht getroffen. Wer es für mich am besten jemals getroffen hat, ist Luis Buñuel in Die Vergessenen. Da gibt es diese Szene mit dem Jungen und der Mutter, die ihn aufgibt. Das ist es, was ich zu vermitteln versuche. Die Wahrheit. Den Schmerz.

Uwe Bohm hatte schon als Teenager viel hinter sich: Geboren wurde er 1962 als Uwe Enkelmann in Hamburg-Wilhelmsburg, der Vater war Kranführer im Hamburger Hafen, die Mutter Hausfrau. Er wuchs in Hamburg-Horn bei seinen Eltern auf, bis die Familie zerbrach und das Jugendamt ihn im Heim unterbrachte. Dort entdeckte ihn der Autorenfilmer Hark Bohm, machte ihn mit Nordsee ist Mordsee (1976) bekannt und nahm ihn in seine Familie auf. Nach zwei abgebrochenen Lehren landete Uwe Bohm in Peter Zadeks Theatertruppe, spielte zwanzig Jahre unter seiner Regie und zog mit ihm von Hamburg über Wien nach Berlin, wo er seit 1993 lebt. Auch aus dem Fernsehen kennt man ihn, in deutschen Krimis spielt er meistens den Fiesling.


Foto: Claudia Klein