Frauenklos sind jetzt schon, wie die Welt sein sollte.
Meistens merke ich das an Kleinigkeiten, zuletzt an meinem ersten Arbeitstag. Auf der Toilette des SZ-Magazins entdeckte ich eine rosafarbene Schachtel mit Illustrationen von unperfekten Brüsten. Darin Tampons. Eine Kollegin musste sie dort für alle hingestellt haben. Mir kam es vor, als würde die Schachtel sagen: Keine Sorge, hier fehlt es an nichts. Sofort fühlte ich mich weniger neu und mehr zugehörig.
Klo-Momente wie dieser ziehen sich durch mein Leben: In der Grundschule schlossen wir uns zu dritt in eine Kabine und tauschten Geheimnisse. Später hielt ich Speienden die Haare und ließ meine Tränen von fremden Ärmeln abwischen. Anschließend sagten wir Mädchen vor dem Spiegel einen Chor auf: Scheiß auf Männer! Wir! Sind! Unabhängig! Genau, was mein 16-jähriges Ich brauchte. Heute sind es die Tamponschachteln. Gespräche in der Schlange, um die Wartezeit zu überbrücken. Komplimente für Klamotten, Haare, Hintern. Kleinigkeiten. Aber Milliarden von Frauen, die durchschnittlich siebenmal am Tag pinkeln müssen, erleben ähnliche Momente – das macht sie groß. Dahinter steckt auch ein Verhaltenskodex:
Wenn du eine Dame siehst, deren Rock hinten in der Unterhose steckt, musst du ihr das sagen, bevor sie die Toilette verlässt. Auch wenn du sie nicht kennst; auch wenn sie eine Bitch ist.
Wenn dich jemand nach einem Tampon fragt, gib ihn her. Jede Frau war schon mal in dieser Situation, und es ist ätzend.
Warne die anderen Frauen, wenn es kein Klopapier gibt.
Wenn eine Frau weint, dann sorge verdammt noch mal dafür, dass sie okay ist.
So steht es in einem Forum des sozialen Netzwerks Reddit. Irgendwelche Frauen – in dieser Angelegenheit die glaubwürdigste Quelle – diskutieren dort die Frage: »Frauen von Reddit, was sind die unausgesprochenen Regeln der Damentoilette?« Als Antwort kommen ihnen keine Vorbote und Beschwerden in den Sinn, kein Man soll nicht, kein Man darf nicht, kein Mich nervt so, dass. Die Nutzerinnen schreiben vom Helfen und Achtgeben, letztlich geht es immer um das, woran Amanda_R_102 appelliert: »Seid nett zueinander.« Und genau deshalb ist die Damentoilette ein wunderbarer Ort: Frauen sind hier so nett zu Frauen wie nirgendwo sonst.
Eine Frau, die sich vergleicht, kann anderen die tollen Haare, Hintern und Jobs nur schwer gönnen. Beim Pinkeln allerdings sind alle gleich.
Wieso sind Frauen auf dem Klo solidarisch? Um das zu beantworten, muss man sich einer leidigen Wahrheit stellen, die sich schon in der Frage versteckt: Anderswo sind Frauen es nicht, oder zumindest nicht so uneingeschränkt. Klar, wir haben 2019! Es gibt Karriere-Netzwerke nur für Frauen, Empowerment-Hashtags, feministische Bestseller – aber ein paar Posts auf Instagram können jahrzehntelange Sozialisation leider nicht aushebeln. Wenn Frauen in einer Männerwelt aufwachsen, lernen sie unweigerlich, sich selbst aus einer männlichen Perspektive zu sehen, schreibt die Psychologin Sandra Konrad in Das beherrschte Geschlecht – warum sie will, was er will: »Die männliche Geringschätzung der Frau ist Teil des weiblichen Selbst geworden.« Damit beginnt eine unglückliche Verkettung: Je geringer das Selbstwertgefühl, desto wichtiger wird der Vergleich. Und eine Frau, die sich vergleicht, kann anderen die tollen Haare, Hintern und Jobs nur schwer gönnen. Beim Pinkeln allerdings sind alle gleich.
Nun aber ein kurzer Männer-Abgleich: Es gibt eine interessante Studie, die 2012 im British Journal of Criminology erschien. Forscher haben Menschen in London und Bristol auf der Toilette beobachtet und Interviews geführt. Die Frauen redeten in der Kloschlange mit Fremden, passten füreinander vor unschließbaren Türen auf, teilten sich Schminke. Wenn sie im Gespräch mit den Forschern etwas beklagten, dann mangelnde Hygiene. Männer beschwerten sich dagegen am häufigsten über andere Männer. Sie beschrieben die Klos als »Albtraumorte«, weil sie sich beim Pinkeln so beobachtet fühlen.
Am liebsten urinieren Männer allein. Das hat schon eine Studie von 1976 ergeben, die genauso lustig wie ethisch fragwürdig ist. Die Methode: Ein Forscher versteckte sich in einer Toilettenkabine und beobachtete Männer am Urinal durch ein Fernrohr. Das Ergebnis: Je näher sich andere Männer neben sie stellten, desto länger brauchten sie und desto kürzer pinkelten sie. Wie es gelaufen wäre, wenn sie vom Fernrohr gewusst hätten, kann man sich nur ausmalen. Jedenfalls werden Frauen, was die Toilettenarchitektur angeht, endlich einmal strukturell bevorzugt: Das Urinal ist ein Präsentierteller, die abschließbaren Kabinen dagegen bieten gerade so viel Privatsphäre, dass man sich sicher fühlt, und gerade so viel Offenheit, dass man Klopapier und Tampons unter einer Trennwand durchgeben kann. Das schafft Raum für Nähe.
Natürlich steckt noch mehr hinter dem Phänomen, dass Frauen sich auf öffentlichen Toiletten wohlfühlen, und das lässt sich an der zurzeit berühmtesten Dystopie erklären: Margaret Atwoods The Handmaid’s Tale. Im Roman und in der gleichnamigen Serie werden Frauen zu Gebärmaschinen degradiert. Sogar aufrichtige menschliche Beziehungen werden ihnen verwehrt. Nur durch ein kleines Loch zwischen zwei Klokabinen können sie offen sprechen oder wenigstens flüstern. Sie tauschen verbotene Gedanken, Lästereien, kleine Widerstände gegen das System. Die Rolle der Toilette: Unterschlupf bieten vor einem diskriminierenden System. In der Wirklichkeit verhält es sich durchaus ähnlich. Auch wenn wir jede Meinung offen äußern können und auch sonst frei sind, ist die Damentoilette ein safe place. Frauen werden, anders als urinierende Männer, von etwas befreit.
Auf der Straße, in der Bar, im Supermarkt, am Arbeitsplatz oder wo auch immer der weibliche Körper herumläuft, wird er genauestens beobachtet. Mystifiziert, sexualisiert, kritisiert. Auf der Toilette fällt der männliche Blick auf Brüste, Hintern, Beine weg. Eine Frau muss hier keinen fremden Ansprüchen genügen, sie kann von keinem Mann für geil gehalten werden – und auch nicht für weniger geil als andere Frauen. Das Klo ist, wie Bertolt Brecht es in Baal formuliert: »Ein Ort der Demut, dort erkennst du scharf: Daß du ein Mensch nur bist, der nichts behalten darf.« Der Körper muss, endlich einmal, einfach nur funktionieren. Für eine Frau ist das sehr entlastend.
Zu der Sache mit dem Funktionieren gehört auch das Menstruieren: immer ein Riesenkrampf. Auf dem Gymnasium wurde eine Freundin von mir zum Direktor zitiert. Der ältere Herr fragte die Freundin, ob sie mit Drogen deale. In der Tat hatte sie verdruckst etwas an eine Klassenkameradin weitergegeben – aber nicht etwa Gras, Koks oder Ecstasy, sondern einen Tampon. Vielleicht hat die geschlossene Hand meiner Freundin diesen Irrtum hervorgerufen, vielleicht ein verschworener Blick. Hygieneartikel sind anscheinend so peinlich, dass man sie weiterreichen muss wie etwas Illegales. Das zeigt wieder einmal, was Simone de Beauvoir schon vor siebzig Jahren beschrieb: Frauen sind eine Abkehr von der Norm. Noch heute müssen sie Aufklärungsarbeit leisten, indem sie T-Shirts tragen mit Aufdrucken wie period. oder Anything you can do, I can do bleeding. Aber auf der Toilette ist die Frau nicht mehr das andere Geschlecht, sie ist das einzige. Sie könnte nirgends normaler sein.
Gegen all das kann man einwenden, es bringe nichts, wenn Frauen sich zurückziehen. Damit Macht gerecht verteilt wird, müssen sie mehr fordern. Lohngleichheit, faire Renten, Respekt für ihre Periode. Das stimmt natürlich. Aber es tut einer Frau auch mal gut, sich kurz nicht behaupten zu müssen. Nach einem letzten prüfenden Spiegelblick sind wir dann erst recht bereit, die Schultern zu straffen und Dinge zu beanspruchen. Damit die Welt in ein paar Jahren endlich wird, wie die Frauentoilette schon ist.