Natürlich wachsen Kinder in Deutschland, wie in vielen anderen Ländern auch, zunächst mit einer romantischen Vorstellung vom Heiraten auf. Aus Liebe will man dem anderen schwören, für immer bei ihm zu bleiben. Doch irgendwann im Erwachsenenalter bekommt man mit, dass man als Paar vom Staat mit Geld beschenkt wird, wenn man die wilde Ehe verlässt und im Standesamt ein Formular unterzeichnet. Liebe geschmückt mit Geld. Nur stimmt das nicht einmal in allen Fällen: Wenn beide in etwa gleich viel Geld verdienen, verringert sich ihre Steuerlast über das Ehegattensplitting nicht. Das Ehegattensplitting wurde gemacht für gut verdienende Frauen, deren Ehepartner auf ein eigenes Einkommen verzichten, um sich in der Zeit um Haus und Kinder zu kümmern. Oder war es anders herum?
Und so sitzen irgendwo in Deutschland zwei Menschen miteinander am Küchentisch und rechnen aus, ob sich die Ehe finanziell für sie lohnen würde und welche Punkte der Ehevertrag umfassen sollte. Allein dafür sollten alle, die an die Liebe glauben, die Ehe abschaffen wollen.
Zu denken, dass die Ehe die intimste, stabilste Beziehungsform von allen ist, liegt nahe – das erzählen Märchenbücher und romantische Komödien im Fernsehen, und wir erleben in unserer Kindheit eher eine enge Verbindung der Eltern, als Einblicke in die Freundschaften unserer Mutter zu haben oder zuzuhören, wenn der Vater mit seinem Bruder telefoniert. Die Wahrheit ist doch: Die Liebe zu einer anderen Person muss sich durch eine Ehe in keiner Weise verändern. Beziehungsdynamiken können sich in einer Partnerschaft ohne Trauschein exakt so entwickeln wie in einer mit. Dass Ehen eine andere partnerschaftliche Qualität hätten als andere Beziehungsformen, ist nichts mehr als Mythos und Wunschbild, auf dem sich die Privilegierung der staatlichen Ehe gründet. Mit der Überhöhung der Ehe urteilt der Gesetzgeber moralisch über Menschen, über deren Liebe er nichts wissen kann. Dieses moralische Urteil wirkte in Westdeutschland lange mit erheblichen rechtlichen und sozialen Folgen vor allem auf Kinder und ihre Mütter, an deren Eignung als Elternteil gezweifelt wurde, weil sie nicht verheiratet waren. Heute würde man dafür den Begriff „Shaming“ verwenden. Bis in die Achtzigerjahre hinein brachten manche unverheiratete Frauen ihre Kinder heimlich zur Welt, einige gaben die Babys zur Adoption frei. Nicht immer freiwillig. Ich wurde in den Achtzigern in eine Ehe hineingeboren: Glück statt Scham. Aber zu wissen, dass es zu dieser Zeit in Westdeutschland nicht egal war, in welche Familienkonstellation ein Kind hineingeboren wurde, hilft mir zu verstehen, warum meine Mutter zunächst nicht überschwänglich reagierte, als sie von mir erfuhr, dass sie zum ersten Mal Oma werden würde: Ich war nicht verheiratet.
»Whom to marry, and when will it happen – these two questions define every woman’s existence, regardless of where she was raised (…) These dual contingencies govern her until they’re answered, even if the answers are nobody and never«, schreibt die US-Autorin Kate Bolick in ihrem Buch »Spinster – Making a life of one’s own«. Also: Wen und wann man heiratet, bestimmt die Existenz jeder Frau, selbst dann, wenn sie gar nicht heiratet. Das wirkt immer noch.
Die »Ehe für alle« gilt aus queer-feministischer Perspektive als umstrittene Errungenschaft, denn sie suggeriert Gerechtigkeit für alle, obwohl sie eben nur Gleichberechtigung für einige Menschen bedeutet.
In der DDR hingegen wurde schon 1950 ein Gesetz erlassen, in dem es hieß: »Die nicht eheliche Geburt ist kein Makel. Der Mutter eines nicht ehelichen Kindes stehen die vollen elterlichen Rechte zu.« Der Staat hat tatsächlich die Möglichkeit, ein Familienmodell zu shamen oder nicht. Mit der »Ehe für alle« wurde nur vermeintlich ein Shaming beendet.
Hat die »Ehe für alle« etwas bewirkt? Rüttelt sie am bisherigen Verständnis der Ehe? Dass Lesben und Schwule die Öffnung der Ehe auch für gleichgeschlechtliche Paare forderten und dieses Ziel 2017 in Deutschland endlich erreichten, war zum einen eine Frage der Anerkennung der Gleichwertigkeit ihrer Liebe, zum anderen eine Frage des Zugangs zu den gleichen rechtlichen Regelungen, die schon verheirateten heterosexuellen Paare das Leben leichter machten als Paaren ohne Trauschein. Genau aus diesem Grund aber gilt die »Ehe für alle« aus queer-feministischer Perspektive als umstrittene Errungenschaft, denn sie suggeriert Gerechtigkeit für alle, obwohl sie eben nur Gleichberechtigung für einige Menschen bedeutet. Denn die »Ehe für alle« ermöglicht Gleichstellung für bestimmte schwule und lesbische Menschen, aber noch nicht »rechtliche Anerkennungsmöglichkeiten zu finden, die die Wahlfreiheit aller in Bezug auf Lebens- und Familienformen erhöhen«, wie die Genderwissenschaftlerin Sushila Mesquita in ihrem Buch »Ban Marriage!« schreibt. Von daher hat die Gleichstellung homosexueller Paare in der Ehe, die zweifelsohne als emanzipatorischer Erfolg gewertet werden kann, es gleichzeitig schwieriger für die rechtlichen Möglichkeiten anderer Lebensmodelle gemacht. Sie hat die Wahrnehmung der Ehe als ein erstrebenswertes Ziel, das für glückliche, gefestigte Beziehung steht, gestärkt. Dass Konservative im öffentlichen Diskurs die Ehe für alle mehrheitlich abgelehnt haben und sie als Angriff auf die heterosexuelle Ehe bezeichneten, wirkt damit paradox – denn indem die Ehe nun theoretisch für mehr Menschen zugänglich ist und Privilegien schafft, werden weniger Menschen sie insgesamt in Frage stellen wollen.
Als lesbische und schwule Paare noch nicht heiraten konnten, hörte man von heterosexuellen Paaren ab und an: »Wir heiraten erst, wenn die Ehe für alle kommt.« Diese Haltung ist nur vermeintlich progressiv – denn sie ist solidarisch mit denjenigen, die ein Lebensmodell eingehen möchten, das dem eigenen ähnlich ist. Beklagen sich unverheiratete heterosexuelle Paare über diskriminierende Regelungen, hören sie von verheirateten Freund*innen eher: »Ihr könnt ja auch heiraten, wenn euch das stört.« Für Alleinerziehende, Regenbogen-, Patchworkfamilien oder zwei Schwestern, die zusammen wohnen, zusammen erziehen, zusammen wirtschaften, ist dieser Ratschlag jedoch rein gar nicht hilfreich.
Und auch für Paare, die theoretisch heiraten könnten, kann er verletzend sein. Denn was anderes besagt die Voraussetzung, für bestimmte Rechte verheiratet sein zu müssen, als dass mit der Entscheidung für die Ehe bestimmte Charaktereigenschaften einhergehen?
Ganz besonders deutlich wird das am Zugang zu Kinderwunschbehandlungen in Deutschland. Die heterosexuellen Paare, die in meinem Freundeskreis darauf angewiesen waren, haben oft aus dem Grund geheiratet, dass die künstliche Befruchtung damit für sie bezahlbar wurde. Denn nur dann übernehmen Krankenkassen 50 Prozent der Behandlungskosten. Romantik pur: »Ohne Ehe werden wir wohl keine Eltern werden.« Nur wenige entschieden sich dafür, mehrere Tausend Euro für die Behandlung selbst zu bezahlen und sich der Idee zu widersetzen, dass ihr Wunsch nach Familie erst dann finanziell unterstützt wird, wenn sie dem Staat gegenüber erklärten, diese Beziehung solle der Bund fürs Leben sein. Gibt es andere Leistungen der Krankenkasse, die an den Familienstand geknüpft sind? Künstliche Hüften nur für Verheiratete – Alleinstehende tanzen ja eh nicht? Soll das ernsthaft unser Blick auf Familien heute sein: dass verheiratete Heterosexuelle die besseren Eltern sind? Müsste dann nicht das Jugendamt regelmäßig bei unverheirateten Eltern auf der Matte stehen, um ihre Eignung wieder und wieder zu prüfen, oder ihnen den Nachwuchs wegnehmen, wenn sie beim dritten Geburtstag des Kindes immer noch nicht verheiratet sind? Ganz schön viel Arbeit, denn gut die Hälfte der 2018 zur Welt gekommenen Kinder wurden nicht in eine Ehe hineingeboren.
Warum denken wir uns nicht ein neues Bündnis aus, das die Menschen, die füreinander da sein wollen, in den Mittelpunkt stellt?
Fragt man beim Gesundheitsministerium nach, warum Unverheiratete, Regenbogenfamilien, lesbische Paare und Singles bei Kinderwunschbehandlungen nicht unterstützt werden, beinhaltet die Standard-Antwort den Hinweis auf Artikel 6 des Grundgesetzes, »Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung«, mit dem die Diskriminierung gerechtfertigt wird. Macht man sich hier mal kurz ehrlich, müsste es heißen: »Die Hetero-Ehe steht unter einem ganz besonderen Schutze und die Familie dann, wenn ihr ein verheiratetes Hetero-Paar vorsteht.« Dass die Ehe die Königsform der Familie ist und das Grundgesetz die Diskriminierung anderer Familienformen rechtfertigt, kann ich aus Artikel 6 nicht herauslesen, zumal in dieser Auslegung zumindest die verheirateten lesbischen Paare in Deutschland sowohl Zugang als auch finanzielle Unterstützung bei Kinderwunschbehandlungen bekommen müssten. Für den Gesetzgeber sind also längst nicht alle Ehen gleich.
Das Grundgesetz wurde schon vielfach angepasst und ergänzt. Es sollte sich endlich an der Gegenwart orientieren, in der Familien und Lebensgemeinschaften vielfältig sind. Wie das aussehen könnte, zeigte zum Beispiel das Frankfurter Frauenmanifest von 1991 mit folgendem Vorschlag: »Frauen und Männer, die Kinder aufziehen, [Kranke oder alte Menschen versorgen], stehen unter besonderem Schutz des Staates. (…) Andere Lebensgemeinschaften, die auf Dauer angelegt sind, haben Anspruch auf Schutz vor Diskriminierung.«
Die Juristin Jutta Limbach, die von 1994 bis 2002 Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts war, formulierte ebenfalls 1991 Artikel 6 auf diese Weise vorschlagshalber neu: »Familien sind ungeachtet des Familienstands ihrer Mitglieder zu schützen und zu fördern. Alleinerziehende Eltern sind in besonderem Maße staatlich zu unterstützen.«
Warum denken wir uns nicht ein neues Bündnis aus, das die Menschen, die füreinander da sein wollen, in den Mittelpunkt stellt? Das die Verantwortung füreinander betont, aber keine Abhängigkeiten schafft? Erbe, Sorgerecht und Zeugnisverweigerungsrecht lassen sich auch anders regeln.
Meine Vermutung ist, dass das Nachdenken über die Abschaffung der Ehe und auch über den wesentlich kleineren Teil, das Ehegattensplitting, so stark abgewehrt wird, weil es als Angriff auf die Liebe verstanden wird. Dabei ist das Gegenteil der Fall: Die Liebe und die Fürsorge füreinander, die in nichtehelichen Gemeinschaften gelebt werden, könnten sichtbarer gemacht und unterstützt werden, wenn sie genauso wertschätzend behandelt würden wie die Ehe. Es geht um mehr Liebe für alle.