In der Pandemie haben vermutlich nahezu alle Menschen schon einmal das Gefühl gehabt, die Welt hätte sich gegen sie verschworen. Der Kontrollverlust ist da, aber niemand, dem man die Schuld dafür geben kann. Das Virus ist absichtslos. Es hat sich gegen niemanden verschworen, es schwirrt lediglich umher. Aber als Mutter denke ich manchmal, dass die beschlossenen Einschränkungen Eltern mürbe machen sollen, bis sie nicht einmal mehr ihre Wut ins Internet schreiben, sondern sich auf den Küchenboden legen und Löcher in die Decke starren, während die Kinder über sie hinwegkrabbeln und ihnen mit Edding eine Maske ins Gesicht malen. Ich mache das manchmal: Ich lege mich auf den Boden und ergebe mich dem Ohnmachtsgefühl, weil ich dann ein paar Sekunden später über mich lachen kann. Was soll ich hier auf dem Boden? Macht es das besser? Nein, so schlimm ist das alles nicht. Ich breche nicht zusammen. Die Welt geht nicht unter. Aber so ganz stimmt das nicht.
In meinem Umfeld haben sich seit dem Beginn der Pandemie die Nervenzusammenbrüche gehäuft. Die Burn-outs, Panikattacken, Depressionen und die akuten Erschöpfungszustände, weil das Leben sich auf belastende Art verändert hat. Nicht nur bei Eltern. Weil es alles zu viel ist. Und gleichzeitig zu wenig. Zu wenig Schlaf summiert sich zu mehr als Augenringen. Besonders bahnbrechend ist diese Erkenntnis nicht. Aber es sind eben auch die psychischen Gesundheitsfolgen, die langfristig bleiben können und die auch teuer sind. Über sie redet bislang kaum jemand, da die seelische Gesundheit in Deutschland nach wie vor tabuisiert ist. Wer etwas auf sich hält, ist mental unerschütterlich.
Es gibt aber keinen Pokal dafür, alles stoisch zu ertragen. Womit wir ohnehin aufhören könnten in diesem zweiten Jahr der Pandemie, ist, einander zu sagen, man solle sich nicht so anstellen, und stattdessen damit beginnen anzuerkennen, dass es für jede*n auf ganz unterschiedliche Weise schwer sein kann. In den meisten Fällen können wir von außen nicht beurteilen, wie schwierig es ist. Was zieht man daraus, die Nöte der anderen zu relativieren?
Ganz vorn auf meiner Wunschliste steht, dass Menschen, die mit Kindern zusammenleben, nicht mehr gesagt wird, sie hätten sich dieses Leben doch ausgesucht. Denn es stimmt ja nicht. Ich habe mir ausgesucht, Kinder zu haben – aber ich wollte niemals Mutter sein in einer Pandemie. Menschen bekommen keine Kinder, weil sie planen, sich 24 Stunden am Tag ganz allein um den Nachwuchs zu kümmern. Beim ersten Untersuchungsheft, das man zum Säugling dazubekommt, ist weder eine Ausbildung in Kleinkindpädagogik noch ein Lehramtsstudium für Deutsch, Mathematik, Sachkunde und Spanisch dabei. Die Aufgabe von Elternschaft ist auch, für die Kinder und die eigene Familie ein soziales Netz aufzubauen, das sich als Dorf gemeinsam kümmert. Der Aufbau dieser Dörfer ist ohnehin schwierig genug. In der Pandemie sind aber die Straßen zu ihnen gesperrt. Politisch ist zudem beabsichtigt, dass Eltern eben nicht mehrere Jahre lang mit ihrem Kleinkind zuhause bleiben, sondern schnell nach der Geburt ihres Kindes wieder in ihre Berufe zurückkehren. Dafür wurde von Ursula von der Leyen das Elterngeld eingeführt, und es hat erfolgreich bewirkt, dass die so genannten Babypausen kürzer werden. Selbst die Konservativen wollen nicht mehr, dass Mütter lange ihr Engagement für die Wirtschaft unterbrechen.
Wenn ich frei entscheiden könnte, hätte ich mir eine andere Kultur ausgesucht, in der ich meine Kinder bekomme. Nicht eine, in der immer noch vertreten wird, man könne acht Stunden und mehr Erwerbsarbeit so mit Familie kombinieren, dass man das Gefühl hat, diese Dinge wären ausgeglichen. Ich würde mir immer wieder Kinder aussuchen, viele davon, aber nicht diese Kultur mit ihrem Erwerbsarbeitsfetisch und den platten Vorstellungen von Leistung und davon, wer Respekt verdient hat. Wer denkt sich denn so etwas aus? Diese acht Stunden sind der größte Teil des Tages, während dessen man einigermaßen wach und denkfähig ist. Diese Zeit gehört bislang der Wirtschaft, die Zeit der Müdigkeit gehört den Kindern.
Die regelmäßig veröffentlichten Befragungen darüber, wie viele Stunden Menschen wirklich erwerbsarbeiten wollen, sind beeinflusst davon, dass wir ja wissen, dass dieses Leben erst einmal finanziert werden muss, bevor man es leben darf. Angenommen, Sie hätten nie vom Acht-Stunden-Tag und der 40-Stunden-Woche gehört, welchen Alltag würden Sie wollen? Wie viele Eltern würden als ideale Alltagsstruktur angeben, von morgens bis in den frühen Abend in einem Beruf zu arbeiten und drumherum ihre Kinder zu organisieren, wenn es auch anders möglich wäre? Dass die meisten Menschen auf jeden Fall länger schlafen und später duschen würden, hat der Ausschlag des Wasserverbrauchs im ersten Lockdown im Frühjahr 2020 gezeigt.
Insbesondere Eltern denken zu oft: Wenn ich etwas anderes will als das, bin ich raus, dann bin ich schwach, dann hab ich keinen Ehrgeiz. Ich denke eher: Wenn ich etwas anderes will als das, dann will ich leben. Ich habe es ja tatsächlich selbst erst verstanden, nachdem ich ein Kind bekommen hatte: Die Zeit, die neben einem Vollzeitjob übrigbleibt, ist einfach zu wenig, um in meiner Elternrolle glücklich zu sein. Auf der anderen Seite dieser Erkenntnis stand, dass ich eben auch nicht wusste, wie ich meine Ansprüche an meinen Job realisieren sollte, ohne 40 Stunden und mehr zu arbeiten. Es wollte nicht in meinen Kopf, dass ich meine Arbeit lieben kann, ohne sehr viel zu arbeiten. Wenn ich das so aufschreibe, merke ich, wie absurd das ist. Warum sollte ich denn meinen Job nicht lieben können, wenn ich es nur 20 Stunden pro Woche tue? Die Dinge, die ich liebe, tue ich momentan ohnehin eher selten.
Meine Kinder und meinen Partner nur zum Frühstück zu sehen, zum Abendessen und zur Gute-Nacht-Geschichte, das ist nicht das Leben, das ich will. Meine Freund*innen nur alle paar Wochen zu sehen, wenn wir unsere komplizierten Alltage irgendwie zueinander passend ordnen können, meine Eltern und Geschwister nur alle paar Monate, das ist nicht das Leben, das ich will. Das ist Verwahrlosung. Denn Familie und Freund*innenschaft ist nicht, sich vor allem über Fotos in der Whatsapp-Gruppe oder Status-Updates in sozialen Netzwerken gegenseitig darüber zu informieren, was gerade los ist. Dann kann ich auch »Sims« spielen.
Aber es gibt ja einen Ausweg. Wir könnten uns alle dafür einsetzen, dass ein Vollzeitjob weniger Stunden umfasst, sodass neben der Erwerbsarbeit mehr Zeit für andere Dinge bleibt. Die Elternpaare, von denen beide in Teilzeit arbeiten, kommen auch in der Pandemie besser klar. Eine Person kann vormittags arbeiten, die andere nachmittags. Homeschooling, Kochen, Hausarbeit und Kuscheln werden geteilt. Auch Alleinerziehende würde es entlasten, wenn sie ihre Familie mit geringerem Stundenumfang finanziell versorgen könnten. Das Problem ist nur: Das Erwerbsmodell Teilzeit-Teilzeit ist kaum verbreitet. Etwa drei Prozent der Elternpaare organisieren ihre Familie auf diese Weise. Und es wird erst dann eine Chance haben, die Norm zu werden, wenn 20-Stunden-Wochen keine Teilzeit mehr sind, sondern die neue Vollzeit. Sollten wir aber in einigen Jahren noch einmal in eine Pandemie geraten, werden sich Eltern jüngerer Kinder fragen: Warum haben wir das damals nicht verändert?
Für Eltern ist es ein weiterer Job geworden, die ständig wechselnden Regelungen zu verfolgen und sich darauf einzustellen
Die fehlende Vereinbarkeit ist einer der Gründe, warum Familien und Kinder mehr und mehr zu einer kleinen kuriosen Minderheit werden, die politisch vor allem rhetorisch berücksichtigt wird. In Deutschland leben aktuell rund fünf Millionen Paarfamilien und 1,1 Millionen Alleinerziehende mit Kindern im Kita- und Grundschulalter. Der prozentuale Anteil von Familien und Kindern an der Gesamtbevölkerung sinkt seit Jahrzehnten. Zudem sind es nur 3,2 Millionen Paarfamilien, in denen beide Elternteile arbeiten, und eine halbe Million Alleinerziehende, die in ihrer Erwerbsarbeit gerade von den Kita- und Schulschließungen besonders beeinträchtigt werden. Ob das heißt, dass ihre Interessen aufgrund ihrer geringen Zahl deshalb weniger wichtig sind oder gerade deswegen wichtig sein müssten, könnte man diskutieren. Die Stimmen von Eltern sind für Wahlen gegenwärtig jedenfalls wenig relevant. Auch Familien können nur rhetorisch drohen.
In der Pandemie werden Familien wie Blätterteig behandelt: nach allen Seiten hin dünn ausgerollt, wieder zusammengefaltet und flachgeklopft. Aus dem Ofen kommen sie dünn und brüchig hervor. Familien sollen harmonisch zuhause ausharren, aber auf unmögliche Art gleichzeitig getrennt voneinander und miteinander arbeiten, lernen, spielen und nicht vergessen zu essen. Irgendwann räumt irgendwer die Küche auf – nach Mitternacht oder am Sonntag. Anders als bei den ersten großen Corona-Einschränkungen im Frühjahr hat die Bundesfamilienministerin Franziska Giffey bei diesem Lockdown eingeräumt, dass Homeschooling, Kinderbetreuung und Homeoffice gleichzeitig nicht funktionieren würden, aber sie hat ausgespart, was politisch nun daraus folgt. Denn gerade befinden wir uns in einem Szenario, in dem Schulen und Kitas möglicherweise bis Ostern mehr oder weniger geschlossen sein werden. Kaum eine Familie rechnet damit, dass ihre jetzige Situation im Februar anders sein wird als jetzt. Wenn Giffey es ernst meint, Familien zu entlasten, dann brauchen Familien einen Plan für mindestens zwei bis drei Monate, der ausführt, wie Eltern in dieser Zeit erwerbsarbeiten sollen, wie sie Miete und Mahlzeiten bezahlen und wie Kinder im Schulalter lernen können. Für all das gibt es nur sehr vage Ideen. Nie sind sie langfristig gedacht. Es sollte Politiker*innen jedoch nicht daran hindern, dass die Verordnungen des Infektionsschutzgesetzes jeweils nur vier Wochen gültig sind, einen grundsätzlichen und längeren Plan zu machen. Für Eltern ist es ein weiterer Job geworden, die ständig wechselnden Regelungen zu verfolgen und sich darauf einzustellen.
Die Bundesregierung hatte, um Eltern jetzt zu entlasten, zunächst Sonderurlaub angekündigt. Dieses Versprechen wurde dann aber mehr und mehr abgespeckt hin zu zusätzlichen Kinderkrankentagen, die nur einem Teil der Eltern die Möglichkeit geben, sich temporär vor allem um ihre Kinder zu kümmern. Sind die Kinder beispielsweise über die Mutter privat versichert, kann der gesetzlich versicherte Vater die Kinderkrankengeldtage nicht nehmen. Sind Eltern getrennt, und einer von ihnen weigert sich, seine Betreuungstage zu übernehmen, gibt es keine rechtliche Möglichkeit, die Betreuung zu erzwingen. Wie die Maßnahme zudem organisatorisch vonstatten geht, ist derzeit unsicher. Kitas und Schulen sollen Bescheinigungen ausstellen, die bei den gesetzlichen Krankenkassen eingereicht werden können, die dann das Kinderkrankengeld auszahlen. Es könnte für Eltern ein langwieriger Prozess sein, das Geld zu bekommen, und bei manchen das Konto in die roten Zahlen stürzen. Zudem reichen die zusätzlichen Tage nicht, um einen Lockdown bis Ostern zu überbrücken.
Die Unternehmerin Jeannine Budelmann schreibt in der »Wirtschaftswoche«: »Mich beschleicht der Verdacht, dass Eltern wie Arbeitgeber weiterhin mit der Taktik hingehalten werden sollen, die bereits im vergangenen Jahr so hervorragend funktioniert hat: Man schüre das Prinzip Hoffnung, damit alle die finanzielle und psychische Belastung auf sich nehmen, ohne zu murren. Und dann fordert man einfach noch mehr. So lange, bis es nicht mehr geht. Ich verrate Ihnen ein Geheimnis: Es geht nicht mehr.« Unternehmer*innen mit Kindern sind gerade doppelt betroffen von geschlossenen Kitas und Schulen: Um ihr Unternehmen durch eine wirtschaftliche Krise zu führen, brauchen sie sowohl ihre Mitarbeiter*innen als auch Betreuung für die eigenen Kinder. Für viele Selbstständige ist es gerade keine Option, beruflich zu pausieren, weil die Wirtschaftshilfen nicht reichen.
In vielen Medienberichten wurde die Idee, die Eltern-Entschädigung über das Kinderkrankengeld zu regeln, dafür gelobt, dass es anders als die Entschädigungen nach dem Infektionsschutzgesetz, die 67 Prozent des Gehaltes ersetzen sollen, bis zu 90 Prozent des Nettoeinkommens ausmachen würde. Aber das ist falsch. Denn auch das Kinderkrankengeld ist aufgrund der Beitragsbemessungsgrenze der Krankenkassen gedeckelt und beträgt pro Tag maximal 112,88 Euro. Bei zwanzig Arbeitstagen, die damit überbrückt werden, sind das 2257,60 Euro, der Maximalsatz der Entschädigung nach dem Infektionsschutzgesetz liegt bei 2016 Euro. Die neue Maßnahme würde nun bedeuten, dass all diejenigen, die ein monatliches Nettoeinkommen von mehr als 2500 Euro haben, deutlich weniger Einkommen hätten als normalerweise. In diesen hohen Einkommensgruppen haben Menschen zwar eher Rücklagen, merken würden einige die Einbußen trotzdem deutlich. Sie würden zudem deutlich weniger Geld bekommen als ihre Kolleg*innen auf gleicher Gehaltsstufe, die weiter arbeiten könnten wie bisher. Legt man zum Beispiel ein monatliches Netto von 3000 Euro zugrunde, erhalten diejenigen, die ihre Kinder einen vollen Monat zuhause betreuen, rund 750 Euro weniger.
Die Botschaft der Politik ist damit weiter: Sorgearbeit ist weniger wert als andere Arbeit. Zu Recht sind Eltern also nicht uneingeschränkt dankbar für die finanziellen Hilfen. Eine volle Anerkennung ihres Beitrags zur Pandemiebekämpfung wären entweder der volle Lohnersatz oder ein Pandemie-Elterngeld in gleicher Höhe für alle.
Das Kinderkrankengeld ist ein vergiftetes Geschenk. De facto wälzt es die Verantwortung auf die Eltern ab, die nun entscheiden müssen, ob sie es sich leisten können, ihre Kinder zuhause zu behalten, finanziell und kräftemäßig – und ob sie es verantworten wollen, Erzieher*innen, Lehrpersonal und die eigenen Kinder sowie die Kinder von anderen einem erhöhten Risiko auszusetzen, an Covid-19 zu erkranken. Die Politik verlässt sich auf den Altruismus der Eltern und bestraft sie finanziell dafür. Wenn das kein Jackpot ist.
Es werden außerdem mehrheitlich Mütter sein, die in den nächsten Wochen und Monaten beruflich weiter zurückstecken
Hinzu kommt, dass es zusätzlichen Druck auf Eltern im Job ausübt, ihnen die Entscheidung zu überlassen: Denn es wird Kolleg*innen geben, die weiter arbeiten können wie bisher, weil ihre Kinder betreut werden. Diejenigen, die sich im Home-Office mit Kindern abmühen. Und die, die sich für zwei Wochen komplett ausklinken. Ich habe eine Ahnung, welche dieser drei Optionen für die eigene Karriere und die nächste Gehaltserhöhung am klügsten ist oder wessen befristeter Vertrag verlängert wird. Daher kommt die Initiative #Proparents zur richtigen Zeit, die eine Aufnahme des Diskriminierungsmerkmals »Elternschaft« ins Allgemeine Antidiskriminierungsgesetz fordert, das bislang nicht umfassend berücksichtigt wird. Würde das AGG erweitert, könnten Eltern, die in Zukunft gekündigt werden, bei Beförderungen übergangen oder schlechte Bewertungen bekommen, weil sie in der Pandemie nur eingeschränkt arbeiten konnten, rechtlich gegen diese Diskriminierung vorgehen. Ohne Eltern rechtlich vor Diskriminierung zu schützen, werden sie beruflich zu den Verlierer*innen der Pandemie gehören.
Es werden außerdem mehrheitlich Mütter sein, die in den nächsten Wochen und Monaten beruflich weiter zurückstecken. Sie haben schon in den vergangenen Monaten häufiger ihre Arbeitszeit reduziert als Männer, wie eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung gezeigt hat. Jutta Allmendingers These, die Gleichberechtigung von Frauen würde um drei Jahrzehnte zurückgeworfen, fand ich zunächst ein wenig übertrieben, aber plötzlich erscheint sie mir deutlich plausibler. Es ist fern der Realität, dass es vor allem Väter sein werden, die in den nächsten Wochen das Kinderkrankengeld nehmen werden statt ihr Gehalt.
Eltern hätten einen echten Corona-Sonderurlaub mehr als verdient, denn sie arbeiten seit Monaten in mehreren Jobs gleichzeitig. Erzieher*innen und Lehrer*innen, deren Berufe zu den Tätigkeiten zählen, in denen man gerade einem besonders hohen gesundheitlichen Risiko ausgesetzt ist, haben mehr Schutz verdient und außerdem einen Corona-Bonus. Die Kinder und Jugendlichen, deren großer Verzicht auf einen normalen Alltag kaum Beachtung findet, haben verdient, während der Pandemie so gut wie möglich unterstützt und danach gesellschaftlich stärker berücksichtigt zu werden als bisher. Petra Bahr, Regionalbischöfin der Landeskirche Hannover und Mitglied des Ethikrates, meinte dazu: »Ja, der Lockdown wird Spuren bei Kindern und Jugendlichen hinterlassen. Darum: Druck rausnehmen, ihre Resilienz in den Mittelpunkt stellen und einen Gesellschaftspakt für diese Generation schließen.«
Dass sich die Regierungsfraktionen nach jahrelangen Verhandlungen endlich darauf verständigt haben, Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen, so wie es die UN-Kinderrechtskonvention vorsieht, ist vielleicht ein Signal, dass die Interessen von Kindern in Zukunft eine größere Rolle spielen könnten. Allerdings verlangt die UN-Kinderrechtskonvention, die Interessen der Jüngsten »vorrangig« zu berücksichtigen. Die Bundesregierung möchte ins Grundgesetz jedoch nur den Begriff »angemessen« aufnehmen. Heißt das doch, dass eine demografisch kleine Gruppe weiter eher zugunsten von Erwachsenenthemen zurückstecken muss? Die Kinder- und Jugendarbeit befürchtet gerade, dass die Kommunen eher Einrichtungen einsparen werden, als neue aufzubauen, und ihre Mittel für vermeintlich dringlichere Dinge ausgeben werden.
Was können Familien tun, um politisch angemessen berücksichtigt zu werden? Wie mager die aktuelle Unterstützung von Familien ist, sieht man auch, wenn man Finanzhilfen vergleicht. Für die zusätzlichen Kinderkrankengeldtage soll ein Budget von 300 Millionen Euro eingeplant werden, während die Lufthansa neun Milliarden Euro Staatshilfe bekommen hat und damit Schlagzeilen machte, mit den Finanzhilfen das monatliche Kurzarbeitergeld von Pilot*innen auf bis zu 15.000 Euro aufzustocken. Familien im Hartz-IV-Bezug bekommen trotz der wiederholten Forderungen von Sozialverbänden nicht einmal 100 Euro mehr im Monat, um pandemiebedingte Zusatzkosten für beispielsweise Essen abdecken zu können oder all die Arbeitsblätter für den Distanzunterricht auszudrucken. Beamte und Soldat*innen bekamen einen Corona-Bonus von 300 bis 600 Euro – unabhängig davon, ob sie in der Pandemie mehr gearbeitet hatten oder als Lehrer*innen besonderen Risiken ausgesetzt waren.
Ich habe in den vergangenen Tagen öfter mal gedacht: Wäre ich Schülerin, ich hätte versucht, einen bundesweiten Streik der höheren Klassen zu organisieren, gegen diese rücksichtslosen Ideen, dass bei sehr hohen Inzidenzen weiterhin Präsenzunterricht stattfinden soll, dagegen, dass die Anforderungen an Abschlussprüfungen gleich bleiben, und gegen die Annahme, dass alle Schüler*innen zuhause gleich gut lernen können. Oder einen Elternstreik, in dem Eltern sich der Mehrfachbelastung verweigern, weder in die Büros und Betriebe gehen noch ihre Kinder unterrichten, dafür aber wieder mehr schlafen und wenigstens ein paar Minuten Freizeit haben. Aber diese Ideen sind Murks. Denn Eltern und Kinder haben ganz unterschiedliche dringende Interessen, weil sie verbunden mit ihrer sozioökonomischen Realität und ihrer Gesundheit unterschiedliche Bedürfnisse haben. Ein Elternstreik wäre kein Streik für alle Eltern.
Es gibt Kinder, die ohnehin gut lernen können und die nicht dadurch benachteiligt würden, wenn ihre Eltern sich weigern würden, das Homeschooling zu begleiten. Andere Kinder brauchen ihre Eltern jetzt umso mehr oder am dringendsten durchgehenden Unterricht von ausgebildeten Lehrer*innen. Es gibt Kinder, die gern zuhause sind, weil sie in der Schule gemobbt werden, es gibt Kinder, die sich in der Schule und unter Freund*innen wohler fühlen als zuhause. Es gibt Eltern, die es sich leisten können, auf Gehalt zu verzichten oder einen Konflikt mit ihren Vorgesetzten einzugehen, weil sie im Unternehmen begehrt sind oder leicht eine andere Stelle finden würden. Daneben gibt es sehr viele Eltern, die keine Verhandlungsmacht im Job haben, die gerade nicht im Homeoffice arbeiten können und für die selbst kleine Gehaltseinschnitte gravierend wären. Aufgrund dieser Vielfalt bewirken die politischen Maßnahmen für die Bereiche der Bildung, der Familien, der Erwerbsarbeit eher eine stärkere gesellschaftliche Spaltung statt Solidarität. Wie organisiert man Solidarität unter Familien?
Die Soziologin Michaela Mahler schreibt, »das Dilemma der Kinder« sei, dass Kinderrechte gegen den Infektionsschutz ausgespielt würden sich dieses Dilemma erst dann lösen würde, wenn die Inzidenzen so niedrig seien, »dass die Kitas und Schulen guten Gewissens offen bleiben «. Dass die Inzidenzen schnell sinken, macht nicht nur das Lernen leichter, sondern ist zudem im Sinne des Gewaltschutzes. Denn Stress erhöht das Risiko, dass es in Familien zu häuslicher Gewalt kommt. Wenn man mit Eltern spricht, empfinden die meisten von ihnen Druck: Druck von der Schule, Druck vom Arbeitgeber, Druck, der Familie gerecht zu werden. Daher wäre es gerade wichtig, den Druck in Familien so gut es geht zu reduzieren, indem man die Anforderungen der damit verbundenen Erwerbsarbeit und der Schulen senkt und den Familien finanzielle Sorgen nimmt, aber vor allem indem man dafür sorgt, dass die Einschränkungen schnell zurückgenommen werden können. Je kürzer der Lockdown ist, desto eher endet der Zustand, der Gewalt begünstigt.
Das gemeinsame Ziel, das all die unterschiedlichen Interessen der Familien vereint, ist der Alltag ohne Corona. Das gemeinsame Ziel ist Zero-Covid. Franziska Giffey hatte im November versprochen, dass, bevor Kitas und Schulen schließen würden, »alle anderen Dinge dran« sein würden. Das Versprechen wurde gebrochen. Wenn die Politik nun verspricht, dass die Bildungseinrichtungen für Kinder und Jugendliche die ersten Institutionen sein sollen, die vollständig zur Normalität zurückkehren können, braucht es eine politische Strategie, Zero-Covid so schnell wie möglich zu erreichen, die Belastungen währenddessen so gering wie möglich zu halten und alle an dieser gemeinsamen Anstrengung ausgewogen zu beteiligen. Die Maßnahmen sind zunehmend unverhältnismäßig auf den Privatbereich verteilt und treffen, wie Henrike Roßbach in der Süddeutschen Zeitung schreibt, »Kinder härter als alle anderen«.
Familien mit Kindern, die in Deutschland nun mal eine Minderheit sind, können mit ihren Einschränkungen allein Zero-Covid nicht erreichen. Aber das, was für die wenigen Kinder am besten wäre, wäre am besten für alle: ein Leben ohne Corona.