»Was für ein Jahr. (…) Ein Jahr ohne Ausnahme und ohne Pause, trotz all der verordneten Ruhe«, so beginnt das gerade erschienene Buch Journal – Tagebuch in Zeiten der Pandemie von Carolin Emcke. Ein Jahr ohne Pause? Über diese Beobachtung musste ich einen Moment lang nachdenken und sie als Schablone über die vergangenen dreizehn Monate legen: Der beengte, vereinzelte Alltag, in dem viele Menschen sich nur noch in einem sehr kleinen Radius um ihre Wohnungen herum bewegten, niemanden mehr berührten und durch Glasscheiben winkten. Vieles von dem, was sie für das Jahr geplant hatten, musste abgesagt werden oder verschoben auf einen unbekannten Zeitpunkt. War das nicht eine große Pause?
Nein, nur oberflächlich. Die Zeit fühlte sich anders an: rastlos, keuchend, überspannt. Das Jahr ging viel zu schnell vorbei, das denke ich, wenn ich auf mein Baby schaue, das vor einem Jahr ein knautschiges Neugeborenes war und nun plötzlich ein Kleinkind ist, das seine ersten Schritte macht. Die Tage in diesem März kommen in meiner Empfindung den Tagen im vergangenen März so nah, als wären die zurückliegenden Monate ein einziger langer Tag. Das Verstreichen der Zeit misst sich für mich nur an diesem kleinen, größer gewordenen Menschen. Gleichzeitig erscheint mir das, was vor dem Frühjahr 2020 lag, so unendlich weit weg, dass ich nicht glauben kann, dass es nur ein Jahr war. Wenn ich im Spiegel in meine müden Augen schaue, sehe ich in ihnen fünf Jahre Erschöpfung. Wie lebendig sind die Erinnerungen aus der Davor-Zeit?
Das zurückliegende Jahr ist mit Zeitmetaphern kaum zu fassen, da sich für mich nie ein Gefühl der Stabilität eingestellt hat und ich jeden Morgen, jeden Abend, jeden Tag das Tempo und die Textur des Alltags ein wenig anders empfinde. Ich beschreibe meine Stimmungen im vergangenen Jahr als Wellen: Mal bin ich ruhig und glaube, mich an die Umstände gewöhnt zu haben. Darauf bauen dann Hoffnung und Optimismus auf, besser zurechtzukommen, diesen Zustand aushalten zu können. Dann fühle ich mich wieder unsicher, ängstlich, wütend. Immer wieder wechseln sich diese Stimmungen ab und lösen damit letztlich auch ein Zeitgefühl auf, da sie keine Entwicklung nach vorn bedeuten. Sie schwappen vor und zurück, vor und zurück.
Ich bin trotz Stillstand ausgezehrt, da es für mich keine Denkpausen gab. Das ist die Atemlosigkeit, die ich wahrnehme, obwohl ich an manchen Tagen die Wohnung nicht verlasse und ich meinen Körper nie überanstrengen muss. Die Erschöpfung ist mental, weil meine Gedanken immer wieder darum kreisen, wie lang das noch dauert, wohin das führt, was noch geschehen wird. Aber muss ich darüber überhaupt nachdenken? Was verändert sich, wenn ich das nicht tue? Geben mir all das Nachdenken, das angelesene Wissen, die herausgetwitterte Ohnmacht die Ruhe zurück und all die anderen Dinge, die ich vermisse?
Ich habe die vergangenen Monate immer wieder darüber nachgedacht, eine Pause von sozialen Netzwerken zu machen, sogar davon, Nachrichten zu lesen. Eine Pause vom permanenten Nachdenken über die Pandemie. Ich nahm wahr, dass es meine Stimmung noch weiter verschlechterte, wenn ich auf Twitter, Facebook oder Instagram von anderen Menschen las, denen es nicht gut ging, die sich Sorgen machten, die wütend darüber waren, dass ein Leben ohne Virus so weit entfernt ist. Die Angst, sich jetzt nicht vor dem Virus schützen zu können, empfinde ich umso stärker, je mehr ich darüber lese. Das aufmerksame Verfolgen von Nachrichten führt nicht mehr dazu, dass ich mich besser informiert fühle und in die Lage versetzt, gute Entscheidungen zu treffen, es macht mich nur leer und schlaflos.
In den Nächten, nachdem die MPK getagt hat, liege ich noch länger wach als sonst und wache gerädert auf, obwohl sich in meinem Leben genau nichts verändert hat. Aber in meinem Kopf gehe ich die Beschlüsse und Nicht-Beschlüsse immer wieder durch und verhandele mit mir im Selbstgespräch, was die Pandemie-Politik bewirken wird. Trotz immer neuer Maßnahmen, den so genannten »Lockerungen« und »Verschärfungen« in einem Jahr, bleibt mein Alltag gleich. Meine Tochter war die vorigen zwei Wochen wieder in der Kita, aber das war die einzige spürbare Veränderung. Ich bin gegen Ausgangssperren am Abend, aber ich würde sie nicht bemerken. Meine Haare werden länger und länger, und es ist mir egal. Ich könnte also tatsächlich aufhören, die Pandemie-Politik zu verfolgen, denn über die nächste Schließung der Kita erfahre ich durch die E-Mails der Einrichtung. Ich könnte mich ausklinken und warten, bis ich mich impfen lassen darf, bis mich jemand aufgeregt anruft und sagt: »Hast du gehört? Es ist vorbei.«
Der Grund dafür, dass ich mich doch immer wieder auf Twitter einlogge, ist mein Bedürfnis nach Austausch, um wenigstens im endlosen Stream von Updates zu spüren, dass es noch mehr Menschen gibt als die drei, mit denen ich zusammenlebe, und den Freund*innen, mit denen ich mich direkt austausche. Ich suche eigentlich nicht nach geteilter Wut oder Anlass für Empörung, sondern habe Sehnsucht danach, unter Menschen zu sein, zuhören zu können, wenn ich abends zu müde bin, um selbst noch etwas zu erzählen. Das Rauschen in den sozialen Medien stillt dieses Verlangen nach Zusammensein kurz, während die Nebenwirkungen auf meine Stimmung die kurze Erleichterung gleich wieder ersticken.
Im Februar ist das Buch der US-Autorin Jenny Odell Nichts tun – Die Kunst, sich der Aufmerksamkeitsökonomie zu entziehen auf Deutsch erschienen. Darin beschreibt sie, wie soziale Netzwerke uns unserer Aufmerksamkeit berauben, da sie dafür designt seien, dass die Nutzer*innen dort möglichst viel Zeit verbringen, sie süchtig werden sollen. »Addictive Networks« könnte man sie auch nennen, wenn man Odells Argumentation folgt. Sie schreibt, dass die digitalen Netzwerke uns dabei im Weg stünden, die Welt um uns herum präzise wahrzunehmen und dort etwas zu verändern, wo wir es wirklich könnten. Ihr Buch ist auch ein Plädoyer dafür, sich in anderen, nichtkommerziellen und auch physischen Räumen zusammenzuschließen und die Kraft von kleineren Gruppen wieder zu entdecken. Dass die Originalausgabe von »How to do nothing« bereits 2019 erschien, vor der Pandemie, macht Jenny Odells Kritik an den Tücken der Kommunikation im Netz gerade noch schmerzlicher, denn in der physischen Vereinzelung der Menschen, die der Schutz vor dem Virus erzwungen hat, ist es umso schwieriger geworden, sich digitaler Massenkommunikation zu entziehen. Auf eine Art erhält das destruktive Zusammensein über digitale Kommunikation uns gerade am Leben, macht uns aber gleichzeitig mürbe und unglücklich. Obwohl wir über soziale Netzwerke Gemeinschaft suchen, treiben sie uns weiter auseinander.
Jenny Odell schreibt, dass die Aneinanderreihung von kurzen Nachrichten und Meinungen in sozialen Medien zu allen möglichen Themen ein »stumpfsinniges und betäubendes Grauen« erzeugen würden, »das jedes mögliche Verstehen ausschließt«. Dieser »Kontextkollaps« würde darüber verstärkt, dass Menschen sich in sozialen Netzwerken dann ein großes Publikum aufbauen könnten, wenn sie ihre Nachrichten nicht für eine kleine Interessensgruppe formulierten, sondern für ein Publikum aus völlig unterschiedlichen Nutzer*innen. Die Social-Media-Forscherinnen Danah Boyd und Alice E. Marwick haben dies in einer Studie als »Sharing-Philosophie des kleinsten gemeinsamen Nenners« bezeichnet, die Twitter-Nutzer*innen dazu bringe, ihre Themen selbst zu begrenzen, um ein möglichst breites Publikum anzusprechen und wenig angreifbar zu sein.
Ich kann diese These anhand meines eigenen Verhaltens in sozialen Netzwerken nachvollziehen. Denn je mehr Menschen dort lesen, was ich schreibe, und darauf reagieren, desto mehr denke ich darüber nach, wozu ich etwas sage und wie ich es formuliere. Die Kommunikation in sozialen Netzwerken verlangt mir deutlich mehr ab als Gespräche mit Freund*innen, und das nicht nur aus dem Grund, dass ich mit Anfeindungen umgehen muss, sondern eben auch, weil ich mich stärker verstelle, mich kontrolliere und keine ungezwungenen Gespräche führen kann. Obwohl ich seit mehr als zehn Jahren auf Twitter bin, kann ich beim Schreiben dort nicht mehr voraussetzen, dass die Menschen, mit denen ich dort interagiere, mich, meine Arbeit und Positionen schon lange kennen, sondern beginne immer wieder bei null für diejenigen, die neu hinzustoßen. Somit kann der Austausch in digitalen Netzwerken kaum entlastend wirken, weil wir eben – sobald diese Netzwerke größer sind als ein wirklicher Freundeskreis oder ein Publikum, das in ein Theater passt – nicht mehr frei sprechen und denken, sondern uns der Dynamik und den Regeln der jeweiligen Plattformen anpassen, auch unbewusst.
Diese Art der Nutzung wird zusätzlich darüber verstärkt, dass die Ratgeberindustrie rund um die Berufswelt Menschen eintrichtert, sie müssten zu einer ›Personal Brand‹, zu einer eigenen Marke werden, und viele Menschen versuchen, dieser Aufforderung über ihre digitale Präsenz nachzukommen. Eine Marke kann sich jedoch keine Fehler erlauben, keine Uneindeutigkeiten, keine unfertigen Gedanken. Diese Ethik erfasst nun selbst die Menschen, die für ihren Beruf oder ihr Geschäft nicht einmal darauf angewiesen sind, soziale Netzwerke als Werbefläche zu nutzen. Wir alle werden dort flacher und angepasster und zu einer entfernten Version von uns selbst.
Ist es nicht seltsam, was wir dort mittlerweile alles teilen? Das eigene Leben als Nachrichten-Ticker, ein tägliches Fotoalbum, um das Erlebte festzuhalten. Nun müssen wir nicht nur Zeit finden, ein Buch zu lesen, sondern auch Zeit dafür, die Wohnung aufzuräumen und das Buch hübsch zu drapieren, um es zu fotografieren und auf Instagram zu teilen, dass man dieses Buch gerade liest. Vielleicht liest man das Buch sogar erst, wenn das Foto auf der Plattform hochgeladen ist, oder sogar erst Wochen später. So fotografieren, kommentieren und teilen wir das Wenige, das gerade im Lockdown-Leben passiert, eben digital, um nicht völlig allein zu sein und zu sagen: Ich bin noch hier. Ein Versuch, in der großen Leere für andere interessant zu bleiben und aus dem Nichtstun zumindest ein Like herauszupressen.
Aber ist das Wenige, was wir gerade tun, nichts? Müssen wir den tristen Alltag aufwerten durch digitale Inszenierung? Die Einsamkeit und Überforderung füllen mit immer noch mehr Information? Könnte die Art, wie wir gerade leben müssen, nicht vielleicht tatsächlich eine Pause sein von dem Davor? Eine Pause, die sich begreifen lässt als eine aushaltbare Zeit, in der es okay ist, anders zu leben?
Jenny Odell schreibt in ihrem Buch: »Ich bin kein Avatar, keine Reihe von Einstellungen oder irgendeine reibungslos funktionierende kognitive Kraft; ich bin klumpig und porös. (…) Und es bedarf einer Pause, um sich das in Erinnerung zu rufen: einer Pause, um nichts zu tun, um einfach zuzuhören, sich auf tiefster Ebene daran zu erinnern, was, wann und wo wir sind.«
Ich will keine Pause von Nachrichten und sozialen Netzwerken, um mich dem Cocooning zu ergeben oder unpolitisch zu sein, sondern um mich selbst wiederzufinden, weil ich im Geschrei des vergangenen Jahres vielleicht mir selbst ein wenig verlorengegangen bin und ich nicht mehr richtig weiß, was mich wirklich interessiert. Vielleicht haben wir uns selbst als die Person, die wir mögen, in der Pandemie kurz vergessen. »Eigentlich will ich gar nicht so wütend sein dauernd«, schreibt eine andere Nutzerin auf Twitter. Ich auch nicht. Ich will nicht hoffnungslos sein, nicht ohnmächtig, nicht ständig nervös.
Nach nun mehr als einem Jahr Pandemie gefällt mir das weniger tun immer besser. All die Zeit und auch das Geld, die in der Davor-Zeit in mein Äußeres flossen, habe ich nun für andere Dinge. Ich ziehe mich morgens an, ohne nachzudenken, mein letzter Friseurbesuch liegt fast ein Jahr zurück. Verändert hat es meine sozialen Beziehungen nicht, dass ich morgens weniger Zeit vor dem Kleiderschrank verbringe. Auf den digitalen Konferenzen reicht es völlig, was ich sage. Der Mental-Load, den ich früher darauf verwandt habe, wie meine Kleidung wirkt, ist vorbei. Mir fehlen zwar die Veranstaltungen, bei denen ich mit vielen Menschen an nur einem Tag zu sprechen konnte, aber die Abende allein im Hotel am Ende eines beruflichen Reisetags, das anonyme Frühstück unter Dutzenden anderen vereinzelten Reisenden, habe ich noch kein einziges Mal vermisst. Wenn mein Vortrag vorbei ist, krabbele ich zu meinem Baby ins Bett.
Als Familie liegen wir im Bett, solange es geht – und wenn ich ehrlich bin, möchte ich das frühe Aufstehen, um das Kind vor neun in der Kita abzugeben, nicht zurück. Seitdem wir mehr schlafen, so viel, wie unsere Körper brauchen, starten wir alle fröhlicher in den Tag.
Mit Freund*innen treffe ich mich in Parks, die Auswahl von angesagten Cafés und Restaurants ist weggefallen. Schön sind die Treffen trotzdem. Wir konzentrieren uns auf uns, niemand postet sein Essen bei Instagram. Wir haben Zeit, viel Zeit. Denn die vermeintlich wichtigen Abendtermine, für die man früher los muss – ob eine Vernissage, ein Business-Dinner oder eine Spinning-Klasse – gibt es gerade nicht. Wir lernen, uns durch neue, ruhige, aufmerksame Augen zu sehen. So viel braucht man gar nicht, wenn es das Richtige ist.