Ist es radikal, Kinder wählen zu lassen?

Was würde in der Politik anders werden, wenn auch die Jüngsten eine Stimme bekämen? Und ab welchem Alter sollten Kinder wählen dürfen – ab 16, ab 12 oder noch früher?

Foto: Paula WInkler

Im feministischen Diskurs wird die Aufforderung »Pass the mic« – »Gebt das Mikrofon weiter« – verwendet, um auf die unterschiedlichen Machtgefälle aufmerksam zu machen und daran zu erinnern, dass aufmerksames Zuhören vielleicht die wichtigste politische Praxis ist. Der Satz »Pass the mic« fordert dazu auf, anzuerkennen, wie wenig man selbst weiß und dass es oft die klügere Wahl ist, selbst nichts zu sagen und stattdessen die Bühnen zu öffnen für diejenigen, deren Perspektiven bislang zu wenig Beachtung finden. Ihnen eine Treppe zu diesen Bühnen zu bauen.

Was würde geschehen, wenn Kinder wählen dürften? SPD, Grüne, Linke und FDP sprechen sich mittlerweile dafür aus, das Wahlalter bei Bundestagswahlen auf 16 Jahre zu senken. Als die FDP im September 2020 auf ihrem Bundesparteitag beschloss, die Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre in ihr Programm aufzunehmen, twitterte der Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) entrüstet: »Ihr seid einfach die besten Wahlhelfer für die Grünen, die man sich denken kann!!!« Das Argument, das der CDU-Politiker hier vorträgt, ist eigentlich ein Gefühl: Es nennt sich Angst. Angst davor, dass seine eigene Partei Macht verlieren könnte, wenn jüngere Menschen über ihr Stimmrecht ein wenig Macht dazubekämen.

Dabei überschätzt Altmaier zum einen, wie viel Einfluss die Senkung des Wahlalters auf 16 für eine Bundestagswahl entwickeln könnte: Könnten 16- und 17-Jährige bei der nächsten Bundestagswahl mitwählen, wären es etwa 1,5 Millionen Wahlberechtigte mehr als vorher, die zu den 60,4 Millionen Wahlberechtigten über 18 hinzustießen. Selbst wenn die jugendlichen Wähler*innen geschlossen eine Partei wählen würden – was unwahrscheinlich ist –, würden sich die Prozentpunkte dieser Partei im niedrigen einstelligen Bereich erhöhen. Das Wahlalter auf 16 Jahre zu senken würde in der Stimmverteilung viel weniger verändern, als viele glauben, wenn sie an diese Idee denken. Hätte Peter Altmaier in diesem Moment das Ergebnis der U18-Bundestagswahl 2017 gekannt, bei der sich 220.000 Kinder und Jugendliche beteiligten, hätte er vermutlich gelassener reagiert: Damals war die Union die Partei, die in dieser fiktiven Wahl am besten abschnitt und 28,5 Prozent der Stimmen bekam. Die Grünen waren nur die zweitstärkste Partei.

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Deutschland ist bereits jetzt eine Republik der Alten. Mehr als 23,7 Millionen Menschen in Deutschland sind älter als 60 Jahre. Die Gruppe der Kinder und Jugendlichen umfasst 13,6 Millionen. Man kann sich das als Spielplatz vorstellen, auf dem jedes Kind von zwei Großeltern begleitet wird. Zwischen den Schaukeln und Rutschen stehen fast doppelt so viele Senior*innen in der Frühlingssonne wie Kinder. Denkt man sich noch die Eltern hinzu, rücken die Kinder endgültig in den Hintergrund.  Wir müssen ganz ernsthaft diskutieren, wie inmitten des demografischen Wandels die Interessen von Kindern substanziell repräsentiert werden können. Denn Kinder dürfen bislang nicht nur nicht wählen, sie stellen vor allem einen immer kleineren Anteil der Bevölkerung und verschwinden ganz real aus dem Stadtbild und damit womöglich aus dem Bewusstsein von Erwachsenen. Wenn Menschen seltener Eltern oder Großeltern werden, sinkt ihre Chance, Kindern im Alltag zu begegnen, ihre Lebenswelt zu kennen und diese dort mitzudenken, wo Erwachsene Entscheidungen treffen, die sich auf Kinder auswirken. Natürlich könnte das Bild von den zwei Großeltern pro Kind auch ein fürsorgliches sein: Eine Welt, in der jedes Kind mindestens zwei Menschen mit viel Lebenserfahrung hat, die für seine Belange eintreten. Nehmen Erwachsene diese Verantwortung an?

Die Interessen von Kindern und älteren Menschen sind keine Gegensätze. Beim Wahlverhalten ist es sogar so, dass Parteipräferenzen in Familien ein Stück weit vererbt werden. Umgekehrt beeinflussen auch Kinder die Wahlentscheidung ihrer Eltern und Großeltern mit. Manche der Älteren kommen mit auf die Demos, auf die ihre Kinder und Enkel gehen. Auch Paare wählen oft dieselbe Partei. Befürworter*innen des Wahlrechts ab null argumentieren zudem, dass die Annahme, Kinder und Jugendliche würden eine Wahlentscheidung auf Basis von zu wenig Wissen treffen, falsch sei. Klaus Hurrelmann, Herausgeber zahlreicher Jugendstudien und Dozent an der Hertie School of Governance, ist der Auffassung, dass Jugendliche gemessen an ihren intellektuellen Fähigkeiten schon im Alter von zwölf Jahren wählen können sollten. Aktuelle Jugendstudien haben erwiesen, dass das politische Interesse von jungen Menschen von Jahr zu Jahr zunimmt. Von einer politisch-desinteressierten Jugend kann keine Rede sein.

Länder, die die UN-Kinderechtskonvention und die EU-Grundrechte-Charta unterschrieben haben, sind verpflichtet, Kinder und Jugendliche an politischen Lösungen zu beteiligen. Tun sie das?

Gerade dann, wenn Menschen zum ersten Mal ihre Stimme abgeben dürfen, informieren sie sich umfassend, wogegen diejenigen, die schon lange wahlberechtigt sind, sich nicht bei jeder Wahl neu informieren und vielleicht sogar mit weniger Wissen zur Urne gehen als die Erstwähler*innen. Die Juristin und ehemalige Hamburger und Berliner Justiz-Senatorin Lore Maria Peschel-Gutzeit, die sich schon lange für das Wahlrecht ab Geburt einsetzt, sagt, alle Menschen unter 18 würden über die »Fiktion« vom Wahlrecht ausgeschlossen, derzufolge alle Wahlberechtigten über 18 »politisch informiert sind und über die nötige politische Urteilskraft verfügen«. In einer Demokratie müssen Erwachsene nicht beweisen, dass sie das nötige Wissen haben, um informiert zu wählen – allein ihr Alter und ihr Pass entscheiden darüber in Deutschland.

In der Gleichstellungspolitik sind die Instrumente des Gender-Mainstreamings und Gender-Budgetings entwickelt worden. Sie halten die Politik dazu an, Maßnahmen, Gesetze, Haushaltspläne dahingehend zu prüfen, ob sie unterschiedlich auf Männer und Frauen wirken und, wenn ja, sie so zu korrigieren, dass sie zu mehr Geschlechtergerechtigkeit beitragen. Gender-Mainstreaming ist über das Grundgesetz legitimiert, denn es verpflichtet den Staat dazu, »auf die Beseitigung bestehender Nachteile« hinzuwirken. Bräuchte es solche Instrumente auch, um die Rechte von Kindern sicherzustellen und Politik generationengerecht zu machen? Ist es denkbar, dass beispielsweise Klimaschutz-Maßnahmen dahingehend geprüft werden müssen, ob sie die Welt für die Kinder von heute tatsächlich bewahren können?

Die Vereinten Nationen haben 1989 die Kinderechtskonvention beschlossen, die Kindern überall auf der Welt besonderen Schutz und Fürsorge garantieren soll und die Mitgliedsstaaten dazu auffordert, den Rechten von Kindern einen eigenen Wert zuzugestehen. Sie sind nicht nur gleichwertige Bürger*innen, sondern müssen besonders geschützt werden. Deutschland hat die Konvention 1992 ratifiziert und debattiert seither darüber, ob Kinderrechte ins Grundgesetz aufgenommen werden sollen. Knapp 20 Jahre später soll es endlich so weit sein, darauf hat die große Koalition sich vor wenigen Wochen verständigt. Die UN-Konvention sieht vor, dass Kinderrechte »vorrangig« zu behandeln seien. Dort heißt es: «Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleich viel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.«

Die Bundesregierung möchte jedoch, dass Kinderrechte »angemessen« berücksichtigt werden, und schwächt die Kinderrechtskonvention damit ab. Kinderschutzverbände und die Oppositionsparteien Grüne, Linke und FDP haben diesen Vorschlag kritisiert, da er mit dieser Formulierung sowohl hinter der EU-Grundrechte-Charta als auch der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zurückbleibe. Das Bundesverfassungsgericht hatte geurteilt, Kinder seien Träger*innen von Grundrechten, genau wie Erwachsene. Zudem seien Eltern dazu »verpflichtet, ihr Handeln am Wohl des Kindes auszurichten«. Die EU-Grundrechte-Charta sieht wie die Kinderrechtskonvention vor, das Wohl des Kindes bei allen Maßnahmen, die auch Kinder beträfen, »vorrangig« zu berücksichtigen. Und genau wie die UN-Konvention sieht die EU-Charta eine politische Beteiligung von Kindern vor: »Ihre Meinung wird in den Angelegenheiten, die sie betreffen, in einer ihrem Alter und ihrem Reifegrad entsprechenden Weise berücksichtigt.«

Länder, die sowohl die UN-Kinderechtskonvention als auch die EU-Grundrechte-Charta unterschrieben haben, sind demnach dazu verpflichtet, Kinder und Jugendliche an politischen Lösungen zu beteiligen. Tun sie das? Die politische Beteiligung von Kindern und Jugendlichen ist in Deutschland bislang nicht institutionalisiert worden. Das Wahlrecht wäre ein einfacher Weg, Kinder mitentscheiden zu lassen, und mit dem Verweis auf den Reifegrad lässt sich ein pauschaler Ausschluss von Menschen unter 18 vom Wahlrecht nicht aufrechterhalten. Zudem leitet sich aus den Kinderrechten der Auftrag ab, für alle Kinder Formate zu entwickeln, über die sie ihre Meinungen und Interessen in den politischen Willensbildungsprozess einbringen können. Wo sie dies noch nicht können, müssen Eltern und Erziehungsberechtigte diese Interessen nach bestem Gewissen – zum Wohl der Kinder – vertreten können. Doch wenn nur Eltern wählen dürfen, hat ihre Stimme nur für ihre Person Gewicht und nicht für ein, zwei, drei weitere Kinder.

Dass Kinder und Jugendliche immer dann beteiligt werden müssen, wenn sie von politischen Entscheidungen betroffen sind, hätte für das vergangene Corona-Jahr bedeutet: Schüler*innen hätten von Pandemie-Beginn an das Recht gehabt, darüber mitzuentscheiden, wie ihr Unterricht organisiert wird sowie was und wen sie brauchen, um zuhause gut zu lernen. Ihre Ideen dazu, wie sie körperlich und seelisch gesund durch die Krise kommen, hätten einbezogen werden müssen. In einer Studie der Universität Hildesheim sagten Jugendliche über ihre Erfahrungen in der Pandemie, dass sie sich auf ihre Rolle als Schüler*innen reduziert fühlten und sie den Eindruck hatten, dass ihre Interessen in der Krise nicht zählten. Auch Sophia Marie Pott, die sich im Jugendrat der Generationen Stiftung engagiert, sagt: »Dass Jugendliche nicht ernstgenommen werden, zeigt sich darin, dass aktuell hauptsächlich offensichtliche Themen wie die Schulpolitik als relevant für junge Menschen angesehen werden. Das ist deutlich zu klein gedacht, denn zum Beispiel beim Thema Finanzen muss auch mit meiner, also der jungen Generation entschieden werden. Die Kombination aus Investitionsstaus und riesigen Schulden ist nicht im Ansatz generationengerecht.«

Das erste »Jugend-Hearing« zur Pandemie veranstaltete das zuständige Bundesministerium von Franziska Giffey am 11. März, also in der vorigen Woche. Fast genau ein Jahr nachdem die Schulen zum ersten Mal geschlossen wurden. In der Haltung, die Interessen der jüngsten Bürger*innen »angemessen« statt »vorrangig« zu berücksichtigen, werden ihre Bedürfnisse erst dann gehört, wenn die größten Schäden schon entstanden sind. Aber Jugendliche ein Jahr später einzubeziehen, ist nicht mal eine angemessene Beteiligung. Der Spielraum, den das Wort »angemessen« vorgibt, ist zu groß und wird – sobald die Grundrechtsänderung in Kraft tritt – vermutlich immer noch bedeuten, dass die Interessen von Kindern gegenüber den Interessen von Erwachsenen, die sich stärker in der Gegenwart als in der Zukunft abspielen, verlieren würden. So wichtig die Ergänzung im Grundgesetz ist, sie reicht nicht, um Kinder politisch ernstzunehmen.

Es wäre angemessen, dass Kinder endlich mitentscheiden dürfen. Vermutlich würde es die politische Arbeit sogar erleichtern.

Die größte Bedrohung für das Wohl der Kinder auf der ganzen Welt ist die Klimakatastrophe. Die »Fridays for Future«-Proteste sind entstanden und reißen nicht ab, weil Kinder und Jugendliche der Auffassung sind, dass ihre Rechte missachtet werden und sie sich über eigene Aktionen Gehör verschaffen müssen, wenn die Erwachsenen ihnen die politische Beteiligung verwehren. Kinderrechte erstrecken sich bis in die erwachsene Zukunft der Kinder, da junge Menschen nicht intellektuell abgeschnitten von ihrer Zukunft in einer Zeitkapsel leben. Sie können einschätzen, was ihnen bevorsteht. Kinderarmut und Diskriminierung im Bildungssystem beeinflussen, wie diese Kinder später als Erwachsene leben können. Die Folgen der Klimaveränderung sind bereits da und treffen die Kinder von heute nicht erst als Erwachsene. Eine Politik, die das Klima schützt, kann nicht erst beginnen, wenn die Schüler*innen von heute alt genug sind, um sich selbst in den Bundestag oder das Europaparlament wählen zu lassen. Sophie Marie Pott findet: »Wenn die Zukunft im Vordergrund der Politik steht, dann ist die Beteiligung junger Menschen die einzig logische Schlussfolgerung.«

Wo Erwachsene politische Ideen nur für die nächsten zehn Jahre konzipieren, verpflichten Kinderrechte Erwachsene dazu, echte Zukunftspolitik zu machen. Gerade weil Menschen, die zum ersten Mal wählen dürfen, sich häufig umfassender informieren als langjährige Wähler*innen, müssten Parteien sich mit einem Kinderwahlrecht ganz besonders bemühen, in ihren Programmen langfristige politische Ziele zu beschreiben und wie diese erreicht werden könnten. Das Kinderwahlrecht würde die politische Arbeit noch anspruchsvoller machen.

Vielleicht haben die Gegner*innen des Kinderwahlrechts mehr Angst davor, der Zukunft so intensiv ins Auge zu sehen, als vor den jungen Wähler*innen. Denn würden alle in Deutschland lebenden Menschen wählen können und alle unter 18 eine »Kinderpartei« wählen, bekäme diese nur etwa 16 Prozent der Stimmen. Die Regierungspartei werden Kinder in der Altersstruktur unseres Landes niemals stellen können. Kinder und Jugendliche müssten sich auch mit vollem aktiven Wahlrecht weiter darauf verlassen, dass Erwachsene sich an ihrer Seite dafür einsetzen, dass sie sich auf ihre Zukunft freuen können.

Es wäre angemessen, dass Kinder endlich mitentscheiden dürfen. Vermutlich würde es die politische Arbeit sogar erleichtern, da Erwachsene nicht mehr angestrengt darüber nachdenken müssten, ob ihre Entscheidungen im Sinne der jüngsten Menschen sind, sondern sie Kinder und Jugendliche zu jeder Zeit fragen könnten. Und besser noch, sie wären von Kindern und Jugendlichen sogar dazu beauftragt. Lore Maria Peschel-Gutzeit schreibt: »Denn nur durch die Ausübung des Wahlrechts können [Kinder] ein politisches Mandat erteilen. Ein Politiker, der heute sagt, er setze sich auch für die Kinder ein, wird dies möglicherweise selbst auch so sehen. Das Mandat hat er aber nicht, er hat es nur von den Menschen ab 18 Jahren.«

Um meinem sechsjährigen Kind die Demokratie zu erklären, habe ich mit ihr gerade das Buch Im Dschungel wird gewählt gelesen. Die Tiere dort wollen die Monarchie abschaffen und demokratisch wählen. Der Löwe, die Schlange, das Faultier und der Affe ziehen in den Wahlkampf, um die anderen Tiere zu überzeugen. Bislang fand meine Tochter Angela Merkel ganz cool, wenn sie sie im Fernsehen sah, aber nachdem sie verstanden hatte, dass Parteien unterschiedliche Positionen vertreten, hat sie genauer nachgefragt, ob Angela Merkel denn »tierlieb« sei. Nachdem ich versucht hatte zu erklären, wie die Parteien es mit Tier- und Umweltschutz handhaben, heißt es bei uns zuhause: »Ich möchte auch mal Bundeskanzlerin werden, denn ich wäre dann tierlieb.« Kinder überspringen einfach die Debatte über das aktive Wahlrecht und möchten direkt selbst kandidieren. Umso besser. Sie packen an. Das Buch war übrigens ein Geschenk vom Opa.