Das Problem: Jugendliche unter 25 Jahren gehen unterdurchschnittlich selten wählen.
Die Lösung: Das »Youth Lead the Change«-Programm in Boston. In keiner anderen Stadt auf der Welt dürfen Jugendliche ab zwölf Jahren über das Stadtbudget mitentscheiden.
Wenn Ruth Georges Klassenzimmer und Jugendzentren in Boston besucht, fühlt sie sich wie das Christkind. »Ich habe eine Million Dollar zu vergeben«, sagt sie dann. »Wer will sie haben?« Daraufhin strecken sich immer mindestens ein Dutzend Hände nach oben, und die Ideen sprudeln: Ein neuer Skateboard-Park wäre schön. Oder bessere Computer in der Schule. Oder Solarpanele auf dem Dach.
Im Gegensatz zum Christkind gibt es Ruth Georges, 37, wirklich, und das Geld, das sie verschenkt, ist kein Spielgeld, sondern es sind echte, grüne Dollar. Jedes Jahr dürfen Kinder und Jugendliche in Boston über eine Million Dollar für Infrastruktur- und Technologieprojekte entscheiden.
Dass sich Bürger an Budgetentscheidungen beteiligen dürfen, gibt es laut dem Guardian in 1500 Städten weltweit, von Brasilien bis Frankreich. Das funktioniert so gut, weil Bürger oft am besten wissen, was vor Ort gebraucht wird. Aber Boston ist die einzige Stadt auf der Welt, die vor fünf Jahren ein solches Programm allein für Jugendliche ab zwölf Jahren aufgestellt hat und diese seitdem über den Haushalt mitentscheiden lässt. Damit ist das »Youth Lead the Change«- Programm international einzigartig. In Deutschland gibt es übrigens auch Bürgerhaushalte, etwa in Freiburg oder Köln, nach einer anfänglichen Euphorie werden sie wegen angeblich geringer Bürgerbeteiligung allerdings immer seltener.
In Boston zeigt sich, dass die aktive Kommunikation entscheidend dafür ist, Menschen für diese Art der Mitbestimmung zu begeistern. Erst werden im Herbst drei Monate lang mit Crowdsourcing Ideen eingesammelt; im vergangenen Jahr waren es 700 Vorschläge, 5000 Kinder haben mitgemacht. Jetzt im Februar arbeitet ein Komitee aus jugendlichen »Change Agents« daran, aus den Ideen fünf realistische Vorschläge zu formen. »Wir suchen nach gemeinsamen Nennern, recherchieren, was es in der Stadt sonst schon gibt oder ob etwas ähnliches geplant ist, und eruieren den Bedarf«, sagt Georges, die das Projekt seit eineinhalb Jahren leitet. Fünf Entwürfe werden im Mai öffentlich zur Wahl gestellt, aber darüber entscheiden dürfen nur Bostoner im Alter von zwölf bis 22 Jahren.
Nur hin und wieder schlägt mal ein Jugendlicher vor, für das ganze Geld Pizza liefern zu lassen
Was alle überrascht hat: Nur hin und wieder schlägt mal ein Jugendlicher vor, für das ganze Geld Pizza liefern zu lassen. Stattdessen haben sich die jungen Menschen bislang unter anderem für behindertengerechte Spielplätze eingesetzt, für eine Graffitiwand, kostenloses Wifi, neue Gehwege im Park, Jobberatung für Jugendliche, mehr Recycling-Container in der ganzen Stadt und vor allem für Maßnahmen gegen den Klimawandel. »In der letzten Runde hatten wir allein drei ernsthafte Vorschläge für Solarenergie«, sagt Georges. »Es ist absolut erstaunlich, wo Schüler Verbesserungsmöglichkeiten identifizieren.« Sie hält das Programm für einen großen Erfolg: »Die Studierenden lernen, wie in einer Stadt Entscheidungen getroffen werden, was alles dazu gehört, und wie sie Gehör finden können. Die meisten wissen das nicht, zum Beispiel: So entsteht ein Park, oder so wird über die Vergabe von Schulmitteln entschieden.« Noch wichtiger aber sei, dass die Schülerinnen und Schüler merkten, dass sie in der Demokratie eine Stimme hätten - und wie sie sich einbringen könnten.
Vikiana Petit-Homme, 17, ist eine afroamerikanische Schülerin, deren Vorschlag vor zwei Jahren gewonnen hat. Ihre Idee: Ein Multimedia-Zentrum, das auch abends und am Wochenende offen hat. »Ein Zentrum, in dem wir fortgeschrittene Technologie nutzen können, die sich die Gegenden mit niedrigem Einkommen nicht leisten können, zum Beispiel 3D-Drucker.« Budget: eine halbe Million Dollar. Nachdem ihr Vorschlag gewonnen hatte, wurde sie Jugenddirektorin, um das Projekt weiter zu begleiten und über alle bürokratischen Hürden zu hieven. Sie beteiligte sich an der Suche nach einem geeigneten Standort, der inzwischen in einem Jugendzentrum gefunden worden ist, redete bei der Ausschreibung und Wahl einer Installationsfirma mit und entscheidet nun gemeinsam mit dem Studentenrat, wie die Räume gestaltet werden sollen und welche Technik angeschafft wird.
»Ich habe die Recherche gemacht, herausgefunden, was es schon gibt und was nicht«, sagt sie. »Mit besonderem Augenmerk auf STEM, also Mathe, Informatik, Naturwissenschaft und Technik, weil das immer wichtig ist.« Für diesen Job, zehn Stunden in der Woche, wird sie von der Stadt bezahlt. Der Stolz strahlt aus ihrem Gesicht: »In meinem Alter arbeite ich schon bei der Stadt und darf bei einem solch aufregenden Projekt mitreden«, sagt sie. Sie empfindet es als gelebte Demokratie in Aktion: »Das gibt es sonst nirgends.«
Außer der Million kostet das Projekt die Stadt drei Teilzeitstellen plus Georges Managerposition; insgesamt beziffert die Stadt die Lohnkosten auf etwa 100.000 Dollar. Doch weil das das Programm so erfolgreich ist, wollen es andere Städte wie Seattle und Chicago jetzt nachmachen.
Tatsächlich ist die Wahlbeteiligung der Jugend in Amerika noch erbärmlicher als in Deutschland. In Deutschland gehen die Über-60-Jährigen überdurchschnittlich oft wählen (mehr als 80 Prozent Wahlbeteiligung), während bei den Unter-25-Jährigen ein Drittel am Wahltag zuhause bleibt (67 Prozent Wahlbeteiligung). Das heißt letztendlich, dass die Jungen die Älteren und Alten über ihre Zukunft entscheiden lassen. In Amerika ist es noch krasser: Insgesamt gehen selbst bei den Präsidentschaftswahlen weniger als zwei Drittel zur Wahl (61 Prozent), aber bei den Unter-29-Jährigen geht nicht einmal jeder Zweite.
Vor diesem Hintergrund ist Ruth Georges besonders stolz darauf, dass ihre »Youth Lead the Change«-Initiative auch bei den echten Wahlen Früchte zeigt. »Wir haben über die letzten Jahre eine Studie durchgeführt und sehen eindeutig, dass die Schüler, die bei uns wählen, dann auch überdurchschnittlich oft bei den richtigen Wahlen wählen.« In diesem Jahr druckt die Stadt die fünf Finalisten sogar auf Wahlzettel, »die fast wie die echten aussehen, und wir werden die Wahlen in Schulen und Wahllokalen durchführen wie etwa Gemeindewahlen auch«.
Viele wüssten ja gar nicht, sagt Vikiana, die Multimedia-Zentrums-Gründerin, dass man in ihrem Alter schon wählen dürfe - »ab zwölf!«. Bei so viel Enthusiasmus drängt sich die Frage auf: Ob sie sich vorstellen könne, mal für die Regierung zu arbeiten? »Nö«, sagt Vikiana ohne zu zögern. »Ich will sie leiten!«