Ist es radikal, Freiheit für alle zu verhandeln?

Deutschland hat die Konservativen abgewählt, sich für Gerechtigkeit, Vielfalt und Freiheit entschieden. Aber trauen sich die Koalitionspartner damit auch ernst zu machen? Unsere Kolumnistin sagt, was sich für Frauen und LGBTIQ jetzt unbedingt ändern muss.

Foto: Paula Winkler

In den Monaten des Wahlkampfes in diesem Sommer hat mich wohl kaum ein Begriff so genervt wie die »Entfesselung«. CDU-Kandidat Armin Laschet musste dieses bombastische Wort in etwa jedem siebten Satz einflechten, ohne dass jemals klar wurde, was damit besser werden würde. Denn die Idee, einen ohnehin entfesselten Kapitalismus noch weiter befreien zu wollen, wirkte inmitten von Corona- und Klimakrise, als sei jemand im Bikini in den Starkregen hinausgegangen, weil er für den Blick aus dem Fenster keine Zeit hatte. Doch die Entfesselung könnte genau jetzt ein guter Begriff sein, den sich Grüne, FDP und SPD, die gerade über ein Regierungsbündnis verhandeln, als Glücksbringer an die Mappen ihrer Beratungspapiere heften sollten. Sie müssen das Selbstverständnis der Ampel-Koalition entfesseln.

Schon der Einstieg in das Sondierungspapier der Ampel liest sich, als habe sich eine selbstverordnete Vorsicht sanft über die Zusammenarbeit gelegt. Zumindest in diesem ersten Sondierungspapier finden sich einige vorsichtige Formulierungen, die offen lassen, wie sehr sich die Ampel-Koalition tatsächlich trauen wird, anders zu sein als ihre Vorgängerin. Denn laut Papier möchte die Ampel eine »stabile und verlässliche Regierung« sein – zwei andere Begriffe, die für die Kampagne der Union zentral waren – und nur wenige Zeilen später versuchen die Verhandlungspartner*innen sich erneut, die Angst konservativer Wähler*innen vor zu viel Veränderung zu lindern: »Wir wollen eine Regierung auch für diejenigen sein, die uns bei dieser Bundestagswahl ihre Stimme nicht gegeben haben.« Glaubt man den eigenen Wähler*innen noch nicht ganz, die Union wirklich abgewählt zu haben? Ein entfesseltes Bündnis hätte stattdessen schreiben können: »Wir wollen Politik machen für diejenigen, die in den vergangenen Jahren zu oft übergangen wurden, sowie für diejenigen, die bei dieser Bundestagswahl nicht abstimmen konnten.« Das wäre eine wichtige Nuance gleich im Einstieg gewesen von den drei Parteien, die immer wieder betonen, auch Politik für jüngere Menschen und für eine Einwanderungsgesellschaft machen zu wollen. Politik für Menschen, die noch nicht wählen können.

Die Ampel hat jetzt die Chance, endlich eine Politik zu machen, die mit dem gesellschaftlichen Wandel Schritt hält. Wenn sie jedoch einen Aufbruch will, muss sie mehr können als das. Die Verantwortung der neuen Regierung ist enorm, unterschiedliche bereits begonnene Krisen aufzufangen und zu managen. Die Klimakrise ist die größte Aufgabe, aber nicht die einzige Krise. Wie sehr der Mangel an hochqualifiziertem Pflegepersonal und auch die reformbedürftige Finanzierung des Rentensystems die Lebensqualität und den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland absehbar beeinflussen werden, ist in der breiten Öffentlichkeit bislang viel zu wenig diskutiert worden. Neben dem Klimaschutz müssten diese beiden Themen zentrale Zukunftsvorhaben einer neuen Regierung sein, da sie ebenso wie das Klima verschlafene Jahre kaum verzeihen. Zudem hängen nachhaltige Konzepte für Klima, Care und Finanzierung der Rente eng miteinander zusammen; ein weiterer Aspekt, den fortschrittliche Politik längst benennen müsste.

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Freiheit ist ohne Gleichberechtigung und Inklusion nicht zu haben

Auch meine Erwartungen an die Ideen der Ampel-Koalition für mehr Gleichberechtigung sind hoch, da eine halbherzige Gesellschaftspolitik den Werten widersprechen würde, für die eine rot-grün-gelbe Regierung in ihrer Gesamtheit steht: Gerechtigkeit, Vielfalt, Freiheit. Es gibt keinerlei sachliche Gründe, in diesem Politikbereich verhalten zu agieren. Die Beteiligung der FDP dürfte für progressive Gesellschaftspolitik kein Hindernis sein, denn Freiheit ist ohne Gleichberechtigung und Inklusion nicht zu haben. Daher müsste eine wirklich liberale Partei prinzipiell alle Vorhaben unterstützen, die mehr Freiheit für bislang diskriminierte Gruppen ermöglichen.

Anders als es der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck vor kurzem in einem Interview sagte, ist der Bereich »gesellschaftliche Liberalität« aber keinesfalls für wenig Geld zu haben. Wie fortschrittlich die Vorhaben der neuen Koalition bei Fragen der Anti-Diskriminierung sein werden, wird sich auch daran messen lassen müssen, wie viel Geld dafür ausgegeben wird und wie und an wen das Geld des Bundeshaushaltes insgesamt verteilt wird. Eine fortschrittliche Gleichstellungspolitik braucht daher zum einen Vorhaben mit hoher Symbol-Kraft, wie es in der Vergangenheit etwa die Ehe für alle oder die Quote für Aufsichtsräte waren, aber zum anderen gleichzeitig eine Umverteilung von Macht und Geld, unter anderem über das Gender-Budgeting und Maßnahmen für faire Löhne.

Zwei wichtige Gesetzesvorhaben, die dem Bereich Gleichstellung und Vielfalt zuzuordnen sind, ist die Einführung eines Selbstbestimmungsgesetz, das das bisherige Transsexuellengesetz ersetzen soll, sowie eine Reform des Abstammungsrechtes, das die Elternrechte von lesbischen und trans Paaren stärkt. Es ist relativ sicher, dass der Koalitionsvertrag der Ampel diese beiden Vorhaben enthalten wird, denn sie sind bereits im Sondierungspapier angekündigt. Der Wegfall von Stiefkindadoptionsverfahren, zu denen lesbische Mütter für eine rechtliche Elternschaft bislang gezwungen sind, und die vereinfachte Personenstandsänderung von trans Personen würden dem Staat letztlich sogar Rechtskosten sparen.

Wünschenswert wäre darüber hinaus eine umfassende Reform des Abstammungsrechts, das die Vielfalt der Familien in Deutschland in der Gegenwart trifft und mitdenkt, dass sie weiter zunehmen wird. Denn Mehrelternschaft, Patchwork- oder Regenbogen-Familien, in denen mehr als zwei Personen in der Praxis die Sorge ausüben, ohne sorgeberechtigt zu sein, sind längst kein Nischenphänomen mehr. Wie fortschrittlich und inklusiv die Ampel über Familie nachdenkt, könnte sich sowohl hier als auch in der Reproduktionsmedizin zeigen. Politik auf der Höhe der Lebensrealitäten zu machen würde nicht nur umfassen, Fruchtbarkeitsbehandlungen endlich für unverheiratete und queere Menschen zu finanzieren, sondern auch für Frauen, die sich bewusst dafür entscheiden, ohne Partner*in ein Kind zu bekommen

Den größten Mut zum Fortschritt wird die Ampel bei einem weiteren Thema der reproduktiven Gerechtigkeit zeigen können: Werden Schwangerschaftsabbrüche endlich Teil der garantierten gesundheitlichen Grundversorgung? Denn so wichtig die Abschaffung von §219a StGB ist, so führt seine Streichung lediglich zu mehr Informationsfreiheit, dürfte die schlechte Versorgungssituation in Deutschland aber kaum verbessern. Ein Gesundheitssystem, das Schwangerschaftsabbrüche weiterhin kriminalisiert und die sexuelle Gesundheit nicht solidarisch finanziert, widerspricht den Werten, die die Parteien der Ampel teilen und verstößt außerdem gegen die UN-Konvention CEDAW.  Eine Politik, die reproduktive Gerechtigkeit ernst nimmt, muss zudem Verhütungsmittel kostenfrei über die Krankenkassen zur Verfügung stellen und die Geburtshilfe und Hebammenversorgung wieder auf das medizinische Niveau eines reichen Landes bringen. Eine fortschrittliche Gesundheitspolitik sollte endlich die 1:1-Betreuung durch Hebammen in Kliniken, die freie Wahl des Geburtsortes durch Absicherung von Geburtshäusern und Hausgeburten sowie die aufsuchende Betreuung im Wochenbett garantieren können.

Emanzipative Politik erzeugt Diskussion und Gegenwehr

Ein weiteres Politikfeld, das deutlich besser finanziert werden muss als bisher, ist der Bereich Gewaltschutz. Deutschland ist es bislang nicht gelungen, die Zahl der Femizide und die Fälle partnerschaftlicher und sexualisierter Gewalt signifikant zu senken. Die Vorgaben der Istanbul-Konvention, ein Menschenrechtsabkommen zur »Verhütung und Bekämpfung« geschlechtsspezifischer Gewalt, sind bislang nicht vollständig umgesetzt. Überfällig ist unter anderem, dass Berufsgruppen im Polizei- und Justizsektor regelmäßig verpflichtend fortgebildet werden, wenn sie mit Menschen zu tun haben, die sexualisierte oder partnerschaftliche Gewalt erfahren haben und ihre Fälle verhandeln. In Deutschland gibt es zudem nach wie vor zu wenige Plätze in Frauenhäuser und von den vorhandenen Schutzunterkünften sind zu wenige auf die Bedürfnisse von Frauen mit Behinderung oder queeren Personen eingestellt. Geflüchteten Frauen werden Plätze in Frauenhäusern oft widerrechtlich vorenthalten.

Die Konvention verlangt zudem einen Paradigmen-Wechsel hin zur Prävention. Denn Gewaltschutz in Deutschland heißt bislang eher, Gewaltbetroffene nach ersten Übergriffen vor weiteren zu schützen, statt zu erreichen, dass geschlechtsspezifische Gewalt gar nicht erst passiert. Politik, die Menschen effektiv vor Gewalt schützen will, muss daher bei den Ursachen ansetzen. Die Istanbul-Konvention sieht unter anderem breite Aufklärungskampagnen vor, die den gesellschaftlichen Rahmen, in dem Gewalt und Machtmissbrauch Alltag sind, endlich verändern. Das schließt ein, dass bereits an Schulen – abgesichert über Lehrpläne – regelmäßig und in allen Klassenstufen über Gewalt aufgeklärt wird und Werte gefördert werden, die die Entstehung von geschlechtsspezifischer Gewalt verhindern. Zu diesem Paradigmen-Wechsel gehört dementsprechend auch, dass wirksame Aufklärung so gut finanziert werden muss, dass sie wirken kann. Ambitioniert aber dennoch nötig wäre der Satz in einem Koalitionspapier: »Wir wollen geschlechtsspezifische Gewalt beenden und werden die dafür notwendigen Maßnahmen entwickeln und umsetzen.« Zu radikal ist das nicht, denn Freiheit und Gleichberechtigung gibt es nicht ohne das Ende dieser Gewalt.

Wird die Ampel-Koalition solche großen Ziele formulieren? Welche Ungerechtigkeiten darf sich ein modernes und reiches Land weiterhin leisten? Und wie lange noch? Wenn die Ampel für ein neues Politikverständnis stehen will, für einen spürbaren Unterschied zur Politik der Großen Koalition, für mehr Gerechtigkeit, Diversität und Freiheit, wird man es im Bereich der Gleichberechtigung an zwei Arten unbequem zu sein erkennen:

Erstens: Gesellschaftliche Teilhabe an Bildung, Kultur, Erwerbsarbeit, Familienzeit und politischer Partizipation gerechter zu verteilen, setzt Konzepte voraus, die eine große Zahl von Menschen einschließen und Gelder neu verteilen. Nicht nur in Haushaltsplänen, sondern zum Beispiel auch darüber, dass Männer mehr unbezahlte Sorgearbeit und Frauen mehr bezahlte berufliche Arbeit übernehmen werden. Wie es gelingen soll, dass Männer in Zukunft mehr Care-Aufgaben übernehmen und sich fair an der Teilzeitarbeit beteiligen oder wie die Alleinerziehenden-Armut und ihre Überlastung reduziert werden soll, hat bislang keine der Ampel-Parteien dargelegt. Die große Leerstelle im Sondierungspapier war zudem, welche Lehren für die Care-Politik aus den Effekten der Corona-Pandemie gezogen werden. Die Neuverteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit leitet über zu Punkt 2:

Emanzipative Politik erzeugt Diskussion und Gegenwehr. Wenn sich unter den gesellschaftspolitischen Vorhaben der Ampel fast ausschließlich solche finden werden, die überwiegend auf Zustimmung treffen und keine davon überraschend ist, dann sind die Ideen zu zahm. In der vergangenen Legislatur gab es lediglich ein Vorhaben des Bundefrauenministeriums, das als besonders unbequem galt: das Führungspositionen-Gesetz. Das aber erfüllt die Voraussetzungen von Punkt 1 nicht: Denn eine Quote für Top-Jobs in der Wirtschaft greift in der Folge nicht auf finanzielle Mittel des Staates zu und ist zudem nur für wenige Menschen unmittelbar relevant. Macht und Geld werden nur unwesentlich neu verteilt

Die Ampel wirbt für sich damit, dass diese neue Konstellation innovative Politik ermöglichen wird. Welche Maßnahmen werden das bei der Gleichberechtigung sein? Ein Teil der Innovation in der Gesellschaftspolitik muss auch darin bestehen, schneller zu werden und hochaltrige Gesetze wie das Ehegattensplitting oder §218 StGB, die andere Länder längst ersetzt haben, aus ihrer Gestrigkeit zu befreien.