»Wir wollen die Hälfte der Macht« – kaum einen anderen Satz verbindet man neben »Mein Bauch gehört mir« so sehr mit der feministischen Bewegung in Deutschland. Die Hälfte der Macht – ist es das, was Frauen wollen? Was genau bedeutet dieser Satz eigentlich? Denke ich gerade an die Frau, die als mächtigste Frau der Welt gilt, kann ich vor allem verstehen, warum sie im nächsten Herbst das Ende ihrer Kanzlerinnenschaft feiert. Ja, ich glaube, dass ihren Abschied feiern wird. Nicht, weil ich Angela Merkel als besonders stolzen Menschen empfinde, der sich auf die Schulter klopfen wird dafür, nicht nur die erste Kanzlerin der Bundesrepublik gewesen zu sein, sondern das auch noch 16 Jahre lang. Ich stelle mir stattdessen vor, dass sie aufatmen wird, nicht länger Kanzlerin sein zu müssen, mühsame Runden mit eitlen Männern der Vergangenheit angehören und sie in ein Leben jenseits der Macht wechseln kann. Merkel wird 2021, nach der nächsten Bundestagswahl, 67 Jahre als sein. Ein Jahr älter als Friedrich Merz, der in einem Alter, in dem andere Menschen in Rente gehen, noch einmal die Macht spüren will.
Ich habe als Feministin ein ambivalentes Verhältnis zu Angela Merkels Wirken, weil ich zum einen anerkenne, dass die Sichtbarkeit einer Frau als »Chefin von Deutschland« – so habe ich meiner fünfjährigen Tochter erklärt, was sie macht – eine gesellschaftliche Wirkung gehabt hat. Das Vorhandensein einer Kanzlerin hat nicht alle strukturellen Hürden für Frauen in Politik und Beruf ausgeräumt, aber in jedem Fall den Vorstellungsraum vieler Menschen vergrößert. Meine Tochter hat tatsächlich gefragt, ob das, was Angela Merkel beruflich tut, auch Männer machen können. »Und Mittes können das auch?« Seitdem wir ein Kinderbuch über Intersexualität gelesen haben, nennt sie meistens die drei Geschlechter, die sie kennt – die dritte Option nennt sie »Mitte« –, und korrigiert mich, wenn ich lediglich von Frauen und Männern spreche. Die Machtfrage muss man längst anders formulieren. Mit weißen Frauen neben weißen Männern ist es nicht getan. Vielleicht ist das Denken jenseits der geschlechtlichen Binarität tatsächlich einfacher geworden, weil Frauen sich heute selbstverständlicher in sichtbaren öffentlichen Ämtern bewegen: Wir können fragen, wer dann noch fehlt. Dennoch ist es nicht auf die politische Arbeit von Angela Merkel zurückzuführen, dass die deutsche Gesellschaft offener geworden ist, Lesben und Schwule von mehr Menschen akzeptiert werden und Rechte hinzubekommen haben, dass mehr trans Menschen öffentlich über ihre Identität sprechen können oder auch kontroverse feministische Positionen wieder vermehrt öffentlich debattiert werden. Als CDU-Politikerin waren und sind das anscheinend keine Themen, die Angela Merkel wichtig findet. Hätte eine Kanzlerin einer anderen Partei mehr für die Gleichberechtigung erreicht? Ich bin mir nicht sicher.
Die britische Politikwissenschaftlerin Anne Phillips unterscheidet die »deskriptive Repräsentation« von Frauen, bei der sie als Akteurinnen sichtbar werden, von der »substanziellen Repräsentation«, bei der Interessen angesprochen werden, die grob als Interessen von Frauen definiert sind. Ich halte diese Unterscheidung für immens wichtig, da erst die Gegenüberstellung dieser beiden Formen von Repräsentation zeigt, an welcher Stelle des Diskurses wir uns in Deutschland immer wieder verfangen. Die deskriptive Repräsentation ist für weiße Frauen in Deutschland mittlerweile weniger wichtig, während die Wahl von Kamala Harris zur Vizepräsidentin in den USA dort in den nächsten Jahren für alle Frauen und Mädchen, aber ganz besonders für Schwarze Frauen einen Unterschied bedeuten wird. Zwar wird auch in den aktuellen Forderungen, in Deutschland das Gesetz für Führungspositionen endlich auszudehnen, immer wieder auf die Funktion von sichtbaren Vorbildern verwiesen, damit Mädchen und Frauen sich Karrierewege vorstellen können, doch nach vielen Jahrzehnten feministischer Debatte kann allein die deskriptive Repräsentation nicht das Ziel sein. Erst recht keine radikale Forderung. Der neue Gesetzentwurf sieht eine Quote für Dax-Unternehmen und den öffentlichen Dienst vor – längst nicht für alle Führungspositionen in deutschen Organisationen.
Das fehlende politische Vermächtnis von Angela Merkel für die Gleichberechtigung von Frauen ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass die deskriptive Repräsentation viel zu wenig ist, wenn es um feministische Fortschritte geht. Die substanzielle Repräsentation hingegen können sogar alle Menschen ausfüllen. Es wäre kein Problem, wenn die Repräsentation einer vielfältigen Gesellschaft in Parlamenten oder in Organisationen wie zum Beispiel Redaktionen nicht gelänge – wenn die dort tätigen Personen in der Lage wären, die Interessen von Menschen, die anders sind als sie, substanziell zu vertreten. Insbesondere die Forderungen von Minderheiten können nur dann realisiert werden, wenn andere ebenso für ihre Anliegen eintreten und sich solidarisieren. Wenn Frauen und andere unterrepräsentierte Gruppen jedoch vor allem die deskriptive Repräsentation erreichen, erlangen sie auf diesem Weg etwas anderes als das, was Feminist*innen mit der »Hälfte der Macht« meinen. Feminist*innen wollen die Macht verändern, vielleicht sogar hinter sich lassen.
In den Begründungen für eine Geschlechterquote in Wirtschaft und Politik werden die deskriptive und substanzielle Repräsentation oft gleichgesetzt. Das Argument: Wenn erst Frauen in Spitzenpositionen gelangen würden, könnten sie von dort aus für mehr Gleichberechtigung auf allen Ebenen sorgen. Das kann aber nur gelingen, wenn diese Frauen genau das – eine substanzielle Veränderung – als ihren Auftrag verstehen. Es ist beinahe tragikomisch, dass die Forderung nach deskriptiver Repräsentation von Frauen hier den Fehler der »freiwilligen Selbstverpflichtung« wiederholt, auf die sich die Politik zunächst mit der Wirtschaft verständigt hatte, um mehr Frauen in Führungspositionen zu bringen. Denn die Frauen, die nach einer Quotenregelung mehr Macht bekommen werden, haben sich maximal freiwillig selbstverpflichtet, marginalisierte Menschen substanziell zu repräsentieren.
Ich halte für sehr wahrscheinlich, dass die Bilanz von mehr Frauen in Führungspositionen, wenn wir sie in zehn oder zwanzig Jahren betrachten, ähnlich wie die Gleichberechtigungsbilanz nach 16 Jahren Merkel ausfallen könnte. Mager. Ich lasse mich gern überraschen und gestehe mir dann ein, was für einen Quatsch ich damals geschrieben habe – und dass es die neu hinzugekommenen Spitzenfrauen waren, die unsere Wirtschaft umgebaut haben und den Niedriglohnsektor abschafften und dass die Luft endlich sauber wurde.
Vielleicht sehnen sich diejenigen, die sich mehr Vielfalt in Entscheidungspositionen wünschen, aber auch nach einer anderen Art der Macht – nicht nur nach mehr Frauen
Natürlich ist die Quote gerecht, und eine gesetzliche Regelung ist richtig, sogar überfällig. Genau wie ein Paritätsgesetz. In Artikel 3 des Grundgesetzes steht: »Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.« Der Staat hat ganz schön getrödelt und ist immer noch zaghaft. Der Fehler, der die Idee einer Geschlechterquote als feministische Idee schwächt, ist, dass andere konkrete politische Ziele ihr nachgeordnet sind und in der aktuellen Debatte um die Quote nicht einmal genannt werden. Es ist völlig unklar, was mehr Frauen in Führungspositionen erreichen sollen. Was sie erreichen will, entscheidet jede Frau, die durch die Quote Zugang zu einer Position bekommen wird, für sich allein. Das ist ihr Recht, diese Freiheit soll sie haben. Doch nur weil eine Frau etwas tut und entscheidet, handelt sie noch lange nicht feministisch, noch lange nicht im Sinne einer substanziellen Repräsentation.
Neben den politischen Zielen nach der Quote fehlt eine Diskussion darüber, wie sich das Verständnis von Macht verändern müsste, wenn mehr Vielfalt in Führungsgremien tatsächlich Ergebnisse produzieren soll, die mehr Inklusion, mehr Gerechtigkeit bedeuten. Beides, sowohl die Wirkungskette von Quote auf andere Gleichberechtigungserfolge sowie die kulturelle Veränderung in Organisationen, werden als Automatismen angenommen. Dabei wird das Tempo überschätzt, mit dem Veränderungen durch mehr Frauen in Führungsteams möglicherweise ablaufen, sofern sie es überhaupt tun. Denn Frauen üben ihre Macht nicht notwendigerweise auf andere Art aus als Männer. Vielleicht sehnen sich diejenigen, die sich mehr Vielfalt in Entscheidungspositionen wünschen, aber auch nach einer anderen Art der Macht – nicht nur nach mehr Frauen.
Einige feministische Theoretiker*innen glauben, dass Institutionen, die von Männern gegründet und von ihnen geführt wurden, gar nicht auf eine Art und Weise reformierbar seien, als dass sie von unterschiedlichen Menschen gleichberechtigt gestaltet werden könnten. Weil die Strukturen schon viel zu feststehen. Die Philosophin Diana Sartori spricht vom Phänomen der »inklusiven Exklusion«, die Frauen ein Mitwirken an Politik ermögliche, sie jedoch gleichzeitig weiter kulturell ausschließe und eine tatsächlich gleichberechtigte Teilhabe unmöglich mache. Übertragen auf Wirtschaft und Politik bedeutet dies, dass diejenigen, die als Abweichung zu den bisherigen Akteur*innen hinzukommen, sich auf eine Art anpassen müssen, die es ihnen schwer bis unmöglich macht, das zu erreichen, was sie ursprünglich angestrebt haben. Sie müssen ihren bisherigen Habitus ablegen und den Menschen, denen sie nun gleichgestellt sind, ähnlicher werden, um akzeptiert zu sein. Um aufzusteigen, damit werben Coaches, die Frauen auf Führungspositionen vorbereiten, müssten die Machtspiele der Männer verstanden werden. Damit eine neue Person in einem kulturell geprägten Gremium zurechtzukommt, ist es in der Regel sie, die sich verändert, und nicht ihr Umfeld. Um überhaupt in Frage zu kommen, müssen Person, die in ihrer deskriptiven Repräsentation von anderen Menschen in einem Team abweichen, in ihrem Habitus möglichst nah an den bereits agierenden Personen sein.
Die Frauenquote ist daher ein Instrument, um Frauen, die sich in ihren Eigenschaften und Werten möglichst wenig von den bereits vorhandenen Männern unterscheiden, in Spitzenpositionen zu bringen. In ihrer Wirkung auf tatsächliche Vielfalt ist sie damit sehr begrenzt. Ähnlich ergeht es Menschen of Colour, wenn sie in vornehmlich weißen Belegschaften beginnen zu arbeiten. Kira Page, eine Expertin für inklusive Organisationsentwicklung, beschreibt in diesem Artikel den typischen Weg einer Frau of Colour nach ihrer Neuanstellung, die nach einer »Honeymoon-Phase«, in der sie sich unter ihren weißen Kolleg*innen wohlfühlt, auf strukturelle Barrieren und rassistische Mikroaggressionen trifft, sie diese Probleme der Unternehmenskultur anspricht und schließlich aus dem Unternehmen herausgedrängt und die Schuld dafür bei ihr gesehen wird. Dieser typische Verlauf, den die Berichte vieler Menschen of Colour stützen, erinnert an das Phänomen der Vorstandsfrauen, von denen viele nach ihrer Berufung eine auffällig kurze Verweildauer in ihrem neuen Posten haben. Sich so sehr verändern, wie es von ihnen verlangt wurde, konnten oder wollten sie nicht.
Die italienische Philosophinnengruppe Diotima vertritt in ihrer Publikation »Macht und Politik sind nicht dasselbe« daher die Auffassung, dass Institutionen, die es schaffen wollen, die Interessen der Geschlechter gleichberechtigt zu verhandeln, neu geschaffen werden müssen statt von innen verändert: Macht kaputt, was euch nicht annimmt, und baut es neu auf. Für die gegenwärtige Situation ist das natürlich eine unbefriedigende Antwort, da die Absage an ein Engagement in bestehenden Institutionen zunächst keinen Weg aufzeigt, wie die Veränderungen, die zum Beispiel Feminist*innen erreichen wollen, dann realisiert werden können, wenn nicht über einflussreiche Positionen in der Politik oder in der Wirtschaft. Ohne Feminist*innen, die ihren Weg durch die Institutionen gegangen wären, stünde Deutschland in den globalen Rankings zur Gleichberechtigung noch weiter abgeschlagen da. Beim europäischen Gender Equality Index ist Deutschland derzeit auf Platz 13.
Bevor neue Institutionen gegründet werden, die den bisherigen in ihrem Gerechtigkeitsanspruch überlegen sein können, müssen zunächst die Fragen geklärt werden, welche Art der Machtausübung und welches Verständnis von Politik und Zusammenarbeit diesen Institutionen zugrundeliegen soll. Luisa Muraro, eine Diotima-Philosophin, ist der Auffassung, dass »die unter Frauen weit verbreitete Abneigung gegen eine Politik im Sinne von Wettbewerb um die Macht keine Ablehnung der Politik, sondern im Gegenteil ein Verlangen nach Politik« darstelle. Dieser Blick auf Politik und Macht lässt sich auf die Wirtschaft übertragen, denn auch dort erfolgen Entscheidungen entlang von Politik und Macht. Folgt man Muraros These, ist der niedrige Frauenanteil in deutschen Parteien also nicht mit politischem Desinteresse zu erklären, sondern mit der Ablehnung der Art, wie dort Politik verstanden wird. Es bedeutet einen Unterschied, Politik machen zu wollen oder Macht haben zu wollen. Wer Politik machen möchte, kann sogar auf Macht verzichten, da die Eigenheiten des Aufbaus und Erhalts von Macht politischer Arbeit immer wieder im Weg stehen.
Man sieht das gerade an der Pandemie-Politik und den Verhandlungen der Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsident*innen der Bundesländer, die anders verlaufen würden, ginge es nicht immer wieder auch um die Demonstration von Macht. Man sieht es an der Bundesfamilienministerin Franziska Giffey, die in den Pandemie-Monaten keine streitbaren Ideen präsentiert hat, um Familien oder Frauen mehr zu unterstützen – was mit dem Wissen, dass sie Bürgermeisterin in Berlin werden möchte und sich daher als moderate Politikerin positionieren muss, sehr plausibel erscheint. Sie will nicht anecken und darüber gefährden, dass sie die mächtige Position der Berliner Landespolitik besetzen kann. Das Thema der Geschlechterquote hingegen kann Giffey aktuell gefahrlos besetzen, da die Quote keine radikale Forderung mehr ist und die Frauen, die sie unterstützen und von ihr profitieren würden, aus allen politischen Lagern stammen. Wissen Sie, warum der bayerische Ministerpräsident Markus Söder seit Kurzem die Quote unterstützt? Weil er verstanden hat, dass sie gar nicht so gefährlich ist, wie in manchen Männerzirkeln noch angenommen wird. Alle Männer, die noch dagegen sind, sind also so richtige Waschlappen.
Ein anderes Beispiel dafür, wie Macht der Politik ein Bein stellen kann, erzählt der Journalist Torsten Körner in seinem Buch »In der Männer-Republik – Wie Frauen die Politik eroberten«, als er beschreibt, wie Angela Merkel als Bundesfrauenministerin nach der Wiedervereinigung mit der Neuregelung des Paragrafen 218 umging. Merkel nahm damals eine mittlere Position zwischen der liberalen Fristenlösung der DDR und der strengeren Indikationsregelung der Bundesregierung ein und enthielt sich schließlich in Absprache mit Helmut Kohl, dem damaligen Kanzler, bei der Abstimmung. »Sie hat durch ihr Agieren und Abstimmungsverhalten viele ein bisschen, aber den mächtigsten Mann nicht zu sehr verprellt«, so analysiert Körner Merkels Entscheidung. Merkel entschied sich in der Abtreibungsfrage gegen eine Politik, über die sie Frauen substanziell repräsentiert hätte, und für die Aussicht auf mehr Macht.
Eine politische Praxis, die durchzogen ist von Machtfragen jenseits der Sachfragen, über die entschieden wird, bringt also in vielen Fällen schlechtere Lösungen hervor als solche, die möglich wären, würde man diese vorrangig an den Menschen orientieren, die sie konkret betreffen. Denn weder für Helmut Kohl noch für andere Männer, die damals in der Union als mächtig galten, ist die Entscheidung, welche gesetzlichen Regelungen für Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland gelten, je relevant gewesen. Wenn also, wie hier, politische Entscheidungen sich auf Machtfragen reduzieren, verlieren sie ihren politischen Kern. Zur Frage des Ehegattensplittings hat man beispielsweise aus den Reihen der SPD in den vergangenen Jahren immer wieder gehört, eine Reform und schließlich die Abschaffung könne kein Thema für einen Bundestagswahlkampf werden, da diese Positionierung zu viele Wähler*innenstimmen kosten könne und der damit einhergehende Machtverlust es noch einmal schwieriger machen würde, sozialdemokratische Politik umzusetzen. Eine Alternative zu dieser Angst hätte jedoch sein können, dass die SPD sich fragt, wie sie möglichst viele Menschen von der Notwendigkeit einer Reform überzeugt und schließlich die Unterstützung hat, diese auch umzusetzen. Macht ist auch immer von der Angst vor dem Machtverlust begleitet. Politik sollte aber nicht von Angst geleitet sein.
Ein feministisches Ziel könnte daher sein, mehr Politik zu fordern, mehr Mitbestimmung zu ermöglichen, statt Macht zu wollen. Diese Art der Politik kann überall stattfinden, in Nachbarschaften, Unternehmen, Interessengruppen, nicht nur in Parlamenten. Das könnte der Einbezug von Kindern an Schulen sein, wirklich mitzuentscheiden, was und wie sie lernen. Rotierende Führungspersonen in Teams, die projektbezogen die Leitung übernehmen, oder die Umkehr von Jahresgesprächen, in denen Mitarbeiter*innen ihren Vorgesetzten Feedback geben und mit ihnen Ziele vereinbaren. Mal auf die Leisen zu hören oder die Menschen, die in einer Organisation in der Minderheit sind, nach ihrer Vision zu fragen und diese ernst zu nehmen. Hartz-IV-Empfänger*innen fragen, wie viel Geld sie brauchen würden, um würdevoll leben zu können. Wer Macht hat, sollte sie nutzen für Rollenwechsel, um immer mal wieder aus der Distanz zu erfahren, was Macht macht. Das wäre Mut.
Denn, so schreiben es Chiara Zamboni und Luisa Muraro im Vorwort von »Macht und Politik sind nicht dasselbe«: »Wenn man sich ein Problem zu Herzen nimmt, wenn man den Impuls verspürt, aus dem Privatinteresse herauszutreten und sich mit anderen zusammenzutun, und wenn dies Leidenschaft und Reaktionen weckt, dann findet Politik statt.« Das, was sie als Politik definieren, stellt gemeinschaftliches Handeln ins Zentrum der Politik, nicht die Ausübung von Macht, sodass alle an den politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen Fragen, die sie betreffen, partizipieren können. In dem 2019 erschienenen Manifest »Feminism for the 99%« schreiben Cinzia Arruzza, Tithi Bhattacharya und Nancy Fraser: »Wir haben kein Interesse daran, die gläserne Decke zu durchbrechen, während die überwältigende Mehrheit die Scherben aufsammeln muss. Wir sind weit davon entfernt, weibliche CEOs feiern zu wollen, die Eckbüros haben. Wir wollen CEOs und Eckbüros loswerden.«
Mehr Macht für Einzelne zu wollen, ergibt aus feministischer Perspektive keinen Sinn. Die Macht selbst muss zersplittert werden, nicht die Trennwand zu ihr – bis sie die Macht nicht mehr erkennbar ist, ihr Besitz unbedeutend. »Die Hälfte der Macht« bedeutet Macht für alle, nicht Macht hälftig verteilt auf wenige Frauen und Männer. Einen Splitter für jede*n.