»Ich habe mich oft geschämt«

Maria Furtwängler und Ursula von der Leyen: Die Fernsehkommissarin und die Ministerin verbindet nicht nur der erlernte Beruf (beide sind Ärztin), sie teilen auch ein Schicksal - die Demenz ihrer Väter. Ein Gespräch über den langen Abschied.

SZ-Magazin: Frau von der Leyen, Frau Furtwängler, Sie kennen sich schon länger. Sind Sie auch befreundet?
Ursula von der Leyen:
Ich würde sagen, es ist mehr als kennen. Wir sind befreundet.
Maria Furtwängler: Einverstanden, Ursula. Wir haben uns ziemlich genau vor zwei Jahren bei der DLD Women kennengelernt, einer Technologie- und Innovationskonferenz mit weiblicher Perspektive, die ich als Chairwoman auch diesen Juli leite, und ich war selig, als eine Zusage kam. Und dann musstest du kurzfristig absagen.
Von der Leyen: O Gott!
Furtwängler: Zum Glück gelang es mir, dich zu überreden, doch zu kommen, und ich war so hingerissen von dir.
Von der Leyen: Und irgendwie war von Anfang an viel Verbindendes zwischen uns. Bei der letzten Konferenz haben wir festgestellt, dass wir beide ein Thema haben, das uns besonders verbindet, die Demenz unserer Väter. Wir haben vor den Zuhörern darüber gesprochen, und es war ein bewegender Moment, denn plötzlich stand die Konferenz still.
Furtwängler: Und du hattest mir den Gerontologieprofessor Andreas Kruse aus Heidelberg empfohlen. Und ich bin sehr dankbar, denn mit dem, was er gesagt hat, hat er den Umgang mit meinem Vater nachhaltig verändert.

Was hat er Ihnen gesagt?
Furtwängler: Im Grunde eine Kleinigkeit: Bis dahin habe ich meinen Vater immer beobachtet und beurteilt, mich oft geschämt, dass der eigene Vater so vertrottelt und sich so verändert. Immer denkt man: Mein Gott, das kann er jetzt auch nicht mehr. Professor Kruse hat mir gezeigt, dass ich die Perspektive ändern muss: Nicht mehr beobachten und bewerten, sondern beobachten, was kommt, wenn ich mich öffne, und sehen, was eigentlich noch da ist. Klingt lächerlich klein, aber für mich war das epochal. Ich habe plötzlich den Reichtum all dessen wahrnehmen können, was noch da ist – und es ist unendlich viel da.

Haben Sie das ähnlich erlebt, Frau von der Leyen?
Von der Leyen: Mir ist besonders die Zeit in Erinnerung, bevor die Diagnose gestellt wurde. Mein Vater hatte ja noch öffentliche Auftritte und man fragte sich oft: Was redet er da? Und die Leute rutschen auf ihrem Stuhl rum, aber sie sagen sich, er ist der ehemalige niedersächsische Ministerpräsident, er darf das. Und er hält dann auch eine schöne, warme Rede, wenn auch nicht ganz am Thema. Nur ich kannte ihn ja gut und fühlte mich deswegen sehr unwohl. Die Scham und das anfängliche Bemühen, alles zu kaschieren, hat es nur noch schlimmer gemacht. Für ihn und mich, weil ich ihn zurückhalten wollte und er auf sein Recht zu sprechen pochte; und für unsere Umgebung, die peinlich berührt war. Erst nachdem ich offen den Alzheimer angesprochen habe, entspannte es sich. Die Menschen hatten Verständnis und mein Vater konnte wieder völlig unkompliziert an allem teilnehmen.

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Er selbst hat nichts gemerkt?
Von der Leyen: Zu einem späteren Zeitpunkt hat er gemerkt, dass er Probleme hat mit Namen und Orten. Ich weiß noch, wie wir zusammen im Auto saßen und nach Braunschweig fuhren. Da sagte er: »Ich war beim Arzt. Ich habe Alzheimer.« Und es hat mir, obwohl ich gut ausgebildete Ärztin bin, den Boden unter den Füßen weggerissen, weil in mir sofort der Film ablief vom schrecklich desorientierten, verwirrten, aggressiven, alten Menschen. Und von diesem Moment an habe ich wahrscheinlich das Gleiche gemacht wie du, Maria, ihn nämlich permanent beobachtet: Wird es nun schlimmer? Vergisst er mehr? Jetzt sind acht Jahre vergangen, er ist nie aggressiv geworden, und die Krankheit schreitet ganz, ganz langsam voran.

Wie ist Ihr Vater mit der Diagnose umgegangen?
Von der Leyen: Ich glaube, für ihn war das genauso entsetzlich wie für mich, denn natürlich hat er sofort alles darüber gelesen. Dann hatte er eine tieftraurige Phase. Er sprach darüber, dass man sein Leben selber beenden könnte – obwohl er sehr im Glauben verankert ist. In dieser Zeit hatten wir unendlich Angst, dass er sich etwas antut. Eines Tages sagte er dann: »Ich habe keinen Alzheimer, mir geht es ausgezeichnet. Das Einzige, was ich nicht mehr kann, sind die Namen der Tiere und der Orte.« Inzwischen ist das Verständnis für das Wort Alzheimer völlig verschwunden. Die Krankheit ist darüber weggeglitten und hat ihm das Entsetzen genommen.
Furtwängler: Mein Vater dagegen neigte ohnehin zu Jähzorn, und das ist zu Beginn der Krankheit schlimmer geworden, weil er gemerkt hat, bestimmte Dinge gehen nicht mehr. Ganz großes Thema war das Autofahren.
Von der Leyen: Oh ja, das gab es bei uns auch.
Furtwängler: Da geht es um den Verlust von Autonomie. Und das Autofahren war für ihn immer ganz wichtig, jederzeit überallhin zu können. Und zwar sauseschnell.
Von der Leyen: Menschen aus unserem Ort riefen mich an und sagten: Er ist mir gestern in die Stoßstange gefahren und war ganz verwirrt. Dann habe ich etwas versucht, was wohl alle Angehörigen versuchen, nämlich an seine Vernunft zu appellieren, dass er nicht mehr fahren könne. Aber da bin ich einfach aufgelaufen. Er hat immer gesagt, das lasse er nicht zu, dass ich mich da reinmische.
Furtwängler: Mein Vater wollte bei der Polizei anrufen und den Führerschein einfach noch mal machen.
Von der Leyen: Eines Tages sagte mir jemand beim TÜV, »ab einem bestimmten Punkt müssen Sie den Schlüssel verstecken, sonst kommt noch jemand zu Schaden. Sie sind schon jetzt verantwortlich«. Diesem Rat bin ich irgendwann gefolgt. Es gab fürchterliche Auseinandersetzungen über Wochen.

Können Sie uns bitte den Unterschied zwischen Alzheimer und Demenz erklären?
Furtwängler: Demenz ist der Oberbegriff. Es gibt verschiedenste Demenzformen, die teilweise den Namen des Hirnareals tragen, das sie betreffen. Mein Vater litt zum Beispiel an frontotemporaler Demenz.
Von der Leyen: Dein Vater konnte Orte, Namen und Zusammenhänge noch lange zuordnen.
Furtwängler: Ja, aber körperlich ging vieles nicht mehr. Mein Vater war ein sehr reinlicher Mensch. Plötzlich war es ganz schwierig, ihn unter die Dusche oder zur Zahnbürste zu bringen. Beim Alzheimer dagegen bleibt die Fassade lange erhalten. Die Patienten achten noch sehr lange auf ihr Aussehen.
Von der Leyen: Ja, mein Vater hatte immer seinen Hut auf, wenn er rausgegangen ist. Was die Demenz bei meinem Vater im Anfangsstadium mit sich brachte, war, dass er ohne Arg zu Fremden wie guten Bekannten gleichermaßen offen war, immer seine Kontonummer herausgab, immer alles unterschrieb.
Furtwängler: Das war ganz schlimm. Mein Vater war vollkommenes Opfer von diesen Glücksspielen am Telefon. Dazu kamen jeden Tag ungelogen mindestens 20 Briefe: Herr Bernhard Furtwängler, ich gratuliere Ihnen, Sie haben soeben eine Million Euro gewonnen. Sie müssen nur noch 20 Euro Bearbeitungsgebühr bezahlen.
Von der Leyen: Einer der Briefe hat mich regelrecht rasend gemacht vor Wut: Sehr geehrter Herr Dr. Albrecht, gratuliere, Sie haben gewonnen, Sie müssen nur noch 50 Euro Bearbeitungsgebühr überweisen. Unterschrieben mit: Ihr Fritz Einfalt. Furtwängler: Ja, Einfalt, den hatte ich auch mal.

»Ich habe lange gebraucht, bis ich für mich akzeptieren konnte, dass mein Vater noch viel empfindet.«

URSULA VON DER LEYEN
Sieben Kinder, drei Ministerposten (Familienministerin in Niedersachsen, Bundesfamilienministerin und Ministerin für Arbeit und Soziales in Berlin), zwei Studien (Volkswirtschaft, abgebrochen, Medizin), eine Ehe. Ärztin. Gilt als populärste Ministerin der Regierung Merkel. Sie spricht leise, lacht viel, handelt schnell. Zog 2007 mit ihrer Familie in das Haus ihres alzheimerkranken Vaters, des ehemaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht.

Haben Ihre Väter auch Geld überwiesen?
Furtwängler:
Ach, natürlich!
Von der Leyen: Solange mein Vater offiziell noch geschäftsfähig war, ist leider viel Geld in obskure Kanäle geflossen.
Furtwängler: Aber auch für nette Sachen. Er war beim Vogelbund und beim Sowieso-Bund.
Von der Leyen: Und an alte Indianer in Amerika hat er Geld überwiesen. Anstrengend ist ja diese Zwischenphase. Kranke sind für die Außenwelt noch geschäftsfähig, aber ihre Familien müssen ständig auf der Hut sein und dennoch darf das nicht in Dauerkontrolle ausarten. Man will den lieben Menschen ja nicht abschotten, andererseits macht man sich große Sorgen, denn man ist ja verantwortlich.
Furtwängler: Mein Vater hat auch viel Geld verliehen.
Von der Leyen: Was unendlich wichtig ist: sich zu informieren, was andere erleben. Ich habe gelernt: die Scham ist in Ordnung, die Wut ist in Ordnung, auch, dass der Alzheimer-Kranke Glück, Freude, solche Gefühle innerlich natürlich noch hat, und wenn es gelingt, diese Momente der konzentrierten Zuwendung zu finden, dann tut es einem selber gut.
Furtwängler: Und der Kranke fühlt sich gehört, aber nicht beurteilt, und muss nicht mehr kämpfen, um ernst genommen zu werden.
Von der Leyen: Ich habe lange gebraucht, bis ich für mich akzeptieren konnte, dass mein Vater noch viel empfindet. Ich wusste genau, wann er traurig ist. Ich wusste genau, wenn er glücklich ist, singt er.
Furtwängler: Als du sagtest, dass dein Vater so gern singt, dachte ich, das ist doch auch für meinen der Weg. Und ich fing an, tatsächlich mit meinem Vater wieder zu singen, zweistimmig, wie »Sepp bleib do, Du woaßt ja ned, wia’s Wetter wird«, er die Terz drunter. Und bis zu seinem Sterben war das Singen mit ihm das für ihn seligmachendste überhaupt.

Man sagt, Regelmäßigkeiten seien wichtig bei Demenzkranken. Ist das auch Ihre Erfahrung?
Von der Leyen: Ja, Rituale sind enorm wichtig. Bei uns das Ziegen- und Hühnerfüttern. Die Ziegen lieben ihn über alles, die springen ihm hinterher, weil sie wissen, dass sie immer Zwieback von ihm kriegen.

Weiß er noch, wer Sie sind?
Von der Leyen: Manchmal weiß er es genau, manchmal nicht. Und manchmal fragt er, wann die Eltern nach Hause kommen, damit meint er meinen Mann Heiko und mich. Was für mich eigentlich am traurigsten im Augenblick ist: Ich bin 54 Jahre alt. 53 Jahre war ich für meinen Vater: »Röschen«, Röschen Albrecht. Aber Röschen gibt es nicht mehr, Röschen ist weg. Er fragt nur noch »Wann kommt Ursula nach Hause?« Und dann sag ich: »Ich bin doch hier.« Ich denke, er nennt mich jetzt Ursula, weil die Frauen, die ihn tagsüber betreuen, nur von Ursula sprechen. Am schwersten war es für mich, mit der eigenen Ambivalenz fertigzuwerden. Ich habe meinen Vater über alles geliebt und ich liebe ihn immer noch, aber anders. Die Übergangsphase ist ganz schlimm gewesen. Ein anderer wichtiger Punkt: Einerseits will ich das nie am eigenen Leib erleben, andererseits muss ich sagen, er in seiner kleinen Welt ist glücklich. Meine Mutter ist 2002 gestorben. Und ich glaube, wenn er keinen Alzheimer bekommen hätte, würde er immer noch sehr, sehr um sie trauern, weil er sie über alles geliebt hat. Und die Trauer war am Anfang auch erdrückend, aber je weiter der Alzheimer fortschreitet, desto weniger trauert er. Er sagt immer, dass er sich freut, wenn er tot ist und dann seine Frau wiedersieht. Und deshalb denke ich, wir dürfen nicht urteilen, was gut ist für ihn und was schlecht.

Ihr Vater, Frau Furtwängler, ist Ende letzten Jahres gestorben. Wie war das für Sie?
Furtwängler: Ich hatte wirklich das Glück, meinen Vater in dieser späten Phase noch mal neu zu entdecken, weil er plötzlich Sätze sagen konnte wie: »Maria, wie lieb, dass du jetzt mit mir Schach gespielt hast.« Dass sich mein Vater für irgendwas bedankt hätte, das kannte ich gar nicht. Er war milder und herzlicher geworden. Und dann ist er sehr schnell an einer Lungenentzündung gestorben. Wenige Wochen zuvor hatte er sich wieder die Hüfte gebrochen, wir haben noch Weihnachten zusammen gefeiert, aber da hatte ich schon das Gefühl, dass er den Lebensmut verloren hatte. Dann ging alles sehr schnell: Ich war gerade in die Schweiz gefahren, als der Anruf kam. Kurz nach Mitternacht war ich wieder zu Hause. Diese letzte Stunde mit meinem Vater war sehr wichtig für mich und ich bin froh, dass ich bei ihm sein konnte – und dass mein Vater zu Hause war und ganz bewusst gegangen ist, ganz wach und klar.

Verstehen Sie, wenn Angehörige manchmal denken, es wäre eine Erleichterung, wenn ein Demenzkranker stirbt?
Furtwängler: Unbedingt. Ich glaube, jedes Gefühl ist da erlaubt.
Von der Leyen: Die Alzheimer-Krankheit heißt ja nicht umsonst eine Angehörigenkrankheit. Es ist unglaublich anstrengend, wenn man sieben Tage die Woche 24 Stunden mit einem Alzheimer-Kranken verbringt.
Furtwängler: Mein Vater schlief nachts nicht. Die arme Pflegerin! Ich selbst habe nebenan kuschelig geschlafen. Er ist nachts fünfmal aufgestanden und da
musste man immer hinterher, weil er schlecht stehen und gehen konnte.

Haben Sie dieses unendliche Wiederholen erlebt, diese immer gleichen Sätze, die Demenzkranke sprechen?
Von der Leyen:
Oh ja. Nicht nur die immer gleichen Sätze. Sondern, wenn man ein Thema anspricht wie »Den Hühnerstall müssen wir abschließen, damit der Fuchs nicht wieder die Hühner frisst«, dann geht das über Stunden und Stunden und Stunden, dass er immer wieder kommt und sagt: »Die Hühner müssen gefüttert werden.«
Furtwängler: Bei uns waren das die Hunde. Dass die ein paar Mal zu oft gefüttert wurden, das war okay. Aber das wurde immer mehr. Mein Vater hat das Essen vom Teller geradezu runtergeschoben. Die Hunde warteten schon unter dem Tisch. Dieses Diskutieren, dass er das lassen soll! Und kaum schaute man weg, zack, war schon wieder was unten.
Von der Leyen: Darum ist es auch so wichtig, dass die Angehörigen Luft bekommen, dass man die Last zwischendurch auf mehrere Schultern verteilen kann. Dann entdeckt man die guten Momente, man wird geduldiger. Jetzt kommt zum Beispiel eine Frau einmal in der Woche zu uns, die früher viel mit meinen Eltern zu tun hatte, und schenkt meinem Vater einen Nachmittag Zeit. Sie spielt mit ihm Puzzle, geht mit ihm im Garten spazieren. Und diese Hilfe für zwei bis drei Stunden entlastet alle unglaublich.
Furtwängler: Es gibt auch Einrichtungen, zu denen man die Kranken einen Nachmittag geben kann, dort wird mit ihnen gesungen oder spazieren gegangen. Wichtig ist nur, dass sie abends wieder nach Hause kommen. Man muss die Informationen für Angehörige verbessern, sie müssen wissen, welche Möglichkeiten gibt es, dass dieser geliebte Mensch daheim bleiben kann, ohne dass die Angehörigen vor die Hunde gehen.
Von der Leyen: Die Frauen, die sich im Augenblick um meinen Vater kümmern, gehen oft zur Alzheimer-Gesellschaft, die es inzwischen überall gibt. Dort lernen sie, was genau abläuft, wann es einen Schub gab, oder dass man in der Tiefe schlummernde Gefühle hervorholen kann, indem man alte Fotos anschaut oder alte Gegenstände.

»Wenn jemand sagt, ich kann das nicht mehr, dann ist das ernst zu nehmen.«

MARIA FURTWÄNGLER
Eine wie sie hieß früher Sonntagskind. In eine berühmte Familie geboren: ihre Mutter, Kathrin Ackermann, Schauspielerin, ihr Großonkel der berühmte Dirigent Wilhelm Furtwängler, sie selbst Ärztin und erfolgreiche Schauspielerin - ihre Tatort-Kommissarin Charlotte Lindholm hat zuverlässig hohe Einschaltquoten -, verheiratet mit dem Verleger Hubert Burda. Hat viele Ehrenämter inne und ist auch 2013 wieder Schirmherrin der DLD Women, einer Digital-konferenz für Frauen am 15. und 16. Juli in München.

Hat Ihr Vater professionelle Pflege?
Von der Leyen: Ja, wir haben Hilfe. Jetzt kommt er aber langsam in die Phase, wo wir auch nachts jemanden für ihn brauchen. Meist schläft er, aber oft tigert er auch durchs Haus. Ich weiß nicht, wie man jemanden findet, der nachts da schläft, bereit ist, auch aufzustehen, aber morgens wieder geht.
Furtwängler: Wir hatten dieses System »Hausengel«, die kommen für vier bis acht Wochen, sind meistens Polinnen, und nach acht Wochen kommt die nächste. Es ist zwar nicht so teuer, dennoch muss man es sich leisten können.

Hören Sie das manchmal: Ja Sie, Sie können sich so was ja leisten?
Von der Leyen: Ja. Und das stimmt ja auch, und nicht nur in finanzieller Hinsicht. Wir sind außerdem in einer unglaublich privilegierten Situation, weil wir zu Hause fast zehn Menschen sind, die sich abwechselnd kümmern können. Die Zukunft unseres Umgangs mit dem Thema Demenz wird wohl so aussehen, dass man die Pflege dreiteilt: die Angehörigen zum einen, zum anderen die professionelle Pflege, die morgens und abends kommt, sehr hilfreich ist, aber eben nur kurz kommt, vielleicht auch eine Tagespflege, dazu Menschen, die ehrenamtlich unterstützen.

Verstehen Sie denn, wenn Menschen sagen, ich schaffe das nicht mehr, ich gebe meinen Vater, meine Mutter in ein Heim?
Von der Leyen: Ich kann es gut verstehen. Es ist doch besser, sie treffen die schmerzhafte Entscheidung, als dass es zu einer Katastrophe zu Hause kommt. Wenn jemand sagt, ich kann das nicht mehr, dann ist das ernst zu nehmen.
Furtwängler: Also, wenn ich mir überlege, wie das gewesen wäre, hätte ich mir keine Pflegerin leisten können? Hätte ich das geschafft? Völlig undenkbar. Das hätte einen so radikalen Umbau des Lebens und Verzicht auf so vieles bedeutet. Aber wenn man es irgendwie kann, wenn es mit Hilfe von Tageseinrichtungen oder Ähnlichem machbar ist, ist es, denke ich, sehr lohnenswert. Ich glaube, dass viele, inklusive ich selbst, viel zu wenig wissen, was geht und was nicht.
Von der Leyen: Das geht mir auch so, obwohl ich bestens vernetzt bin.

Ihnen als Bundesministerin für Soziales?
Von der Leyen: Ich weiß natürlich, dass es Pflegestufen gibt, aber wie kommen die Pflegestufen zu uns ins Haus? Ich habe bei Kollegen nachgefragt, jemand kam von der Krankenkasse. Und dann habe ich das erlebt, was, glaube ich, alle Angehörigen von Alzheimer-Patienten erleben, das Fassadenverhalten. Am Tag, an dem der Arzt kommt, sitzt mein Vater da, er fragt: »Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten, wohnen Sie auch hier, geht es Ihnen gut?« Gott sei Dank war das ein erfahrener Arzt.

Immerhin sind Sie selbst beide Ärztinnen und dadurch im Vergleich mit vielen anderen Angehörigen im Vorteil. Hatten Sie immer das Gefühl, Sie wissen, was Sie tun?
Von der Leyen:
Ich wusste nicht, was ich tue. Bis ich den Alzheimer erlebt habe, war das für mich eine schreckliche Diagnose. Dann fängt man an zu lesen. Das macht es überhaupt nicht besser. Ich habe dankenswerter Weise einen Kollegen gefunden, der ein erfahrener Alzheimer-Arzt ist. Und es gibt die Deutsche Alzheimer-Gesellschaft. Von beiden habe ich viel gelernt. Mir schreiben Angehörige, dass unser öffentliches Sprechen über die Krankheit ihnen hilft, das Tabu in ihrem eigenen Umfeld zu überwinden.
Furtwängler: Am Anfang sitzt man mit dem Vater in einer Neurologie und hört sich an, was man machen könnte. Es werden einem Cholinesterasehemmer empfohlen, etwas, um das Gedächtnis wieder anzutreiben, man versucht Verschiedenes. Aber nach meiner Erfahrung war alles ein Schuss in den Ofen.
Von der Leyen: Medizinisch kann man nichts tun im Moment, so weit ich die Landschaft überblicke. Wenn man das einmal verstanden hat, kann das auch entlasten. Dann ist man nicht in diesem »Wir müssen das behandeln«-Verhalten drin, sondern kann sich auf die Situation einlassen, sie hinnehmen. Das ist so wichtig, gerade für die Angehörigen: Haben Sie keine Angst, Sie können nichts falsch machen. Irgendwann wird das Leben zu Ende sein. Man muss es seinen Gang gehen lassen und sich darauf konzentrieren, was noch möglich ist. Und das ist trotz der traurigen Perspektive eine ganze Menge.

Haben Sie Ihre Väter noch nach Dingen gefragt, die Ihnen wichtig waren, bevor sie sie vergessen?
Furtwängler:
Ich wünschte, ich hätte viel mehr aufgeschrieben, vieles habe ich selber schon vergessen.
Von der Leyen: Vor zwei, drei Jahren kam das Thema Gorleben wieder hoch. Und da dachte ich, ich frag meinen Vater mal, wie war das damals? Da guckt er mich an und sagt: »Gorleben – liegt das in Europa?« Da wusste ich: Du kannst ihn nie wieder fragen zu solchen Ereignissen. Ich Idiot, hätten wir doch früher mehr geredet.
Furtwängler: Ab dem Alter von 80 werden 30 Prozent dement.
Von der Leyen: Du immer mit deinen Zahlen!
Furtwängler: Mit 100 über die Hälfte.

Hatten Sie manchmal Angst, dass Sie den Respekt verlieren?
Furtwängler: Das sind diese ambivalenten Gefühle, von denen Ursula sprach. Ich habe das bei meiner Großmutter erlebt, die ich tief bewundert habe. Wenn dann die Demenz beginnt, ist man beleidigt, dass einem dieser Mensch dieses schöne Bild zerstört – in diesem Fall von einer großartigen, starken Frau. Die Kunst ist es, den Schalter umzulegen, ein neues Bild zuzulassen – das eines kranken, aber dennoch am Leben noch Freude habenden, geliebten Menschen.
Von der Leyen: Gerade für intellektuelle Menschen ist es schwer zu lernen, dass dieses »Cogito ergo sum«, »Ich denke, also bin ich«, zwar stimmt, aber dass das viel zu wenig ist. Die Würde und Größe eines Menschen setzen sich aus ganz anderen Dingen zusammen. Was du geschildert hast über deine Großmutter, dieses anfangs beleidigt sein, das ist richtig. Und trotzdem würde ich sagen, es hat mir geholfen, ganz erwachsen zu werden.
Furtwängler: Das ging mir ähnlich.
Von der Leyen: Den Vater zu überwinden und mich abzunabeln, indem ich aus der kindlichen Bewunderung gegenüber diesem beindruckenden Vater in eine Haltung gewechselt bin, die einfach nur akzeptiert, dass er ist, wie er ist.

Frau Furtwängler, Sie haben mal erzählt, dass Sie Ihrem Vater Schwimmflügel gekauft haben. Weil er noch schwimmen wollte, aber nicht mehr konnte?
Furtwängler: Für meinen Vater war das Morgenbad im See eine Notwendigkeit. Und er wollte um jeden Preis einen Kopfsprung machen. Wenn er dann sprang, dachtest du, der taucht überhaupt nicht mehr auf. Da fing man an, ihm das zu verbieten. Aber ich habe gemerkt, man nimmt ihm gleichzeitig so viel weg. Erst wollte er die Schwimmflügel nicht anziehen. Ich sagte dann: »Papa, dann kannst du doch wieder reinspringen.« Irgendwann hatte ich ihn so weit. Dann stand er auf dem Sprungbrett. Und wusste nicht mehr, was er dort machen soll. Bis ich ihn reingeschoben habe. Ich bin natürlich sofort hinterhergesprungen. Da war dieser Moment zwischen Glück und Empörung. Irgendwie war er selig, irgendwie war es aber auch nicht in Ordnung. Der Moment hat mich zu Tränen gerührt.

Hat Sie die Zeit mit Ihrem kranken Vater verändert, Frau Furtwängler?
Furtwängler: Ganz bestimmt. Ich bin sicherlich mir gegenüber in vielen Dingen geduldiger geworden, ich muss nicht mehr so vieles machen, und ich muss schon gar nicht mehr so vieles perfekt machen.
Von der Leyen: Für mich ist eine Erkenntnis: Man muss früh genug anfangen, sich seine Bindungen in nächster Umgebung aufzubauen, wissend, dass man zum Schluss auf diese ganz kleine Gemeinschaft angewiesen ist. Ich glaube auch, dass wir, wenn wir mal älter sind, unseren Zeitreichtum denen geben sollten, die noch älter sind als wir. Damit können wir die Generation, die nachwächst, entlasten. Und darauf hoffen, dass irgendwann auch uns jemand Zeit schenkt, der gar nicht mit uns verwandt sein muss.
Furtwängler: Für deine unzähligen Kinder, die miterleben, wie die Mutter und der Vater das alles mitmachen, wird das doch selbstverständlich sein.
Von der Leyen: Für mich sind die Lebensthemen ein wichtiger Punkt und die Frage, welche Verhaltensmuster bleiben im Alter und bei Krankheit? Bei meinem Vater war es vor allem eine Grundfreundlichkeit und die Erfahrung vom Krieg und dem heilenden Europa. Er sagt immer noch oft: »Ihr braucht nie wieder einen Krieg zu haben, weil wir ja Europa haben.« Ich frage mich häufig, in der Fülle der Themen, die mein Leben bewegen, was bleibt bei mir?
Furtwängler: (lacht) Die Quote, Ursula, bestimmt die Frauenquote.

Und bei Ihnen, Frau Furtwängler?
Furtwängler: Hm. Vielleicht: die Quote? Also, die Einschaltquote?