Seitdem die Pandemie im März Deutschland erfasste, frage ich mich, wie ich mich an die Zeit erinnern werde: als das chaotische Corona-Jahr, als Leben mit Unsicherheit und Einschränkungen, mit Enge und Einsamkeit, oder als das Jahr, in dem ich mein zweites Kind bekam. Als ein Jahr voller Glück, Nähe und Babyglucksen, ein Jahr des Neuanfangens, der Dankbarkeit und mit dem Wissen, dass dieser neu geborene Mensch viel weiter in die Zukunft reicht als ich? Wird es ein Jahr von vielen gewesen sein, dessen Details verschwimmen, oder eines, an dessen Momente ich mich sehr genau erinnern werde?
»Was ist schon ein Jahr?«, das war mein erster Gedanke über all das, was in diesem Jahr ausfallen würde. Ich wunderte mich vor allem über die Eltern von Kindern, die um ein verlorenes Schuljahr fürchteten. Ein einziges Jahr im Leben von Kindern, von denen so manche älter als 100 werden. Ein Bruchteil ihres Lebens. Doch ein Jahr kann vieles sein. Wer sich einmal einige Monate lang aus seinem bisherigen Alltag herausgenommen hat, ein Jahr im Ausland verbracht hat, ein Jahr lang krank war, ein Jahr in Elternzeit, ein Jahr ohne Erwerbsarbeit, nimmt plötzlich war, wie kurz und wie lang solch ein Zeitraum gleichzeitig sein kann. Während man sich selbst in einer neuen Umgebung oder mit einer neuen Aufgabe stark verändern kann und neue Perspektiven entwickelt, kehrt man zurück in die eigene alte Welt, die nach zwölf Monaten oft kaum verändert erscheint. Viele Erwachsene wählen so eine Auszeit, weil sie sich von diesem Abstand zu ihren bisherigen Lebensmustern versprechen, danach besser zu wissen, an welchem Punkt und mit welchen Zielen sie ihr Leben fortsetzen wollen. Und auch wenn die Corona-Pandemie eine eher abrupte und unfreiwillige Pause vom alten Alltag war, hat diese Zeit bei vielen Menschen Ideen darüber geweckt, was sie auch in Zukunft anders machen wollen, was ihnen wichtig ist und was nicht. Der Unterschied zu Kindern und Jugendlichen ist: Als Erwachsene haben wir deutlich mehr Spielraum, über ein »Nach der Pandemie« nachzudenken, und häufiger erlebt, dass sich das Leben ordnen wird, gute Wendungen kommen und trübe Phasen irgendwann enden.
Für junge Menschen steht die Zeit auf andere Weise still. Ihr Leben formt sich noch, die Zukunft ist offener und der Bezug zu ihr verletzlicher, da junge Menschen weniger Zeit hinter sich liegen haben, auf die sie zurückschauen und deren abgeschlossene Erfahrungen auch nach vorn Sicherheit geben. Zudem sind Kinder und Jugendliche deutlich stärker abhängig davon, auf welche Art unsere Gesellschaft ihr Leben für sie vorstrukturiert hat. Für die meisten sehr jungen Menschen ist das ihre Schullaufbahn, die ihnen lange Zeit vorschreibt, wie sie ihre Tage, Wochen und Jahre verbringen. So eine Struktur kann einengen, aber sie gibt, selbst wenn sie nicht angenehm ist, auch immer Halt. Wenn junge Menschen denken, dieses Jahr sollte für sie ein entscheidendes sein, zum Beispiel weil sie sich beruflich orientieren sollen, dann reicht es nicht, dass Erwachsene, so wie ich, schreiben oder ihnen sagen, dass nach diesem Jahr noch viele kommen werden, die wichtig sind, und das Sich-Orientieren eine fortlaufende Aufgabe bleibt. Ein Gefühl für die Zeit zu entwickeln, so ein Jahr in Relation zu setzen, braucht ebenfalls das: Zeit.
Gerade weil sich so viele Menschen gerade beschränken und an neue Regeln halten, brauchen wir mit Sicherheit keine Regeln dafür, welche zerplatzten Pläne es waren, über die jemand traurig sein darf.
Was ist schon ein Jahr? Ob das Jahr bedeutsam war, können Menschen erst in der Rückschau feststellen. Niemand kann mit Sicherheit sagen, ob Schüler*innen, die auf ihr Auslandsjahr verzichten müssen, etwas verpasst haben werden. Vielleicht. Vielleicht nicht. Auf das Jahr, das ich von 16 bis 17 in den USA verbracht habe, hätte ich rückblickend ungern verzichtet. Denn ich wollte unbedingt weg aus einer Schule, in der ich mich nicht wohlfühlte, ich wollte mehr Freiheit, Unabhängigkeit von meiner Familie, und habe nichts so sehr herbeigesehnt wie die Zeit in Kalifornien. In den Monaten an der Highschool und in meiner Gastfamilie habe ich so viele wohltuende, bestärkende Erfahrungen gesammelt, die weit über dieses Jahr hinausgereicht und mich getröstet haben, als ich die letzten zwei Schuljahre in Deutschland immer noch schrecklich fand. Das war ein wichtiges Jahr. Das war außerdem viel Glück. Denn immer wieder haben Austauschschüler*innen Pech mit der Umgebung, die sie aufnimmt, kommen aus unterschiedlichen Gründen nicht zurecht und sind unglücklich, brechen das Jahr ab, halten es aus und hatten kein gutes Jahr. Es kann sein, dass wir etwas sehr stark wollen und glauben, eine gute Entscheidung zu treffen, die sich später als Enttäuschung entpuppt. Wir können vorher nicht wissen, was wichtig ist und was gut.
Daher ist eine Enttäuschung darüber angemessen, dass etwas lang Geplantes, Gewünschtes sich in diesem ersten Jahr der Corona-Pandemie nicht erfüllen wird. Dafür ist nicht entscheidend, was letztlich passiert wäre, oder ob die Vorfreude sich auf ein Privileg wie die Chance auf ein Auslandsjahr bezieht, einen Abschlussball oder ein Praktikum. Wollen wir uns in dieser blöden Pandemie wirklich unsere Gefühle absprechen? Gerade weil sich so viele Menschen gerade beschränken und an neue Regeln halten, brauchen wir mit Sicherheit keine Regeln dafür, welche zerplatzten Pläne es waren, über die jemand traurig sein darf. Es sind Erinnerungen, Erfahrungen, die fehlen werden, auch wenn es andere Erinnerungen und Erfahrungen geben wird, deren Bedeutung und ob und wie sie uns prägen wir erst später verstehen können.
In der gerade veröffentlichen Jugend-Studie der TUI-Stiftung heißt es, »dass beim Ausgehen, beim ›sich ausprobieren‹ und im Austausch mit Freundinnen und Freunden wichtige soziale Kompetenzen erworben werden, die dann zur Emanzipation vom Elternhaus hin zur Entwicklung einer stabilen Persönlichkeit führen«. Auch Spaß zu haben ist systemrelevant. Für junge Menschen besonders, aber auch für alle anderen. Die Corona-Pandemie ist kein Wettbewerb, wer sich am besten zusammenreißen kann, bescheiden lebt und Träume demütig auf später schiebt. Die Erkenntnis, wie grundlegend es ist, Zeit mit anderen Menschen zu verbringen und sich hinaus in die Welt zu wagen und in ungewisse Erfahrungen, sollte vor allem Verständnis dafür schaffen, dass es weh tun kann, wenn diese Möglichkeiten gerade wegfallen und wie wichtig es ist, dass für junge Menschen die Zeit eben nicht auf eigenartige Art einfriert, sondern sie trotz Einschränkungen Räume bekommen und sich darauf verlassen können, dass sie irgendwann später einige Dinge nachholen können – und nicht die Erwartung an sie ist, nach der Pandemie plötzlich erwachsen zu sein.
Ein Schuljahr in einem kleinen Radius, ein Schuljahr vorm Laptop statt im Klassenraum, mit wenigen Umarmungen, Partys, ohne den erhofften ersten Kuss und ohne Abschiedsritual nach der letzten Klasse muss niemand schönreden, zumal für Erwachsene nur noch schwierig nachvollziehbar ist, welche Ereignisse im Leben von Kindern und Jugendlichen von diesen als wirklich wichtig empfunden werden. Vielleicht erinnern Erwachsene sich auch nicht daran, wie viel intensiver sich sowohl positive als auch negative Stimmungen für Jugendliche anfühlen. Natürlich verschmerzt ein Kind eine abgesagte Feier und einen Sommer ohne Zeltlager, doch wenn über viele Monate hinweg ein Kind oder Teenager immer wieder zu spüren bekommt, seine Bedürfnisse seien verzichtbar, vermessen und Traurigkeit unangebracht, dann geht es um mehr als einen Geburtstag ohne Gäste. Was verändert ein Jahr, in dem man nicht wichtig war?
Was verändert ein Jahr, in dem man als Kind eine Belastung war? Aber viel wichtiger: Wie kann in den kommenden Monaten verhindert werden, dass Kinder sich als Belastung empfinden, sobald Kitagruppen oder Schulklassen in Quarantäne gehen müssen oder wieder schließen und dann ihre Eltern Betreuung, Homeschooling und Erwerbsarbeit parallel organisieren sollen? »Ich streike jetzt«, diesen Satz habe ich in den vergangenen Monaten häufig von anderen Eltern gehört, denen das Begleiten beim Lernen nicht möglich war oder zu viel wurde, die dieser zweite Job immer mehr erschöpfte, die merkten, dass ihre Kinder im Homeschooling oder der Isolation nicht zurechtkamen und etwas anderes brauchten als auch noch den Druck zu lernen. Aktuell kommt die Angst vor Corona-Infektionen hinzu, da Schulen nun wieder geöffnet haben, es bislang jedoch keine überzeugenden Hygiene-Konzepte gibt, die sowohl Kinder als auch Erwachsene dort möglichst gut vor einer Übertragung des Virus schützen. Eine Lösung, wie Unterricht umfassend, sicher und vereinbar mit dem Alltag und den Kompetenzen von Eltern organisiert werden kann, ist derzeit nicht in Sicht. Könnte man daher das Schuljahr nicht ausfallen lassen, um zum einen gesundheitliche Risiken zu minimieren und zum anderen den Lerndruck auf Schüler*innen und ihre Eltern zu reduzieren? Macht es einen Unterschied aus, ob jemand den Schulabschluss ein Jahr früher oder später machen wird?
Als Schülerin wäre ich gerade verwirrt: Bei den Fridays-for-Futures-Protesten sorgten sich Erwachsene darum, Freitage ohne Schule würden den Jungen die Chancen auf die beste Bildung nehmen. Doch plötzlich soll es verschmerzbar sein, wenn deutlich mehr Unterricht ausfällt als an einem einzelnen Wochentag. In mehreren Bundesländern wurden als Pandemie-Ausnahme alle Schüler*innen in die nächste Jahrgangsstufe versetzt, der Umgang mit Noten war plötzlich lockerer. Aus dieser Handhabe könnte man schließen, dass ein einziges Schuljahr nicht wichtig ist. Eine entspannte Haltung, die Leistungsdruck ablöst und vermitteln will: Es geht schon irgendwie weiter. Das, was Schüler*innen im Homeschooling lernen, reicht auch. Auf der anderen Seite teilte der Lehrerverband mit, dass trotz Lernen unter Pandemie-Bedingungen die Bildung- und Leistungsstandards nicht gesenkt werden dürften. Doch diese Haltung kommt einer Steigerung der Anforderungen gleich, da Schüler*innen mit weniger Unterricht, mit Umstellungen und zugleich zusätzlichen Belastungen gleich schwierige Prüfungen ablegen sollten. Das klingt schon eher wieder typisch preußisch als entspannt.
Der Rang von Bildung für Kinder und Jugendliche war schon vor der Pandemie widersprüchlich, und die Schulen sind einer der vielen Bereiche, deren Schwachstellen durch die Effekte der Pandemie noch einmal hervorgehoben wurden. Die fehlende Digitalisierung ist ein Aspekt, ein weiterer die unterschiedlichen Bildungschancen von jungen Menschen abhängig von ihrer sozialen Herkunft, die das deutsche Schulsystem nach wie vor nicht schafft anzugleichen. Die Zeit des Homeschoolings in der ersten Jahreshälfte, davon ist auszugehen, hat die Schüler*innen, die schon zuvor beim Lernen benachteiligt und diskriminiert worden waren, noch ein Stück weiter zurückgeworfen. Denn für gutes Lernen zuhause sind noch einmal mehr, wenn es statt vollem digitalem Unterricht nur ausgedruckte Arbeitsblätter gibt, Eltern oder andere anwesende Erwachsene entscheidend.
Könnte ein Jahr lang gar nicht zu lernen eine Idee sein, um die Unterschiede in den Lernerfolgen nicht noch mehr zu vergrößern? Die Bildungspolitik in Kenia ist diesen Schritt gegangen: Kenia cancelte das Schuljahr. Das Land hat im Frühjahr entschieden, zum Schutz vor der Pandemie alle Schulen bis mindestens Ende des Jahres zu schließen. Da der Zugang zu digitalen Geräten für Unterricht in dem ostafrikanischen Staat für Schüler*innen stark unterschiedlich ist, sollte das Streichen des ganzen Schuljahres verhindern, dass Kinder und Jugendliche ohne digitale Zugänge benachteiligt werden. Alle Schüler*innen sollen nun die Klasse, in der sie zu Beginn des Jahres waren, noch einmal machen. Das neue Schuljahr startet in Kenia im Januar. Doch Bildungsexpert*innen dort warnen, dass ein kompletter Unterrichtsausfall das Gegenteil von dem erreichen könnte, was intendiert war, da ein Teil der Schüler*innen andere Lernmöglichkeiten nutzen kann, während andere dies nicht können oder auch nach den Schließungen nicht wieder zur Schule zurückkehren werden. Das gilt auch für andere Länder. Ein ausgefallenes Schuljahr wird sehr wahrscheinlich den Bildungsweg und die Berufschancen eines Kindes beeinflussen. Denn ein ausgefallenes Schuljahr bedeutet eben nicht, dass alle Kinder in eine Lernpause gehen, aus der heraus es irgendwann problemlos weiterläuft. Lernen braucht Kontinuität, sonst gehen gerade erworbene Fähigkeiten wie Lesen und Schreiben auch wieder verloren, wie Boris Hermann in dieser Reportage beschreibt.
Je mehr Bildung in die Familien verlagert wird, desto stärker werden Kinder zurückfallen, die in ihrem familiären Umfeld wenig Unterstützung bekommen und denen digitale Geräte und Zugänge fehlen. Hinzu kommt Gewalt in Familien gegenüber Kindern, bei deren Aufdeckung und Verhinderung Schulen und Kitas eine wichtige Rolle spielen. Auch deswegen ist es momentan so wichtig, Schulen und Kitas so lange und so umfassend wie möglich offenzuhalten sowie den Infektionsschutz zu priorisieren. Denn viele Eltern sorgen sich vor Ansteckungen und würden, auch wenn es für sie anstrengend wird, gern zum Homeschooling zurückkehren. Auch das ist ein berechtigtes Anliegen.
Einer der wichtigsten Aufträge für die Bildungspolitik lautet nicht erst seit Corona, endlich Konzepte umzusetzen, mit denen Kinder und Jugendliche unabhängig von ihrer Familiensituation gleichberechtigt gut lernen können. Bildung, die auf den Schultern der Eltern aufbaut, ist keine gerechte Bildung. Doch die drohende Verschärfung der ungleichen Bildungschancen trifft selbst jetzt in der Politik auf Mauern. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft kritisierte die Kulturminister*innen kürzlich unter anderem dafür, dass ein »Festhalten an normierten Leistungserwartungen und Leistungsbewertungen (…) signalisiert, dass sie die Strukturen der Benachteiligung nicht in Frage stellen«. Denn Schulen müssten in der Pandemie nicht nur mit Unterrichtsplattformen und -methoden experimentieren, sondern auch die Inhalte und Erwartungen an die Schüler*innen ändern, flexibel und kreativ mit einer Ausnahmesituation umgehen, in der sich die Lernsituation so grundlegend verändert hat, dass es absurd erscheint, nicht auch anzupassen, was, wie und wie viel in diesem Jahr gelernt werden soll. Schon die Anpassung an die Pandemie, die Kinder und Jugendliche leisten, ist für sich genommen ein Lernerfolg, neues Wissen und Persönlichkeitsentwicklung, die bleiben wird. Allein dafür sollten sie, sobald der Impfstoff da ist, als Zeichen der Anerkennung eine Corona-Abschlussfeier bekommen. Da es vor allem sie betrifft, sollte man zuerst die Schüler*innen fragen, wie und was sie im nächsten Jahr lernen möchten und wie inklusive Bildung gelingen kann.
Doch aus Sicht der Bundesschülerkonferenz und des Deutschen Kinderhilfswerks funktioniert die Beteiligung von Schüler*innen an politischen Lösungen in der Pandemie noch schlechter als vorher. Laut der Jugend-Studie der TUI-Stiftung hat sich der Eindruck junger Menschen verstärkt, dass Politiker*innen eher die Interessen der älteren Generationen berücksichtigen. 48 Prozent der jungen Deutschen zwischen 16 und 26 Jahren teilen die Ansicht, weniger wichtig zu sein, 27 Prozent empfinden die Interessenvertretung für die unterschiedlichen Altersgruppen als ausgeglichen. Es wäre mit Sicherheit ein gewonnenes Jahr, wenn es eines würde, in dem die jungen Menschen mehr Macht darüber bekommen, wie sie in Zukunft lernen wollen und was sie brauchen für einen guten Bildungsweg. Ein weiteres Jahr, in dem in der Bildungspolitik nichts Grundlegendes für inklusiven und chancengerechten Unterricht passiert, ist wie ein gecanceltes Jahr – obwohl es stattgefunden hat.