Ist es radikal, nur noch vier Tage pro Woche zu arbeiten?

Befürworter*innen argumentieren gerne mit höherer Produktivität. Dabei sollten wir die Vier-Tage-Woche längst mit Vorteilen begründen, die sich nicht aus der Arbeitswelt schöpfen – denn nur die haben die Kraft, unterschiedliche Berufsgruppen zu vereinen.

Foto: Paula Winkler

»Mehr Zeit zum Leben, Lieben, Lachen« hieß das Motto des Streiks, bei dem westdeutsche IG-Metall-Beschäftigte 1984 fast sieben Wochen lang ihre Arbeit niederlegten, um die 35-Stunden-Woche zu erkämpfen. Die Arbeitszeitverkürzung sollte in einer Zeit der zunehmenden Automatisierung Arbeitsplätze erhalten, indem Arbeit umverteilt wird, aber daneben auch den Arbeiter*innen mehr Freiräume in ihrem Leben jenseits der Werke gewähren. »Einfach mehr Freizeit mit den Kindern, damit man sie auch mehr sieht, wie sie aufwachsen, mit ihnen mehr teilt«, so beschreibt die Metallerin Agneza Bojkovic, deren Zwillinge im Mai 1984 zehn Monate alt waren, ein Ziel des Streiks in einer zurückblickenden Dokumentation.

Als arbeitgebende Unternehmen versuchten, ein Ende des Streiks zu erzwingen, indem sie auch nicht-streikende Beschäftige aus Werken aussperrten und ihnen Lohn vorenthielten, versammelten sich auf einer Großdemo in Bonn 250.000 Menschen, die auf der kurzen Arbeitszeit beharrten. Am Ende gewannen die Beschäftigten: Der Streik bewirkte den Einstieg in die Arbeitszeitverkürzung. Die Wochenarbeitszeit sank zunächst auf 38,5 Stunden und ermöglichte flexiblere Arbeitszeiten. Danach sank sie schrittweise bis 1995 auf 35 Stunden.

Vergleicht man den Streik-Slogan und die Protestplakate mit dem aktuellen Diskurs über die Vier-Tage-Woche, wirkt das Jahr 1984 wie ein Aufblitzen einer Utopie mitsamt einer modernen, weicheren Männlichkeit, die im gegenwärtigen Krisenklima verlacht würde. Auf den Demonstrationsplakaten der damaligen IG-Metaller*innen – der Frauenanteil unter ihnen war gering –, ging eine lachende Sonne über einer 35 auf, die eine Illustration aus einem Kinderbuch sein könnte. Die Videos, die aus dieser Zeit existieren, zeigen viele ausgelassene Szenen und fröhlich singende Streikende.

Und heute? Im Juni 2022 schlägt Michael Hüther, Direktor des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), vor, die Wochenarbeitszeit in Vollzeitjobs auf 42 Stunden zu heben, um die Rentenwelle der Babyboomer aufzufangen. Auch der Finanzminister Christian Lindner sieht keinen Spielraum für mehr Zeit für die Liebe und hält »mehr Überstunden, um unseren Wohlstand zu sichern« für das Szenario, auf das Arbeitnehmer*innen sich einstellen sollten. Steffen Kampeter, Chef der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, fordert im Februar 2023, als der mediale Diskurs über die Vier-Tage-Woche nicht abbrechen will, »mehr Bock auf Arbeit«. Arbeit sei »kein Ponyhof«, findet Andrea Nahles, Chefin der Bundesarbeitsagentur, und ist dabei nur eine von vielen Stimmen mit politischem Gewicht, die mehr Anstrengung einfordern, statt von mehr Freizeit zu träumen.

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Arbeitszeit ist widerspenstig und leider schlecht vergleichbar

Die Argumentation für eine Arbeitszeitverkürzung fällt heute dementsprechend kühler aus, gewappnet mit Berechnungen und Studienergebnissen. Effizientere Arbeit, nicht fröhliche Stunden, stehen im Fokus. Aus den zahlreichen internationalen Modellprojekten zur Vier-Tage-Woche, die in den vergangenen Jahren durchgeführt wurden, wird besonders hervorgehoben, dass die Produktivität der Beschäftigten gleichblieb oder sogar stieg, sie seltener krank wurden und ihre Kündigungsbereitschaft abnahm – im Fachkräftemangel ein Wettbewerbsvorteil für Unternehmen. Auch die SPD-Chefin Saskia Esken, die zum 1. Mai 2023 die Forderung nach einer Arbeitszeitverkürzung bei Lohnausgleich befürwortet, unterstreicht, Beschäftigte würden dann »effektiver arbeiten«.

Progressive Argumentationen verweisen zudem auf das Potenzial, durch weniger Arbeitswege und Produktion Emissionen zu sparen, oder auf die Chance, unbezahlte Sorgearbeit zwischen Frauen und Männern gerechter zu verteilen. Expert*innen, die sich mit New Work beschäftigen, etwa die Autorin Sara Weber, erhoffen sich von der Vier-Tage-Woche zudem optimierte Arbeitsprozesse in Unternehmen, die beispielsweise überflüssige Meetings und häufige Unterbrechungen reduzieren. Die Vier-Tage-Woche »zwingt uns dazu, ganz genau darüber nachzudenken, wie wir unsere Zeit verbringen«, schreibt Weber in ihrem Bestseller Die Welt geht unter, und ich muss trotzdem arbeiten? und meint damit die Zeit im Job.

Diese Argumentation trägt allerdings nur für Branchen, in denen die Produktivität mittels Prozessoptimierung und technischem Fortschritt gesteigert werden kann. Für Berufe, in denen Menschen miteinander direkt interagieren und sich kümmern, beispielsweise Lehrer*innen, Physiotherapeut*innen, Landärzt*innen, Servicepersonal in Restaurants oder Buchhändler*innen, die persönlich beraten, führt die Vier-Tage-Woche nicht zu besseren Abläufen, die einen freien Tag übriglassen. Die Debatte über die Arbeitszeitverkürzung ist folglich komplex, da die unterschiedlichen Aufgaben, die wir im Miteinander organisieren müssen, eigenen zeitlichen Logiken folgen. Arbeitszeit ist widerspenstig und leider schlecht vergleichbar.

Gegner*innen der Vier-Tage-Woche nutzen die menschenbezogenen Berufe, die sich nicht beschleunigen lassen und deren Schichten sieben Tage pro Woche abdecken müssen, als Totschlagargument: Wenn die kurze Vollzeit Kitas und Seniorenheime aufgrund des Fachkräftemangels erst recht in den Kollaps schickt, solle überhaupt niemand kürzer arbeiten dürfen. Dabei übergehen sie den wichtigen Punkt, dass gerade in den Berufen, in denen Personal fehlt, kürzere Arbeitszeiten ehemalige Fachkräfte zurückholen könnte, die aufgrund von zu hohen Belastungen ausgestiegen sind. Pflegefachkräfte etwa fordern schon länger eine 30-Stunden-Woche als neue Vollzeit, da 40 Wochenstunden in diesem körperlich und psychisch anspruchsvollen Beruf auf Dauer nicht zu schaffen seien, ohne selbst krank zu werden.

Die Vier-Tage-Woche könnte auch als Möglichkeit diskutiert werden, Erwerbsarbeit neu und gleichmäßiger zu verteilen

Eine 42-Stunden-Woche würde in einigen Berufen den Fachkräftemangel langfristig eher verstärken als auflösen. In der Debatte über die Vier-Tage-Woche ist außerdem wichtig, dass die Arbeitszeit nicht für alle sinken würde. Die Teilzeitquote liegt in Deutschland derzeit bei 38,7 Prozent und ist weiblich dominiert, rund 50 Prozent der Mütter mit jüngeren Kindern sind aktuell nicht erwerbstätig. Die Vier-Tage-Woche könnte auch als Möglichkeit diskutiert werden, Erwerbsarbeit neu und gleichmäßiger zu verteilen, was die finanziellen Machtverhältnisse zwischen Frauen und Männern angleichen würde. Möglich, dass ein Teil des Widerstands sich auch so erklärt.

Wir können das Nachdenken über die Vier-Tage-Woche jedoch auch von einer Seite aus beginnen, die ihre Argumente nicht aus der Arbeitswelt schöpft und daher unterschiedliche Berufsgruppen vereint. Sie schließt sogar diejenigen ein, die gar nicht erwerbstätig sind. Sie adressiert Menschen, die sich wenig für die Effekte der Arbeitszeit auf Klimaschutz oder Gleichberechtigung interessieren: Mehr freie Zeit zu haben, für sich selbst und andere, ist entscheidend für Lebensqualität und Selbstbestimmung. Finanzieller Wohlstand allein reicht dafür nicht, das belegt Forschung zur Zeitarmut, die auch in höheren Einkommensgruppen weit verbreitet ist und negativ auf Wohlbefinden und Gesundheit wirkt. Darüber nachzudenken, wie wir leben wollen, und das auch einmal ohne materielles Korsett, ist legitim und wichtig. Denn jegliche Vorstellungen von Lebensentwürfen den vermeintlichen wirtschaftlichen Notwendigkeiten zu unterwerfen, schränkt unsere Freiheit sowohl im Denken als auch im Handeln ein.

Eine neue Auswertung der Hans-Böckler-Stiftung zum Interesse an einer Vier-Tage-Woche, die Anfang Mai 2023 veröffentlicht wurde, zeigt, dass es »sich dabei keineswegs um eine kleine Gruppe mit avantgardistischen Zeitwünschen« handelt, erklären die Autor*innen Yvonne Lott und Eike Windscheid. Denn 80 Prozent der abhängig Beschäftigten in Vollzeit, die befragt wurden, würden gern ihre Arbeitszeit von fünf auf vier Tage reduzieren. Außerdem wird in der Auswertung deutlich, dass weniger zu arbeiten besonders stark auf den Wunsch nach mehr Eigenzeit zurückgeht. 96,5 Prozent der Befragten nannten mehr Zeit für sich selbst als Beweggrund.

Der Wunsch nach Familienzeit war mit 88,9 Prozent etwas seltener vorhanden, für 74,8 Prozent spielte zudem eine Verringerung der Arbeitsbelastung eine Rolle. »Mehr Zeit für Hobbies, Sport, Ehrenamt etc.« wurde zudem getrennt von der Eigenzeit abgefragt und von 87,4 Prozent der Befragten genannt, was darauf hindeutet, dass gänzlich freie Zeit, für die es noch keinen Plan gibt, neben bestehenden Freizeitinteressen eine eigene Bedeutung hat. Genau diese offene, unverplante Zeit scheint vielen Menschen im Alltag zu fehlen.

Die Soziologin Judy Wacjman schreibt in ihrem Buch Pressed for Time. The Acceleration of Life in Digital Capitalism: »Die Wurzel unserer Sucht nach Arbeit und Hyperkonsum liegt allerdings darin, dass jegliche Vorstellung von einem guten Leben, in dem Freizeit um ihrer selbst willen geschätzt würde, aus der öffentlichen Diskussion verschwunden ist.« Daher ist es die falsche Strategie, den Wunsch nach der Vier-Tage-Woche vor allem mit Argumenten für eine bessere Arbeitswelt zu untermauern. Es wird die Debatte zugunsten einer Arbeitszeitverkürzung stärken, wenn mindestens ebenso viel darüber gesprochen wird, warum Versionen des guten Lebens an mehr frei verfügbare Zeit geknüpft sind. Und dies sollte mit dem entsprechenden Selbstbewusstsein geschehen, das zeigt: Mehr freie Zeit steht Menschen zu – nicht als Belohnung für harte Arbeit, sondern weil eine Mehrheit der Menschen anders leben will. Mit weniger Stress und ausreichend Schlaf, mit Teilhabe in Nachbarschaften, Ehrenämtern und politischem Engagement, mit vertrauensvollen und verlässlichen sozialen Beziehungen, die nur mit genügend Zeit gelingen, mit eigenen Interessen, die keinen Zweck verfolgen, sondern allein mit Freude verbunden sind.

Nur für einen kleinen Teil der Erwerbstätigen sind Selbstentfaltung, persönliche Entwicklung, Wertschätzung und Zugehörigkeit Teil ihres Jobs. Ohne Frage ist es wichtig, diese Arbeitsbedingungen in mehr Tätigkeiten zu ermöglichen, doch sich diese wichtigen Bedürfnisse regelmäßig zu erfüllen sollte schon jetzt für alle Menschen möglich sein. Eine ähnliche Freiheit für alle, sich individuell zu entfalten und Teil einer Gemeinschaft zu sein, liegt daher in der Freizeit.

All die Krisen der letzten Zeit haben bewirkt, dass viele Menschen sich bewusster damit befassen, wie ein gutes und selbstbestimmtes Leben für sie gelingt

Die Autorin Nadia Shehadeh erzählt in ihrem gerade erschienenen Buch Anti-Girlboss, dass sie während des Schreibens ein bisschen um das getrauert habe, was ihr selbst in einer Kultur des Leistungsdrucks verlorenging: »um die Versionen von mir, die mit den Jahren immer wieder einige persönliche Vergnügen, Hobbies und Leidenschaften aufgaben, weil sie zu zeitintensiv, zu unnütz und meiner Produktivität nicht zuträglich genug erschienen. Um die Passionen, die nach und nach begraben wurden, weil sie nicht verwertbar waren.« Damit bringt sie auf den Punkt, was sich hinter dem Angriff auf die 40-Stunden-Woche verbirgt. All die Krisen der letzten Zeit haben bewirkt, dass viele Menschen sich bewusster damit befassen, wie ein gutes und selbstbestimmtes Leben für sie gelingt.

Anders als einige Konservative und Wirtschaftsvertreter*innen es nach wie vor beschwören, glauben immer weniger Menschen daran, dass die Ärmel hochzukrempeln und noch mehr zu schuften sie in dieses gute Leben führt. Sie erkennen, dass sie jetzt etwas verändern müssen und ein Vertrösten auf die Zeit nach einem ganzen Leben Arbeit ein ungewisses Versprechen ist. Vielleicht reagieren manche Vertreter der älteren Generation auch deswegen erbost und abwertend auf eine junge Generation, die von vornherein in Teilzeit arbeiten will: Sie wurden bei einem Täuschungsversuch erwischt.

In den jüngeren Generationen ist ein Wertewandel im Gang, was den Blick auf Erwerbsarbeit betrifft, dennoch stellt die Wertschätzung freier Zeit keinen tiefgreifenden Generationenkonflikt dar. In Altersteilzeit oder früher in Rente zu gehen sind keine Nischenphänomene. Viele ältere Menschen gestalten ihre letzte Erwerbsphase und den Renteneintritt bewusst. Einer Umfrage des Demographie Netzwerks e. V.  zufolge möchte mehr als die Hälfte der aktuell Erwerbstätigen in Deutschland mit spätestens 62 in den Ruhestand gehen. Eine Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters lehnten 81 Prozent der Befragten einer DGB-Umfrage aus dem Januar 2023 zufolge auch dann ab, sollte die Lebenserwartung weiter steigen. Nur fünf Prozent der Befragten gaben an, sich vorstellen zu können, länger als bis 67 zu arbeiten.

Zudem ziehen Großeltern nicht nur deswegen in die Nähe ihrer Enkelkinder oder schlagen ihren Kindern vor, in ihre Geburtsorte zurückzuziehen, weil sie ihre Familie um sich haben möchten, sondern auch aus Sorge. Sie sehen oft, welche Zerreißprobe es für ihre erwachsenen Kinder ist, Vollzeit und Familie miteinander zu vereinbaren, und helfen mit, um sie vor Burnout oder Jobverlust zu schützen. Es sind auch ältere Menschen, die der Auffassung sind, dass die herrschende Arbeitskultur zu wenig Zeit für anderes übriglässt. Wenn sie können, helfen sie mit ihrer Zeit dort aus, wo anderen die Zeit gerade fehlt.

Mehr Zeit fürs Leben, Lieben und Lachen ist mehr denn je ein intergenerationelles Thema, das Menschen zusammenbringen kann. Nicht nur in Form einer gemeinsamen politischen Forderung, sondern auch in mehr gemeinsamer, generationenübergreifender freier Zeit.