Zurzeit trinke ich keinen Alkohol. Das kommt hin und wieder mal vor. Nicht, weil ich irgendeine Dry-Challenge machen würde oder ernsthafte Probleme mit meinem Trinkverhalten hätte, sondern weil ich einen Schaden habe, genauer gesagt: Mein Immunsystem hat einen Schaden. Vor 14 Jahren war ich sehr krank, das Epstein-Barr-Virus hatte mich erledigt, ich war ein halbes Jahr im Bett, danach hatte ich zwei Jahre ungefähr das, was man jetzt »Post-Covid« nennt, mein Arzt nannte es damals »postvirales Syndrom«.
Als er zu Beginn seiner Diagnose herausfand, was mich so krank gemacht hatte, nannte er es »verdammte Scheiße« und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Mein Sohn war ein Jahr alt, ich arbeitete freischaffend, insgesamt zogen sich die akuten Symptome – Schmerzen überall, bleierne Erschöpfung, Herzrasen, Einschlafen im Stehen an der Wand und ständige Infekte – über vielleicht vier Jahre, ganz genau kann ich es nicht sagen, mein Zustand verbesserte sich nur langsam, quasi schleichend. Wodurch? Keine Ahnung. Zeit, Geduld, Magnesium-Infusionen … Glück?
Auf jeden Fall hatte ich einiges zu veratmen in jener Zeit, körperlich und seelisch, aber irgendwann sagte mein Arzt, dass ich jetzt wieder einigermaßen okay sei, nur wenn eines Tages das Supervirus käme, dann wäre ich wohl eine der Ersten, die fällig seien. Ich erinnere mich noch gut an mein herzhaftes und ein bisschen dreckiges Lachen, das durch sein Behandlungszimmer schallte, Supervirus, Arschlecken, dachte ich, ess ich zum Frühstück, ich hatte Epstein-Barr hardcore!
Inzwischen war das Supervirus da, das muss ich ja nicht noch mal erzählen, und auch wenn wir schnell den Luxus der Reichen hatten (Impfungen), merken wir erst jetzt, was mit uns geschehen ist, was diese Pandemie für Folgen hat, nicht nur gesellschaftspolitisch, sondern auch gesellschaftsgesundheitlich. Und immer wenn ich die Geschichten lese und höre von den Leuten mit Long Covid und Post-Covid, möchte ich ihnen zuflüstern: Ich weiß. Ich weiß, systemische Viren sind Horrorviren, aber, ich schwöre, es wird besser. Ja, es geht nie ganz vorbei. Ja, es braucht Geduld. Ja, es gibt nicht viel, was hilft, eigentlich hilft gar nichts, eigentlich muss man sich einfach daran gewöhnen, dass eben nur noch 60 Prozent der Kraft da sind, wenn es gut läuft, und ja, das Gefühl von Blei in den Adern wohnt jetzt in dir. Aber du überlebst es, du bist immer weiter am Leben, während Freundinnen und Freunde sterben, an Aneurysmen oder an Depressionen, und du derweil lernst, wozu dein Körper vielleicht nicht mehr in der Lage ist und was er trotz allem doch noch kann, und das kommt, nebenbei bemerkt, sowieso auf uns alle zu, man nennt es Älterwerden.
Ab und an haut es dir noch mal eine rein, so wie mir gerade. Wenn die Belastung über lange Zeit zu hoch war oder es Erschütterungen gab. Seit ein paar Monaten bin ich wieder gefangen in der Infekthölle. Ich versuche, es weitestgehend zu ignorieren. Gegen die Schmerzen nehme ich etwas. Wenn ich kann, gehe ich weiter schwimmen. Und, siehe oben, verzichte auf Alkohol, weil bei meiner Sache die Leber eine große Rolle spielt.
Aber die Welt kann sich schon mal anschnallen, bald geht es mir nämlich wieder besser (spätestens im Frühling, das ist mein ultimativer Mental-Trick), und dann gehe ich in eine Bar und bestelle einen Corpse Reviver No. 2 – aus 2 cl Dry Gin, 2 cl Cointreau, 2 cl Cocchi Americano, 2 cl Zitronensaft und einem Spritzer Absinth, serviert in einem Martiniglas. Harry Craddock, einer der berühmtesten Barkeeper der Zwanziger- und Dreißigerjahre, soll über den Corpse Reviver gesagt haben: »Einnahme vor elf Uhr am Vormittag, oder wann immer Dampf und Energie nötig sind.«
Ich weiß, flüstere ich.