Ist es radikal, auf leibliche Kinder zu verzichten?

Man muss ein Kind nicht selbst austragen oder zeugen, um es zu lieben. Im Gegenteil: Es bringt sogar Vorteile, wenn sich mehr als zwei Erwachsene zu einer Familie zusammenfinden.

Foto: Paula Winkler

Woher kommt der Wunsch danach, Kinder zu haben? Ich habe mir diese Frage selbst oft gestellt, da für mich bis Ende 20 klar war, dass ich niemals Kinder haben wollte. Und auf einmal kriegte ich dann den Wunsch nach einem Kind nicht mehr aus dem Kopf. Nach und nach wurde er stärker, plötzlich nahm ich all diese Schwangerschaftsbäuche in der U-Bahn und auf den Straßen wahr und lächelte Babys an, die im Buggy an mir vorbeigeschoben wurden. Ich habe bis heute keine Antwort darauf, woher der Wunsch plötzlich kam und dann so stark wurde. Hätte ich mich ohne Kinder weniger als Frau gefühlt? Ist auch in meinem Unterbewusstsein vergraben, dass zu einem glückliches Leben Kinder dazugehören?

Die »biologische Uhr« von der häufig gesprochen wird gibt es nicht: Hormone beginnen nicht, den Gedanken im Hirn einer Person wachzurufen, sich endlich fortzupflanzen. Unserem Körper ist es egal, ob wir ihn dazu nutzen ein Kind zu zeugen oder auszutragen. Man kann nicht fühlen, ob die Eizellen bald nicht mehr springen, sondern sich nur an wissenschaftlichen Informationen orientieren oder den eigenen Hormonstatus untersuchen lassen. Forscher*innen gehen davon aus, dass es kulturelle Leitbilder sind, die Kinderwünsche wecken. Erinnerungen an die eigene Familie, die Entscheidungen von Menschen im Umfeld, Familien in Fernsehserien und Eltern auf Instagram. Daher hat sich auch immer wieder verändert und unterscheidet sich weltweit stark, wie Menschen über eigene Kinder nachdenken, wann sie sich dafür und dagegen entscheiden, wie viele sie bekommen möchten oder können, wie sie aufwachsen.

Das Alter der Eltern in Deutschland bei der Ankunft des ersten Kindes in ihrer Familie steigt unter anderem deshalb, weil Menschen heute mehr Wert legen auf materielle Sicherheit und berufliche Etablierung. »Die Zahl der Kinder, die ein Paar sich wünscht, fällt dabei umso niedriger aus, je höher die Ansprüche der Erwachsenen an die ökonomischen Voraussetzungen sind«, heißt es in der Studie des Bundesfamilienministeriums »Kinderlose Frauen und Männer« von 2014. Die Selbstverständlichkeit, dass Menschen irgendwann einmal Kinder haben, weiche einer zunehmend bewussten Entscheidung, die sich stärker an äußeren Bedingungen orientiere, als an den eigentlichen Wünschen. Wunsch und Wirklichkeit der Familiengröße weichen in Deutschland tatsächlich stark voneinander ab: »Als gewünschte ideale Familiengröße geben die meisten zwei Kinder an; immerhin ein Viertel der Befragten wünscht sich drei oder mehr Kinder. Diesen Wunsch auch zu verwirklichen, gelingt nur 15 Prozent der Familien«, heißt es in der Studie von Professor Carsten Wippermann.

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Zwar stieg die Zahl der jährlich geborenen Babys in Deutschland zuletzt wieder an, die sogenannte »endgültige Kinderlosenquote« wird jedoch erst erhoben, wenn Frauen zwischen 45-49 Jahre alt sind. Diese kontinuierlich gestiegene Quote lag bei der letzten Erhebung des Statistischen Bundesamtes 2018 bei 21 Prozent. Männer bleiben jedoch deutlich häufiger ohne eigene Kinder als Frauen – nur ist das statistisch schwieriger nachzuvollziehen, da für Männer die Daten in der amtlichen Statistik unvollständig sind und daher für sie keine Geburtenraten erhoben werden. Während in der Altersgruppe von 40 bis 49 Jahren noch 19 Prozent der Frauen keine Kinder haben, sind es bei den Männer 29 Prozent. Dass Männer über eine späte Vaterschaft aufholen, ist jedoch nicht zu erwarten. Laut Berechnungen des Max-Planck-Instituts werden nur sechs Prozent noch über 45 Jahren Vater.

Die kulturelle Norm, dass eine Frau ohne Kinder nicht vollständig ist, ist sogar so stark, dass die bewusste Entscheidung gegen eigene Kinder von manchen Menschen als politischer Protest verstanden wird.

Ein Leben ohne Kinder sollte etwas Selbstverständliches sein. Doch die gesellschaftlichen Erwartungen, die Kinderwünsche wecken, vor allem den Wunsch nach einer traditionellen Familie, wirken noch immer stark. Zwar entscheiden sich mehr Menschen bewusst dazu – aus ganz unterschiedlichen Beweggründen – nicht mit eigenen Kindern leben zu wollen, mit Fragen nach dem Warum müssen sie jedoch immer noch rechnen. Frauen müssen sich zudem häufiger dafür rechtfertigen als andere Menschen, warum ihr Leben kinderfrei ist. Dieser Druck nimmt sogar auf lesbische Frauen zu, seitdem in der breiten Öffentlichkeit bekannter ist, dass auch homosexuelle Menschen Familien gründen und sie sich mehr Rechte erkämpft haben. Die kulturelle Norm, dass eine Frau ohne Kinder nicht vollständig ist, ist sogar so stark, dass die bewusste Entscheidung gegen eigene Kinder von manchen Menschen als politischer Protest verstanden wird: ein »Gebärstreik« als Mittel, um eine bessere Familienpolitik zu bewirken oder als jüngstes Beispiel auch als Drohung von jungen Klimaaktivist*innen, so lange auf Kinder zu verzichten, bis radikale politische Maßnahmen für den Klimaschutz ergriffen würden.

Die meisten Menschen verstehen ihre Entscheidung darüber, ob und wie viele Kinder sie großziehen, jedoch nicht als politische Botschaft, sondern vielmehr als ein Produkt der Umstände oder als Zufall. Die Rolle des Staates ist hier paradox: Familien werden zum einen unterstützt, da dies in Deutschland im Grundgesetz festgehalten ist und Familie als Wert an sich betrachtet wird. Demografiepolitisch sollen einzelne politische Maßnahmen auch bewirken, dass die Geburtenzahlen nicht weiter sinken. Auf der anderen Seite hat das gleiche politische System, das versucht, das Leben mit Kindern attraktiver zu machen, dazu beigetragen, dass es schwieriger ist, sich früh oder überhaupt für Kinder zu entscheiden – die Unterstützung konzentriert sich zudem auf verheiratete heterosexuelle Paare. So groß scheint das Demografieproblem dann doch nicht zu sein, dass der Staat alle Menschen gleichermaßen beim Leben mit Kindern unterstützen möchte.

In der BMFSFJ-Studie zu (noch) kinderlosen Menschen nannten zwei Drittel der Befragten den »Verlust individueller Freiheiten« als etwas, das die Entscheidung für Kinder bremsen würde. Über die Hälfte thematisierte, dass gesellschaftliche Rahmenbedingungen wie fehlende Kinderbetreuung und die Struktur der Arbeitswelt Eltern benachteilige. Gleichzeitig stimmten 84 Prozent der Befragten der Aussage zu: »Ich finde die Vorstellung schön, ein Kind zu haben als Teil von mir und meiner Partnerin/meinem Partner.« Deutlich wird an diesen Zahlen, dass die Entscheidung für ein Kind ein komplexes Abwägen unterschiedlicher Wünsche und Erwartungen ist. Die Philosophin Millay Hyatt schreibt in ihrem Buch »Ungestillte Sehnsucht«: »Der Wunsch nach einem Kind birgt eine Verletzlichkeit, die möglicherweise nicht zu dem fortschrittlichen, ehrgeizigen Selbstbild passt, das wir uns konstruiert haben.« Das ist einer der inneren Konflikte, der von Menschen unterschiedlich schnell und auf unterschiedliche Weise gelöst werden kann. Solche, die vielleicht an Freund*innen beobachten, wie schön oder auch wie anstrengend es sein kann, Kinder großzuziehen, die in ihren Jobs beobachten, ob Eltern gute oder schlechte Erfahrungen machen, werden sich in die eine oder andere Richtung bestärkt fühlen. Manche Unentschlossene lassen sich von der Zeit die Entscheidung abnehmen, bis es für eigene biologische Kinder zu spät ist. Einige verlassen sich auf den Zufall, hören auf zu verhüten und werden schwanger oder nicht. Wiederum andere kommen spät zur Erkenntnis, nun aber Kinder zu wollen, und machen dann die Erfahrung, dass es schwierig wird oder auch gar nicht mehr klappt – weder auf natürlichem Weg noch mit reproduktionsmedizinischer Unterstützung. Die Möglichkeiten alleinstehender Männer oder schwuler Paare sind begrenzter als die Möglichkeiten von Menschen, die selbst ein Kind austragen können.

Doch wer mit Kindern leben möchte, möchte häufig ein leibliches Kind. In den letzten Jahren hat die Anzahl der Adoptionen in Deutschland kontinuierlich abgenommen – und sich seit den 90er-Jahren sogar etwa halbiert. Auch wenn es weiterhin mehr Bewerbungen gibt, als zur Adoption freigegebene Kinder. 1.300 Kinder wurden 2018 in Deutschland von Eltern adoptiert, die vorher keine Verbindung mit ihnen hatten, zwei Drittel der Adoptionen sind Stiefkind-Adoptionen. Die sinkende Bereitschaft, ein Kind zu adoptieren, wird unter anderem mit der gestiegenen Bekanntheit und den besseren Erfolgsversprechen von reproduktionsmedizinischen Behandlungen in Verbindung gebracht. Laut IVF-Register lag die Zahl der 1990 durchgeführten Behandlungszyklen bei etwa 8.600 und stieg bis 2018 auf 105.000. Bis sich ein Paar dazu entscheidet, ein Adoptiv- oder ein Pflegekind in Erwägung zu ziehen, versuchen viele zunächst, ein biologisches Kind zu bekommen. Die Möglichkeiten dabei werden von einigen Menschen, die nicht spontan schwanger werden können, immer weiter ausgeschöpft.

Die assistierte Reproduktion ist vielfältig und kann zum Beispiel nur eine Behandlung von Hormonstörungen beinhalten, nach der anschließend eine Schwangerschaft beim Sex entstehen kann. Der erste Weg bei einer künstlichen Befruchtung ist in der Regel der, dass bei einem Frau-Mann-Paar Eizelle und Samen außerhalb des Körpers zusammengebracht werden, um die so befruchteten Eizellen wieder in die Gebärmutter zu transferieren. Ist ein Mann vollständig zeugungsunfähig, ist in Deutschland die Fremdsamenspende erlaubt. Von ihr können auch alleinstehende Frauen und lesbische Paare Gebrauch machen, auch wenn sie diese viel häufiger selbst, im Ausland oder privat organisieren müssen, da viele Praxen bislang nur heterosexuelle Paare behandeln. Zudem ist es möglich, durch eine Embryonenspende schwanger zu werden, die derzeit durch eine Lücke im Embryonenschutzgesetz in Deutschland möglich ist. Überzählige Embryonen, die in IVF- oder ICSI-Zyklen entstanden sind und von den Paaren nicht genutzt wurden, können gespendet und anonym vermittelt werden. Die Warteliste des Netzwerkes Embryonenspende e.V. ist lang. Einige Menschen, die keinen Behandlungserfolg in einer deutschen Klinik hatten, versuchen es dann weiter in Kliniken im Ausland. Hier können Embryonen teils vorab genetisch untersucht werden, um Embryonen mit bestimmten Merkmalen auszuschließen und über unauffällige Embryonen die Schwangerschaftsraten zu erhöhen; die sogenannte Präimplantationsdiagnostik ist in Deutschland nur erlaubt, wenn die Eltern schwerwiegende Erbkrankheiten weitergeben könnten. Außerdem ist in einigen Ländern der Kauf von fremden Eizellen (»Eizellspende«) und die so genannte Leihmutterschaft legal. Auf diesem Weg können Frauen mit Eizellen anderer, die entweder mit dem Samen ihres Partners oder eines Spenders befruchtet wurden, schwanger werden – oder aber eine andere Frau bekommt einen Embryo transferiert, den sie gegen Geld für ein Paar austrägt. Gespendete Eizellen stammen in der Regel von jüngeren Frauen, da ein Grund für eine ausbleibende Schwangerschaft oder wiederholte Fehlgeburten sein kann, dass die Eizellen der Frau mit Kinderwunsch bereits zu alt sind und fremde, junge Eizellen das Eintreten einer Schwangerschaft wahrscheinlicher machen. Im Januar forderte ein feministisches Netzwerk, das Verbot von Eizellspende und Leihmutterschaft aufrechtzuerhalten, da sie »auf sozialer Ungleichheit und auf der Ausbeutung Dritter« beruhen würden und eine »grundsätzliche Abkehr vom zentralen Prinzip ärztlicher Ethik dar, also dem Grundsatz, den Patient*innen nicht zu schaden« darstellen würden.

Die steigende Inanspruchnahme von assistierter Reproduktion hat nicht nur mit dem steigenden Alter zu tun, in dem Menschen Kinder bekommen möchten, sondern auch mit den Hoffnungen, die diese neuen Möglichkeiten wecken. Sie verlängern eventuell auch den Zeitraum, in dem Menschen an einem Wunsch festhalten, der sich nicht erfüllt. Dass heute Menschen Eltern leiblicher Kinder werden können, die sich noch vor 30 oder 40 Jahren diesen Wunsch nicht hätten erfüllen können, bedeutet großes Glück. Gleichzeitig ist es wichtig zu wissen, dass mit moderner Medizin eben dennoch nicht alle Eltern werden können. Denn die Zahl der Geburten pro Behandlung lag in Deutschland laut IVF-Register 2017 bei rund 20 Prozent – sie sinkt aber insbesondere nach dem 39. Lebensjahr stark ab und liegt bei Frauen Mitte 40 bei nur noch 1,7 Prozent. Sehr viele Menschen lassen viel Geld in den Kliniken, um auch nach mehreren Behandlungen kein Kind zu haben. Zum Wissen über »Social Freezing«, das zuletzt als Möglichkeit propagiert wurde, auch älter noch schwanger zu werden und auch von Krebspatientinnen genutzt wird, gehört zudem dazu, dass eingefrorene Eizellen keine Garantie auf ein Baby sind, da sie zu alt oder anderweitig beeinträchtigt sein können, als dass sie aufgetaut zu intakten Schwangerschaften führen. Auch das Einfrieren von Eizellen verspricht mehr Hoffnung als echte Chance.

Die ethischen Fragen, die man rund um Kinderwünsche und Reproduktionsmedizin und -tourismus stellen kann, sind zahllos – sowohl ganz persönlich als auch aus feministischer Perspektive:

Warum entscheidet man sich eher gegen Kinder, weil man glaubt, die Belastung sei zu hoch, als nach neuen Familienformen zu schauen, in denen sich mehr als ein oder zwei Erwachsene um Kinder kümmern?

Dabei kann es um Fragen der Gerechtigkeit gehen, welche Menschen finanziell und medizinisch beim Kinderwunsch unterstützt werden und welche nicht. Um die Bedeutung der biologischen Elternschaft, die zum Beispiel dazu führt, dass heterosexuelle Frauen, deren Mann nur eingeschränkt zeugungsfähig ist, die körperliche Belastung einer Hormonstimulation auf sich nehmen, obwohl sie über Fremdsamen viel leichter schwanger werden könnten. Darum, ob man die Körper von anderen nutzen darf, um sich einen Kinderwunsch zu erfüllen und wenn ja, unter welchen Bedingungen. Wie regelt man Mutterschaft, wenn eine Frau das genetische Kind einer anderen austrägt? Sollte man Embryonen vorab untersuchen dürfen, um ein wahrscheinlich gesundes Kind in der Gebärmutter heranwachsen zu lassen, Schwangerschaftsraten zu erhöhen und den austragenden Personen Enttäuschungen und Fehlgeburten zu ersparen? Als ein weiterer Punkt – der noch sehr wenig Beachtung findet – kommen noch Herkunftsfragen der entstandenen Kinder hinzu: Von wem stamme ich ab? Wer hat mich ausgetragen und geboren? Aus diesem Grund gibt es seit 2018 in Deutschland das Samenspenderregistergesetz, das die Rechte der Kinder, Auskunft über ihre Abstammung zu erhalten, sichern soll. Für die durch Eizellspende entstandenen Kinder gibt es etwas Vergleichbares nicht, da es in Deutschland lediglich ein Verbot und keine Abkommen mit anderen Ländern gibt, die Informationen über die Spenderin später ermöglichen. Die Anzahl der Kinder, die mit im Ausland gekauften Eizellen in Deutschland geboren werden, lassen sich derzeit nur schätzen. Die Leopoldina ging in einer Stellungnahme 2019 von etwa 1.000 - 3.000 Interessierten pro Jahr aus.

Man kann fragen, warum ein Kinderwunsch so alles einnehmend sein oder werden kann, dass Menschen hohe gesundheitliche Risiken in Kauf nehmen oder sich verschulden. Woher kommt die Sehnsucht, selbst schwanger gewesen zu sein? Warum kann es schwierig sein, einen alternativen Lebenssinn zu finden? Auf alle diese Fragen gibt es viele Antworten und viele weitere Fragen.

Ich möchte eine andere Frage stellen, nämlich die nach alternativen Modellen des Lebens mit Kindern. Um welche Kinder könnte ich mich noch kümmern, wenn nicht um meine leiblichen? Warum liegt der Gedanke an ein leibliches Kind näher als an ein Pflegekind? Warum entscheidet man sich eher gegen Kinder, weil man glaubt, die Belastung sei zu hoch, als nach neuen Familienformen zu schauen, in denen sich mehr als ein oder zwei Erwachsene um Kinder kümmern?

Eine queerfeministische Kritik an Reproduktionstechnologie lautet, dass sie das heteronormative Lebensmodell verstärke und auch queere Menschen dazu anhalte, in Kleinfamilien zu leben. Dazu sagt die Geschlechterforscherin Ulrike Klöppel in einem Interview mit der Zeitschrift Analyse & Kritik: »Durch die Art, wie Reproduktionstechnologien hierzulande überwiegend einseitig als ›Chance‹ verhandelt werden, wächst auch der subtile Druck, sich auf die familialistische Norm einzuschwingen. Früher war es für die Eltern von Menschen, die in einer lesbischen oder schwulen Beziehung lebten, doch automatisch klar: Das ist der Verzicht auf die Enkelkinder! Jetzt gibt es die Möglichkeit und auch den Druck, trotz allem, entgegen von Sexualität oder Zufällen, ein Kind zu bekommen. Das queere Elternpaar ist zwar immer noch ein Alien, aber immerhin gibt es ein Enkelkind. So leisten auch die Queers endlich einen wertvollen Beitrag zur Gesellschaft.« Reproduktionstechnologien werden jedoch überwiegend von heterosexuellen Paaren genutzt und tragen weniger zu neuen Familienmodellen bei, als oft medial suggeriert wird.

Natürlich gibt es schon jetzt zahlreiche Formen von alternativen Familienmodellen und Menschen, die sich aus persönlicher Motivation liebevoll um die Kinder von anderen kümmern: engagierte Tanten, Freund*innen der Eltern, die zu stabilen Bezugspersonen werden, Nachbar*innen, die regelmäßig die Betreuung übernehmen, Alleinerziehenden-WGs, Regenbogenfamilien mit mehr als zwei Elternteilen, Patchwork-Familien, in denen Erwachsene die Sorge für nicht leibliche Kinder übernehmen. Den sehr bewusst gewählten Modellen wie queere Familien, in denen vielleicht eine Frau und zwei Männer als Eltern agieren und auch Patchwork-Familien, fehlt jedoch der gesetzliche Rahmen, der allen Erwachsenen Rechte und Pflichten gegenüber den Kindern zugesteht. In der Patchwork-Konstellation, in der ich lebe, kümmern sich fünf Erwachsene um zwei Kinder. Doch einen einfachen rechtlichen Weg, damit die Erwachsenen ohne Sorgerecht die Kinder auch ohne Vollmacht von der Kita abholen oder mit ihnen zur Impfung gehen könnten, gibt es nicht. Während sie eine enge und eigenständige Bindung zu den Kindern aufbauen, hätten sie selbst nach zehn Jahren intensiver Fürsorge und aktiv gelebter Elternschaft, keinerlei Rechte und Pflichten gegenüber den Kindern.

In der gegenwärtigen Struktur der Erwerbsarbeit und dem Mangel an Kinderbetreuungsmöglichkeiten, wären Familien mit mehr sorgenden Erwachsenen eine sinnvolle Lösung dafür, dass es sowohl Kindern als auch Erwachsenen in den Familien gut geht.

Obwohl immer wieder deutlich wird, dass ein oder zwei Erwachsene zu wenig sind, um sich um alle Bedürfnisse der mit ihnen lebenden Kinder zu kümmern, wird sowohl politisch als auch gesellschaftlich stark an der Idee festgehalten, dass eine Familie mit Kindern maximal zwei Erwachsene enthalten sollte. Doch dass in Familien mehr als zwei Personen das Sorgerecht haben können, ist zum einen wichtig, um die bereits existierenden Regenbogenfamilien rechtlich anzuerkennen. Zum anderen könnte diese Möglichkeit es leichter für mehr Menschen insgesamt machen, über das Modell der Kleinfamilie hinauszudenken und sich in größeren Familien zusammenfinden. Einen Kinderwunsch zu haben, muss nicht bedeuten, sich nach einer Kleinfamilie zu sehnen. Was spricht dagegen, dass vier Menschen sich gemeinsam dazu entscheiden, eine Familie zu gründen, in der sich alle Erwachsenen gleichberechtigt um ein Kind kümmern – unabhängig davon, wer das Kind geboren und gezeugt hat? In der gegenwärtigen Struktur der Erwerbsarbeit und dem Mangel an Kinderbetreuungsmöglichkeiten, wären Familien mit mehr sorgenden Erwachsenen eine sinnvolle Lösung dafür, dass es sowohl Kindern als auch Erwachsenen in den Familien gut geht. In meiner Familiensituation, in der kein Großelternteil regelmäßig für die Enkelkinder da sein kann, ermöglicht uns die Patchwork-Konstellation die Verteilung von Care Arbeit auf mehrere Personen – was zum einen alle Erwachsenen ein Stück weit entlastet und ihnen mehr Zeit verschafft, sowie den Kindern mehr Bezugspersonen bietet, von denen sie unterschiedliche Dinge lernen können und die vielleicht ein bisschen ausgeruhter sind, wenn sie die Kinder betreuen, als ein reguläres Elternpaar, was die Sorgearbeit zu zweit stemmt. Obwohl mein Familienmodell nicht von Anfang an geplant war, sondern sich aufgrund von Trennungen und neuen Partnerschaften ergeben hat und am Anfang alles andere als ein Wunschszenario war, ist es mittlerweile eines, das ich jederzeit der vermeintlich intakten Kleinfamilie vorziehen würde.

Ich kenne kaum eine Mutter, die sich nicht nach einer Form der Großfamilie sehnt, in der sich insgesamt mehr Menschen um ein oder mehrere Kinder kümmern. Diejenigen, die in der Nähe ihrer eigenen Eltern leben, wissen um ihren Luxus. Manche Familien ziehen für diese Unterstützung sogar in die Nähe ihrer Verwandten zurück. Doch die Erfahrung, dass die Kleinfamilie eine dysfunktionale Idee ist, machen die meisten erst, wenn sie sich für dieses Modell entschieden haben. In der heteronormen Gesellschaftsstruktur ist es schwierig genug, dauerhaft mit einem Menschen klarzukommen und der Gedanke daran, mit drei, vier, fünf Menschen eine Familie zu gründen, erst einmal abwegig. Wie soll man eine gemeinsame Wohnung finden? Selbst Wohnungen im gleichen Haus oder in der gleichen Straße dürften schwierig genug zu finden sein. So habe ich zwar Freund*innen, die prinzipiell mein Kind aus der Kita abholen würden – aber in der Großstadt leben auch wir mittlerweile oft so weit voneinander entfernt, dass ein unkompliziertes Unterstützen im Alltag kaum möglich ist und wir uns zu selten sehen, als dass die Kinder ihnen gegenüber Vertrauen entwickeln könnten. Eine fortschrittliche Familienpolitik müsste daher nicht nur neue Familienmodelle über rechtliche Anerkennung unterstützen, sondern – weil sie seit jeher ein Querschnittsressort ist – auch Impulse für Stadtplanung und Wohnungspolitik geben.

Diese praktischen Einschränkungen von Sorgerecht und Organisation sollten uns trotzdem nicht davon abhalten, darüber nachzudenken, wie Menschen sich als Gemeinschaft in Zukunft um Kinder kümmern könnten, um der gesellschaftlichen Aufgabe besser gerecht zu werden, die das Großziehen von Kindern bedeutet. Familien insgesamt besser zu unterstützen heißt auch, sich dem Framing entgegen zu stellen, dass die Entscheidung für Kinder rein privat ist. Über die geteilte Sorge um Kinder in größeren Familien könnten sich zudem mehr Menschen den Wunsch erfüllen, sich um Kinder zu kümmern. Man müsste bei einem unerfüllten Kinderwunsch nicht zuerst an eine Arztpraxis denken, dann an Adoption oder Pflegschaft, sondern bekäme eine weitere Möglichkeit hinzu, gemeinsam mit Kindern zu leben.

»Warum heißt Kinderwunsch denn automatisch das eigene Baby?  Kann es nicht besser bedeuten, mit Kindern zusammenzuleben und Verantwortung zu übernehmen, die es schon gibt? Warum erscheint es eine absurdere Idee, dass Menschen mit Kinderwunsch sich mit (ungewollt) Alleinerziehenden zusammentun, als dass sie Hormone nehmen, sich medizinischen Prozeduren unterziehen oder sogar die Körperstoffe anderer Menschen kaufen?«, schreibt mir die Journalistin Kirsten Achtelik, die Reproduktionstechnologien schon lange kritisch begleitet, in einem Mailwechsel. Die Autorin Millay Hyatt, die über ihre Jahre ihres unerfüllten Kinderwunsches geschrieben und mit vielen Betroffenen gesprochen hat, kritisiert zudem, dass Klinken zwar mit ganzheitlicher Beratung werben würden, es eine umfassende Beratung aber nur selten gäbe, die von Anfang an oder zumindest frühzeitig Alternativen vorschlägt und Grenzen der Behandlungsmöglichkeiten klarmacht. Therapieabbrüche würden nur selten von sich aus von den behandelnden Ärzt*innen vorgeschlagen. Eine psychosoziale Beratung ist in Deutschland bislang kein integraler Bestandteil von Kinderwunschbehandlungen und es unterscheidet sich von Praxis zu Praxis, ob überhaupt, wann und wie oft sie angeboten wird. Der große Wunsch und die einseitige Beratung würden die Patient*innen darin beeinträchtigen, »sich selbst zu schützen«, so Hyatt.

Feminist*innen verweisen immer wieder darauf, dass die Stärkung der reproduktiven Rechte nicht gleichzusetzen sei mit dem »Recht auf ein Kind«. Kirsten Achtelik schreibt, dass es vielmehr um die Forderung von Menschen gehe, denen Kinderwünsche abgesprochen oder erschwert würden, »Kinder bekommen zu dürfen«, wie zum Beispiel Menschen mit Behinderungen. Und so sagt auch Millay Hyatt, dass die Verzögerung ihres Wunsches – den sie sich später mit einem Pflegekind erfüllte – ihr ermöglicht habe zu sehen, dass es nicht darum ging »ein Kind zu haben«, sondern »ein Kind zu lieben«.

Das könnte ein guter Leitgedanke sein, um künftig facettenreicher über Kinderwünsche nachzudenken und den Fokus von der leiblichen Elternschaft auf den Wunsch nach einem Kümmern um Kinder zu verschieben und neue Wege zu finden, genau das zu ermöglichen: Kinder lieben und sich um sie kümmern – unabhängig davon, ob man sie selbst geboren oder gezeugt hat.

Aus der Ideen-Kolumne wird ein Podcast: Teresa Bücker im Gespräch über Radikale Ideen für unsere Gesellschaft. Haben Sie Fragen an die Autorin? Gerne an Gerne mailen an podcast@sz-magazin.de