Für wenige Wochen im März und April wurde es in den Städten ruhiger. Viele Menschen blieben zuhause, statt ins Auto, den Bus oder die Bahn zu steigen. Der Fluglärm verstummte. Auf den abgesperrten Spielplätzen tobten keine Kinder. Niemand drängelte an der Kasse im Supermarkt. Wenn sie nicht mehr zur Arbeit fahren mussten, schliefen die Menschen länger als sonst und duschten, so zeigen es Daten von Stadtwerken in ganz Deutschland, eine bis zwei Stunden später. Und etwas Erstaunliches passierte: In den ersten Wochen, in denen sich für viele Menschen deren gewohnter Alltag veränderte, stieg das allgemeine Wohlbefinden, wie verschiedene Erhebungen zeigten. Die große Depression blieb aus.
Der Umgang der Menschen mit der Covid-19-Pandemie erzählt von Resilienz und vielen Widersprüchen. Es ist belastend, sich um kranke Menschen zu sorgen oder sie sogar zu verlieren. Jobverluste, Kurzarbeit, die Furcht vor einer Rezession. Beengende Wohnverhältnisse, die Überlastung durch die Gleichzeitigkeit von Kinderbetreuung, Homeschooling und Homeoffice. Fehlende Umarmungen, zu wenige Gespräche und kein Feierabendbier mit der besten Freundin. Erkennt dich der demente Vater noch, wenn du ihn wieder im Heim besuchen kannst? Der befürchtete Anstieg von Gewalt gegenüber Kindern und Frauen, die zu lange, zu nah mit den Menschen in Wohnungen sein mussten, die sie misshandeln würden, kam wie befürchtet. Die fehlende Tagesstruktur machte besonders Menschen mit psychischen Erkrankungen zu schaffen.
Und doch ging und geht es vielen sehr gut. Die Pandemie hat nicht nur Angst und Anpassung hinterlassen, sondern auch Hoffnung und Vorstellungsvermögen, Selbstvertrauen. Das Leben kann sich abrupt und grundlegend ändern, wir kommen weiter zurecht. Die Art von Veränderung, die groß war und nicht vorstellbar, bevor sie da war, funktionierte. Erst holprig, aber für viele Menschen machbar. Sie zeigte Dinge auf, die gut tun.
Die Pandemie öffnete Vorstellungsräume: Systemrelevante Berufe endlich besser bezahlen, dauerhaft flexibel im Homeoffice arbeiten, mehr Zeit mit der Familie, öfter selbst kochen, weniger achtloser Konsum, mehr Umweltschutz, mehr Fahrradwege! Doch die anfängliche Aufbruchsstimmung ist schon wieder verstummt. Erinnern Sie sich an diese Diskussionen? Sie werden kaum noch geführt. Das Streben nach der Normalität von vor Corona ist groß. Doch welche Normalität ist es eigentlich, die wiederhergestellt werden soll? Wäre jetzt nicht die ideale Zeit, um zu entscheiden, welche Dinge aus der Zeit vor der Pandemie wir zurückhaben wollen und welche nicht? Welche wollen wir vielleicht nur aus Gewohnheit zurück?
Die Pandemie hat in ganz unterschiedlichen Bereichen gezeigt, was nicht glücklich macht, und außerdem, welche gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Konstrukte zerbrechlich sind. Wollen wir etwas, das einer Krise nicht standgehalten hat, tatsächlich zurück? Es gibt kaum etwas, das vor der Pandemie über gesellschaftliches Unrecht noch nicht bekannt war. Es ist nicht neu, dass vielen Kindern die Ausstattung fehlt, um digital lernen zu können, oder dass ihr Zuhause für sie ein gefährlicher Ort ist. Es ist nicht neu, dass die Arbeitsbedingungen in Fleischfabriken menschenverachtend sind und Erntehelfer*innen ausgebeutet werden. Es ist nicht neu, dass in Altenheimen und Krankenhäusern zu wenige Pflegekräfte sich um zu viele Menschen kümmern und dafür zu wenig Geld und Wertschätzung bekommen. Es ist nicht neu, dass arme Menschen weniger gesund sind und früher sterben als reiche. Es ist nicht neu, dass marginalisierte Gruppen, zum Beispiel Menschen mit Behinderungen, bei politischen Maßnahmen nie als Erste mitgedacht werden, obwohl sie eine besonders verletzliche Gruppe sind.
In Krisen passiert es oft, dass Menschen, die in einer Gesellschaft benachteiligt werden, noch einmal stärkere Diskriminierung erfahren. Menschen widerstandsfähiger gegen plötzliche Krisen zu machen, heißt daher auch, soziale Ungleichheit zu reduzieren. Daher stellt sich eine viel größere Frage als die, wie man alle Bürger*innen gut durch die Pandemie bringt: Wie geht es danach weiter? Werden die Probleme, die die Corona-Krise verstärkt, aber eben auch neue Aufmerksamkeit auf sie gelenkt hat, endlich langfristig adressiert und politisch priorisiert? Das sollten Gesellschaft und Politik nun verhandeln und ausloten, die Diskussion darüber tatsächlich führen, statt sie abzuwürgen. Denn Politik sollte nicht auf Disruptionen warten, die es unumgänglich machen zu handeln, sondern sie sollte vorausschauen, Lösungen entwickeln, bevor Probleme akut werden.
Wer jetzt argumentiert, es sei die falsche Zeit, soziale Ungerechtigkeit zu thematisieren, da es vorrangig darum gehen müsse, die Wirtschaft wieder anzukurbeln, der erfasst die Herausforderung zu einseitig. Dem IWF-Ökonomen Jonathan Ostry zufolge haben Gesellschaften mit mehr Ungleichheit ein fragileres und langsameres Wirtschaftswachstum als solche, die es schaffen, Ungleichheit zu reduzieren. Mit dem Kinderbonus, der im Herbst in Höhe von 300 Euro pro Kind gezahlt werden soll und der als Maßnahme des Konjunkturpaketes der Bundesregierung gedacht ist, erreicht man vermutlich nicht einmal das Ziel, dass dieses Geld einen Konsum-Anreiz erzeugt. Denn in armen Familien liegen Rechnungen herum, die nicht bezahlt werden konnten, das Geld fehlte für die nötigsten Dinge, nicht für Shopping. 4,3 Milliarden Euro soll der Kinderbonus den Staat kosten und tut dabei nichts dafür, die Kinderarmut nachhaltig zu reduzieren, von der rund 2,8 Millionen Kinder in Deutschland betroffen sind.
Was auch immer die nächste Krise sein wird, wir werden besser darauf vorbereitet sein, wenn weniger Menschen in existenziellen Nöten leben, sobald die Krise beginnt. Wie bereiten wir uns darauf vor? Was braucht eine Welt, die besser mit abrupter Veränderung umgehen kann? Eine neue Normalität könnte sich im Kleinen an dem Gedanken entspinnen, was uns an unserem alten Alltag eigentlich gefiel und was nicht. Daher lohnt es sich, ganz genau wahrzunehmen, welche Veränderungen gut tun, welche nicht, welche sich auf Dauer etablieren ließen, welche Ideen noch nicht gelebt werden, obwohl sie sinnvoll wären.
Es könnte zudem eine interessante Frage an Politiker*innen sein, die im Herbst 2021 die neue Regierung bilden wollen oder sich um ein Bundestagsmandat bewerben. »Wollen Sie in die Zeit vor Corona zurück? Was davon wollen Sie nicht in die Zeit danach mitnehmen?«
Welche Wirtschaft wollen wir?
Arbeitsplätze können vermeintlich nur erhalten werden, wenn die Wirtschaft sich auf eine Zeitreise begibt: zurück in den Januar, Februar. Zurück zu einem Konsum, der, wie sich zeigt, so nicht notwendig ist und nur deshalb so stark war, da Menschen ständig Dinge kaufen, die sie nicht benötigen. Die T-Shirts und Unterhosen, die Lippenstifte und Duftkerzen, die während der Ladenschließungen nicht verkauft wurden, brauchte tatsächlich niemand. Viele Menschen haben sich den seltsamen Lebensstil angewöhnt, viel zu arbeiten, um viel zu konsumieren, und füllen nach Feierabend ihre Freizeit mit Konsum. Damit erhält die Art, wie wir freie Zeit verbringen, zwar Arbeitsplätze und kann neue schaffen, aber diese Gewohnheit schreibt den Kreislauf von übermäßiger Produktion und übermäßigem Konsum fort. Der Kreislauf betrügt uns um Zeit: Zeit, die Menschen dafür aufbringen, Überflüssiges herstellen, zu verkaufen, zu kaufen und schließlich wegzuwerfen oder auszusortieren. Ein Teil unserer Wirtschaft basiert auf der Selbsttäuschung, etwas Relevantes zu tun. »Bullshit-Jobs« nannte das der vor Kurzem verstorbene Anthropologe David Graeber.
Auch deswegen erlebten manche Menschen die vergangenen Wochen so widersprüchlich: Auf der einen Seite Angst um den Job und das Einkommen, auf der anderen Seite Erleichterung, davon pausieren zu können. Dann die Sehnsucht danach, nie wieder in diesem Job arbeiten zu müssen. In längeren Pausen vom Job stellen sich Menschen oft die Frage nach dem Sinn ihrer Erwerbsarbeit. Die Pandemie warf diese Frage noch einmal mehr auf, als plötzlich einige Berufe mit dem Label »systemrelevant« versehen wurden und eine ideelle Aufwertung erfuhren: Ohne diese Jobs funktioniert eine Gesellschaft nicht, einige Jobs können keinen einzigen Tag ruhen. Andere Jobs hingegen brauchte es weniger: Man kann tatsächlich zuhause bleiben, nicht erwerbsarbeiten, und die Welt dreht sich weiter.
Umso mehr ist in den Corona-Monaten aufgefallen, dass insbesondere die Jobs, die nicht Pause machen konnten, solche Berufe sind, in denen die Arbeitsbedingungen besonders schlecht sind und die Gehälter niedrig. Berufe, die kein hohes Ansehen genießen und für die Kinder kein anerkennendes Lächeln bekommen, wenn sie Altenpflegerin oder Lagerfachkraft als Traumjob nennen. Mit dem Schritt in die neue Normalität könnte unsere Gesellschaft das verändern. Sie könnte einen Markt kreieren, indem die unverzichtbaren Berufe tatsächlich so bezahlt werden und gestaltet sind, dass sich genügend Interessierte für diese Berufe finden, weil die Bedingungen stimmen. Wie wäre es mit einer neuen Normalität, in der kein Beruf mit Geringschätzung und Scham belegt ist, sondern alle mit Achtung? In der Arbeit so konzipiert ist, dass sie weder seelisch noch körperlich krank macht? Denn die Strategie, nicht nur für eine Pandemie, sondern auch für eine alternde Gesellschaft genügend Pfleger*innen zu haben, kann nicht sein, diese Fachkräfte im Ausland anzuwerben und die Arbeitsbedingungen in der Pflege so zu lassen, wie sie sind. Wir müssen das Klatschen übersetzen in etwas, das spürbar wird.
Und auch in anderen Berufen sollten wir weiter darüber sprechen, wie und wie viel Menschen arbeiten. Die Forderungen nach einem Recht auf Home-Office, aber auch nach einer »neuen Vollzeit«, die zum Beispiel eine Vier-Tage-Woche sein könnte, existieren seit Jahren – damit Erwerbsarbeit besser zu den unterschiedlichen Bedürfnissen von Menschen passt und ihnen die Arbeit erleichtert. Die Pandemie stärkte diese Ideen vor allem aus einer wirtschaftlichen Notwendigkeit heraus und nicht, weil Arbeitnehmer*innen davon profitieren. Wenn nun das Arbeiten von zuhause aus die neue Normalität werden soll, brauchen wir jetzt Konzepte, wie diese Arbeit von Anfang an so gestaltet werden kann, dass alle etwas davon haben und dass sie sich nicht nachteilig auswirkt auf bestimmte Gruppen. Wenn zum Beispiel Eltern und dabei insbesondere Mütter ins Home-Office gedrängt werden, um dort gleichzeitig Kinderbetreuung und Haushaltsarbeiten zu übernehmen, kann sich ihre fehlende Sichtbarkeit im Büro auf ihre Karrierechancen auswirken. Kleine und laute Wohnungen können das Arbeiten zuhause schwieriger machen – und wer stellt eigentlich die technische Ausstattung? Daher braucht die Arbeitswelt mit und nach Corona weitergehende Konzepte als das »Recht auf Homeoffice«, nämlich ausgewogene Konzepte für gute Arbeitsbedingungen, gute Zusammenarbeit und Chancengerechtigkeit für alle Mitarbeiter*innen, die ihre spezifischen Lebensbedingungen berücksichtigen. Dazu gehört ganz sicher der Abschied von der 40-Stunden-Woche, um Menschen mit Care-Aufgaben nicht vor die Wahl zu stellen, in permanentem Stress zu leben oder beruflich zurückstecken zu müssen.
Wie wollen wir Familie leben?
Hätten Eltern schon zu Beginn der Pandemie jeweils in 20-Stunden-Jobs mit ausreichendem Einkommen gearbeitet, wären Kinderbetreuung, Homeschooling und Homeoffice gleichzeitig tatsächlich halbwegs möglich gewesen – vielleicht sogar für Alleinerziehende. Mit 40-Stunden-Jobs ging das nicht. Wer versucht, acht Stunden lang konzentriert zu arbeiten und gleichzeitig ein zweijähriges Kind zu betreuen, wird feststellen, dass er mit Glück in der Mittagsschlafzeit einmal eine Dreiviertelstunde am Stück an einer Aufgabe arbeiten kann. Der Rest der Zeit ist geprägt von Unterbrechungen, nach denen man oft vergessen hat, worüber man gerade nachdachte, und neu in die Aufgabe hineinfinden muss. Man führt ein fünfminütiges Telefonat, beantwortet eine E-Mail, aber die Hauptaufgabe des Tages ist, sich um sein Kind zu kümmern. Die Betreuung kleinerer Kinder, die Anleitung von größeren bei Schulaufgaben plus Arbeit im Homeoffice gleichzeitig, die der vorigen Arbeit im Büro in Umfang und Qualität entspricht – das funktioniert nicht. Nicht einmal mit Kindern, die sich viel selbst beschäftigen. Die Annahme, dass Eltern im Homeoffice ihrer Erwerbsarbeit weiter nachgehen könnten, blendet zudem emotionale und gesundheitliche Faktoren aus.
Welche Normalität ist das, in der Eltern ihr verunsichertes Kind immer wieder zurückweisen sollen, um ungestört arbeiten zu können? Welche Normalität soll das sein, in der Überlastung und Schlafmangel angeordnet werden? Über Monate. Regelmäßige Pausen und elf Stunden Ruhe zwischen dem Ende der Arbeit und dem Beginn der nächsten Schicht sieht der deutsche Arbeitsschutz vor. Auf diese Zeit kommen Menschen, die sich nach ihrem Job auch noch um Kinder kümmern oder Angehörige pflegen, vermutlich an keinem einzigen Tag. Die Bundesfamilienministerin bezeichnete den Corona-Alltag von Eltern als »anstrengend, aber machbar«. Würde ein Vorgesetzter seine Angestellten anweisen, gleichzeitig einen Bus zu fahren und ein Flugzeug zu starten, man würde ihn für verrückt erklären. Familien und Menschen, die sich um andere kümmern, befinden sich dauerhaft am erschöpften Rand unserer Gesellschaft statt in ihrem Zentrum.
Elternschaft in Kombination mit Erwerbsarbeit war schon vor der Krise für viele ein Ausnahmezustand. Eltern wären zwar dankbar, wenigstens den alten Alltag vor der Pandemie zurückzuhaben, doch dieses Leben ist eben nicht das, das sie sich aussuchen würden, würden sie ein Ideal formulieren. Also einen Alltag, der in der Regel ausbalanciert ist und in dem man sich nur manchmal beeilen muss, nur manchmal gestresst ist und nur ab und an ein schlechtes Gewissen hat. Oder vielleicht nie? Einen Alltag, in dem Familienleben nicht nur am Wochenende stattfindet. Die Eltern, die vor der Pandemie ihre Kinder nur kurz beim Frühstück und für einen Gute-Nacht-Kuss sahen, möchten es langfristig beibehalten, mehrmals am Tag miteinander zu lachen, öfter zu sehen, was die Kinder gerade spielen, und all ihre Fragen zu beantworten. Eltern und Kinder haben das gleichzeitig chaotische, fordernde und schöne Miteinander in der Pandemie auch genossen. Ein Teil des gestiegenen Wohlbefindens entstand auch aus dem Mehr an gemeinsamer Zeit. Familienpolitik sollte daher die Bedürfnisse von Familien priorisieren und Ideen dafür entwickeln, wie Familien tatsächlich in Balance bleiben – was sie brauchen jenseits von Geld. Die Familienministerin Franziska Giffey fasste die Kinderbetreuung mit diesem Satz vor einigen Tagen vor allem als Frage wirtschaftlicher Produktivität zusammen: »Eine gute Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist systemrelevant für den Erfolg der deutschen Wirtschaft.« Nein, es ist anders: Vereinbarkeit ist systemrelevant für die Familien selbst.
Wie wollen wir uns fortbewegen?
Vielleicht lautet die erste Antwort auf diese Frage: weniger. Nach dem Digitalisierungsschub in der Wirtschaft muten Meetings, für die man an einem Tag innerhalb von Deutschland hin- und zurückflog, noch einmal absurder an. Es lassen sich nicht alle Treffen ins Digitale verlagern, aber viele. Nachdem die Zahl der Pendler*innen und die Strecke ihrer Wege in den vergangenen zehn Jahren gestiegen ist, könnte unserer Gesellschaft hier endlich eine Trendwende gelingen, und damit könnte sie nicht nur diejenigen entlasten, die lange Strecken zurücklegen müssen, um zur Arbeit zu kommen, sondern zusätzlich die Umwelt.
Die Mängel im ÖPNV und beim Ausbau der Fahrradwege bestanden schon vor der Pandemie, aber vielleicht machen es die Erfordernisse der Pandemie endlich dringlich genug, die Verkehrsteilnehmer*innen, die nicht in eigenen Autos fahren, gleichwertig zu behandeln. Es muss nicht so bleiben, dass Reisen mit öffentlichen Verkehrsmitteln oft länger dauern als mit einem Auto, weil Busse und Bahnen zu selten fahren. Es muss nicht so bleiben, dass eine Rollstuhlfahrerin montagmorgens um acht drei U-Bahnen abwarten muss, bevor genug Platz ist, damit sie einsteigen kann. Wenn man die Taktung im ÖPNV erhöhen würde, ließen sich vermutlich mehr Menschen davon überzeugen, mit der Bahn zur Arbeit zu fahren. Für den Gesundheitsschutz der Fahrgäste muss das im Herbst und Winter ohnehin geschehen. Billigere Tickets bei der Deutschen Bahn könnten den innerdeutschen Urlaub auch für Menschen mit wenig Geld attraktiver machen, statt sich ins Flugzeug zu setzen. Meine Eltern zu besuchen kostet mich nach wie vor mehr als eine Reise an einen italienischen Strand.
In den meisten Städten ist zudem Platz genug, um überall Radwege zu bauen und die Wege sicher zu machen. In Berlin gibt es zum Beispiel seit einigen Jahren die Idee, auf einem stillgelegten S-Bahn-Gleis einen Radschnellweg zu bauen. Dieser Radweg würde Menschen nicht nur schneller von einem Randbezirk ins Zentrum bringen als die S-Bahn es kann, sondern nebenbei dazu führen, dass die S1 nicht jeden Morgen aus ihren Nähten platzt. 2015 glaubte man, der Radweg könne bis 2020 realisiert werden. Passiert ist bislang nichts. Und dann klagen auch noch die radikalen Radweggegner der AfD gegen die in der Pandemie eingerichteten Pop-up-Radwege, die nur ein erster Schritt sein können, bevor endlich schneller genügend dauerhafte Radwege gebaut werden und die Infrastruktur für Fahrradfahrer*innen endlich so gut wird wie die für Autos. Eine Prämie für den Kauf oder die Reparatur von Fahrrädern, wie es europäische Nachbarländer wie Frankreich und Italien vormachten, gibt es in Deutschland dann vielleicht in der nächsten Pandemie. Aber auch ohne diese Prämie wurden im ersten Halbjahr 2020 in Deutschland 3,2 Millionen Fahrräder und E-Bikes verkauft.
Wie wollen wir Geld ausgeben?
Zu wenig Geld zu haben bekamen einige Menschen im Pandemie-Alltag noch einmal deutlicher zu spüren. Denn in Familien, in denen das Einkommen schon vorher kaum für das Nötigste reichte, entstanden durch Homeschooling plötzlich neue Ausgaben für zusätzliche Mahlzeiten, Druckerpatronen und Laptops – aber auch Schutzmasken. Nur, wovon bezahlt man das, wenn kein Geld da ist? Wohlhabende Menschen hingegen erlebten, dass sie sogar sparen konnten, weil durch geschlossene Läden und Restaurants die Gelegenheiten zum Geldausgeben schrumpften. Sie machten die Erfahrung, dass all diese Dinge, die sie vorher immer wieder gekauft oder getan hatten, nicht brauchten, um zufrieden zu sein. Die kurzen Glücksgefühle, die Shopping bringt, lassen sich erzeugen, ohne Geld auszugeben. Freie Zeit kann gefüllt werden mit dem, was wir schon haben. Dafür müssten sich jedoch auch unsere Innenstädte verändern und von Konsumzentren zu Räumen werden, in denen Menschen mehr miteinander machen können als Kaffee zu trinken und Geschenke zu kaufen. Spielplätze für Erwachsene! Mehr Orte, an denen Jugendliche sich treffen können. Großzügige Parks und mehr gepflegte Sandkästen, Schaukeln, Klettergerüste und vor allem Wasserspielplätze für Kinder, die in diesem Sommer nicht in die Freibäder konnten.
Zudem haben viele Familien in den vergangenen Wochen einen Urlaub verbracht, der schlichter war als im Vorjahr, ohne weite Reise. Wir müssen weder uns selbst noch anderen beweisen, wie spektakulär wir planen können. Bewusster, bescheidener und manchmal fantasievoller geht es genauso gut. In der Pandemie erlebten die Konsumfreudigen, dass Verzicht weitaus weniger einschneidend war, als zuletzt in Klimaschutz-Diskussionen behauptet wurde.
Wie lange müssen Veränderungen gelebt werden, damit sie bleiben? In den ersten Wochen der Kontaktbeschränkungen schob ich zum Zeitvertreib in Onlineshops Kleider in den Warenkorb, weil ich dachte, sie könnten mich trösten. Ich wollte mich belohnen, den neuen Alltag so gut durchzustehen. Über Tage hinweg shoppte ich, aber niemals klickte ich auf Bezahlen, denn jedes Mal sagte ich mir wieder: Es gibt keinen Anlass, zu dem ich dieses Kleid tragen werde, ich brauche es nicht, ich habe ohnehin schon genug. Woche für Woche kommt mir meine bestehende Garderobe üppiger vor. Maßlos, wenn ich ehrlich bin. Wann soll ich all diese Kleider je wieder tragen? Manchmal kaufe ich für einen Anlass ein neues Kleid, nur weil es sich gut anfühlt, weil ich mich lebendig fühle, wenn ich mich neu einkleide, statt im Schrank ein paar Monate zurückzuscrollen. Als ich wieder begann, aus dem Haus zu gehen, um Freund*innen zu treffen, zog ich irgendetwas an, das vorn im Schrank hing und passte. Dann verkaufte ich ein Kleid, dann noch eins und noch eins über Second-Hand-Plattformen. Bin ich nach ein paar Monaten bereits geheilt?
Schafft unsere Gesellschaft den Ausgleich zwischen Menschen, die zu wenig Geld haben, um das zu kaufen, was sie brauchen, und denjenigen, die achtlos konsumieren, ohne groß aufs Geld zu schauen? Die gegenwärtige Wirtschaft braucht für ihr Wachstum den ungezügelten Konsum rund um die Uhr, aufrechterhalten durch Wegwerfprodukte und Trends, die intakte Dinge zu Müll erklären. Vielleicht können die Pandemie-Monate ein Anstoß sein, damit Konsument*innen bewusster entscheiden, was davon sie tatsächlich brauchen, und wissen, ob es sie glücklich macht. Die Ökonomie-Professorin Juliet Schor schlug schon 1999 in ihrem konsumkritischen Buch »The Overspent American« verschiedene Ideen vor, um das eigene Konsumverhalten zu verändern und weniger kaufen zu müssen. Sie schlägt unter anderem vor, Werbung höher zu besteuern, damit wir nicht ständig von Kaufaufforderungen umgeben sind. Sie regt an, sich Haushaltsgeräte mit Nachbar*innen zu teilen, sich damit auseinanderzusetzen, wofür unsere Konsumwünsche stehen und wie wir sie verändern könnten – und schließlich sogar regelmäßig zu prüfen, ob es möglich ist, weniger zu arbeiten, mit weniger Geld auszukommen und die frei gewordene Zeit für Dinge zu nutzen, für die uns zuvor die Zeit fehlte. Daneben brauchen aktuell ärmere Menschen jedoch ein Einkommen, das nicht ein Leben in ständigem Mangel bedeutet. Und: Höhere Hartz-IV-Sätze und ein höherer Mindestlohn sind nicht nur ein Mittel gegen Armut, sondern auch ein Konjunkturprogramm.
Wie solidarisch wollen wir sein?
Die hier skizzierten Ideen sind nicht radikal. Es sind Ideen von Solidarität, für eine Gesellschaft, die sich nicht um die Starken herum strukturiert, sondern um die Bedürfnisse von vielen. Ist Rücksicht radikal? Ist es radikal, die eigene Perspektive zu verlassen und anerkennen zu wollen, dass andere Realitäten ebenso wichtig sind wie die eigenen? Der Slogan der Bundesregierung: »Zusammen gegen Corona«, den ich jeden Tag als monotone S-Bahn-Durchsage höre, hat die Solidarität ins Zentrum gestellt, denn ohne sie wird die Pandemie bleiben. Doch was folgt konkret daraus?
Wie lange erinnern sich Menschen an den Impuls, solidarisch zu sein? Auf den Balkonen wird nicht mehr für systemrelevante Berufsgruppen geklatscht. Alten- und Krankenpfleger*innen sollen nun nach langem Hin und Her immerhin eine einmalige Bonuszahlung bekommen. Und dann? Eltern fürchten sich vor den nächsten Schul- und Kitaschließungen, da es weiter kein Konzept dafür gibt, wie sie unterstützt werden sollen, falls Kinder wieder mehrere Monate lang zuhause bleiben müssen. Meine Freund*innen mit Vorerkrankungen fahren nicht mit der Regionalbahn raus aufs Land – zu voll, zu gefährlich. Aber auf der Straße sehe ich manchmal Menschen, die ihre Solidarität nach außen tragen und auf deren Maske der Schriftzug steht: »I wear this mask for you«. Die Nachbarschaftshilfe in meiner Straße hat auf einem Aushang mitgeteilt, dass sich mehr Menschen zum Helfen gemeldet haben, um beispielsweise für Senior*innen einzukaufen, als benötigt wurden.
Von anderen Feminist*innen habe ich gelernt, dass Solidarität dort beginnt, wo es anfängt wehzutun und man sich anstrengen muss. Solidarität beginnt an dem Punkt, an dem ich keinerlei direkten persönlichen Vorteil daraus ziehe, solidarisch zu sein.
»Wir können nicht zur Normalität zurückkehren, weil sie niemals gut genug, fair genug oder gerecht genug war«, schreibt Wadzanai Motsi-Khatai vom Center for Intersectional Justice in einem Beitrag über eine Zukunft nach der Pandemie. Zur Normalität zurückkehren zu wollen hieße also das: dorthin zurück, wo es nur gut für einige war, aber ungerecht für viele. Wer zurück will zu dieser Normalität, hat die Solidarität mit anderen schon wieder vergessen. Wollen wir eine neue Normalität, die besser ist für alle, dann werden wir sehr viel verändern müssen und eintreten müssen für Dinge, die das eigene Leben bislang nicht betroffen haben. Aber genau das ist Solidarität.