Wenn ich es recht sehe, war meine Mutter der einzige Mensch in unserer Familie, der mit dem Christkind persönlich bekannt war. An jedem Heiligen Abend gegen fünf Uhr sagte sie plötzlich, sie habe nun das Gefühl, das Christkind komme bald. Was für uns Kinder nicht hieß, es zu begrüßen, sondern das Zeichen war, mit den Großeltern in den ersten Stock zu gehen und Mensch ärgere dich nicht zu spielen. In dieser Zeit wurde das Christkind von der Mutter empfangen, vielleicht auch vom Vater, aber er schien nur eine Nebenrolle zu spielen.
Denn kaum war eine halbe Stunde verstrichen, schrillte die laute, grelle Klingel an der Haustür und wiederum die Mutter rief: »Das Christkind war da!« Wir rannten los, in Erwartung einer Lokomotive für die Modelleisenbahn oder eines Buches aus der Reihe Das neue Universum; das waren von mir sehr geliebte Jahrbücher mit Berichten über Erstaunlichkeiten aus aller Welt, »Großwerften für Riesenschiffe« oder »Kuba - die Rote Zuckerinsel«. Da gab es einmal einen Bericht über die Maya und wie sie ihre Götter mit jungen Menschenopfern gnädig zu stimmen suchten, denen bei lebendigem Leib die Herzen herausgerissen wurde. Ich war froh, dass das Christkind jungen Menschen wie mir Modelleisenbahnen und Bücher schenkte, statt unsere pochenden Herzen zu verlangen.
Aber nie habe ich dieses Christkind gesehen, immer war es schon da gewesen. Immer hatte es sich mit diesem Klingelton verabschiedet, das einzige Wesen, das an unserem Haus klingelte, wenn es ging, nicht wenn es kam.
(Axel Hacke ist Jahrgang 1956.)