Kindheit im Kreml

Nicht für alle Russen war Josef Stalin der Diktator. Für Tamara Sobolewa war er vor allem der Vater ihres Spielkameraden Wassja. Tamara ist eine der letzten Töchter des Kremls.


Geboren im Mai 1921, wohnte sie die ersten zwölf Jahre ihres Lebens im Kreml, sie verbrachte dort mehr Zeit als Putin und Medwedew zusammen und schlief öfter innerhalb der Festungsmauern als Gorbatschow, Jelzin oder Chruschtschow. Was anderen Kindern der Spielplatz war oder die Nachbarsscheune, waren ihr die Paläste, die Kathedralen mit den goldenen Kuppeln, die Türme russischer und italienischer Baumeister; sie spielte Fangen um die Zarenglocke, kroch in die Zarenkanone, versteckte ihre Puppen in den Wandnischen des Großen Kremlpalastes.

Heute sitzt Tamara, 88, die grauen Haare zu einem Dutt gebunden, in ihrer Wohnung am Moskauer Stadtrand im 15. Stock eines grauen Wohnkomplexes. Der Blick aus dem Fenster fällt auf rauchende Schlote. Eng ist die Zweizimmerwohnung, die sie jetzt mit ihrem Sohn teilen muss: »Nur 13,3 Quadratmeter habe ich für mich«, sagt sie, »schreiben Sie das ruhig auf.« Es gibt Tee und Tamara erzählt von der Zeit vor bald hundert Jahren, als die Sowjetunion gerade erst geboren war. Als 2000 Menschen – ein ganzes Dorf – im Kreml lebten. Hunderte Kinder tobten damals herum, wo heute Touristen von Wachleuten zurückgepfiffen werden, wenn sie nur den markierten Pfad verlassen, und wo heute bloß noch die Soldaten des Präsidialregimentes wohnen. »Die ersten Jahre im Kreml waren unbeschwert«, erzählt Tamara Sobolewa. Sie wohnte im Tschugunnij-Korridor, im ersten Stock, Dusche im Gang. Nicht besser oder schlechter als anderswo in Moskau. Es war die Zeit, als der Kreml noch offenes Gelände war, ohne Wachen, ohne Einschränkungen für Kinder wie sie oder Wassja, Stalins Sohn. »Wobei Wassja und ich nicht direkt befreundet waren«, sagt sie, »aber wir haben oft miteinander gespielt und miteinander gestritten.«

Bescheiden sei er gewesen und höflich. Auch sein Vater, Josef Stalin, kam immer wieder dort vorbei, wo sie wohnte, an der Großen Kommunistischen Straße. Man grüßte sich, das war alles. »Wir waren ja Kinder.«

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Nur einmal war es anders: Da wurde Tamara auf dem Kremlgelände von einem Auto angefahren und brach sich den linken Unterschenkel. Im Wagen saß Sergo Ordschonikidse, Revolutionär der ersten Stunde und berüchtigt obendrein. Als er hörte, dass Tamara ins Krankenhaus musste, wies er seine Frau an, sich bei Tamaras Mutter zu melden und gute Besserung zu wünschen.

Wieder genesen, traf Tamara dann im Kremlhof jenen Ordschonikidse wieder, mit Stalin und Molotow. »Stalin sagte mir, ich solle stehen bleiben, er fragte Ordschonikidse: ›Ist sie das?‹ Der nickte. Dann fasste Stalin mich am Kinn und fragte, ›Wie geht es dir, Tomotschka? Was macht das Bein? Schmerzt es?‹ Ich sagte Nein, und Stalin sagte: ›Nun, dann geh! Geh spazieren!‹ Als ich weglief, drehten alle drei sich noch einmal zu mir um. Sie wollten sehen, wie stark ich noch hinke.« Hatte sie Angst? »Nein, für mich war er damals nur Wassjas Vater.«

Das sollte sich ändern. Tamara Sobolewa war zu klein, um die große Politik zu verstehen, aber dass sich das Land verdüsterte, das spürte sie, und sie erlebte es: Stalin ließ, von Misstrauen getrieben, jedes Mal den Kremlhof räumen und die Kinder wegscheuchen, wenn er mit dem Wagen einfuhr. Die Gespräche auf den Kreml-Korridoren wurden leiser, die Menschen vorsichtiger. »Es kam auch keiner mehr zu uns zu Besuch, weil man dafür plötzlich eine Genehmigung brauchte.«

1933 zogen die Sobolewas aus dem Kreml in ein Haus am Moskwa-Ufer. Es dauerte mehr als siebzig Jahre, bis Tamara Sobolewa wiederkam. Der Kreml war zur Sperrzone geworden.

Erst vor fünf Jahren durfte sie noch einmal an den Ort ihrer Kindheit. Sie nahm sich vor, eine Handvoll Erde mit zurückzunehmen, eine Handvoll Heimat. Dann stand sie dort, auf dem Hof des Kremls, und ringsum war nur Asphalt.

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Als Frank Nienhuysen, seit 2008 SZ-Korrespondent in Moskau, im August 1991 zum ersten Mal den Kreml besuchte, herrschte Ausnahmezustand: Der Putsch gegen Gorbatschow war gerade gescheitert und die Moskauer feierten. Heute kommt Nienhuysen jeden Morgen am Kreml vorbei: Er steigt dort um in den Bus zu seinem Büro.

Foto: Justin Jin/Agentur Focus