SZ-Magazin: Sie wurden nach dem Krieg geboren und haben Ihren Großonkel, den Onkel Ihres Vaters, nie kennengelernt. Welches Bild haben Sie vor Augen, wenn Sie an ihn denken?
Bettina Göring: Ich weiß inzwischen zu viel, um nur ein einziges Bild von ihm zu haben. Noch vor zehn Jahren dachte ich an ihn als eine Witzfigur in der weißen Uniform, die er selbst entworfen hat. »Rechts Lametta, links Lametta, und der Arsch wird immer fetter«, so lautete ein Spruch über ihn.
Welche Worte fallen Ihnen heute ein, um ihn zu beschreiben?
Eitel, gierig, größenwahnsinnig, gleichzeitig gütig, beschützend, charmant.
Das Wort Monster kommt Ihnen nicht in den Sinn?
Früher schon. Heute würde ich den Begriff nicht mehr benutzen. Hermann Göring war ein Massenmörder und Psychopath, der sehr charmant sein konnte. Monster sind nicht charmant, oder? Rudolf Höß, der Kommandant von Auschwitz, war sicherlich ein Sadist und Monster. Hermann Göring war ein Psychopath, der seine Unterschrift unter den Plan zur Vernichtung der Juden entweder einfach druntergesetzt hat, weil es ihm egal war, oder aus Überzeugung – und ich weiß nicht, was ich schlimmer fände.
Dass Göring Leute einwickeln konnte, hat man oft gehört. Der US-Offizier, der ihn 1945 in Österreich festnahm, lud ihn erst mal zum Essen ein.
Hermann hat auch eine seiner Wachen dazu überredet, ihm das Zyankali zu besorgen, mit dem er sich kurz vor der anberaumten Hinrichtung umgebracht hat. Hat dieser Amerikaner erst kurz vor seinem Tod gestanden.
Aber wie passt die Beschreibung eines Psychopathen mit dem Wort gütig zusammen?
Als Kind habe ich das Bild eines Mannes vermittelt bekommen, der sich um meinen Vater und andere Familienmitglieder gekümmert hat. Später habe ich das als Ausflucht abgetan. Das Bild des Psychopathen mit dem des guten Onkels zusammenzubringen, dafür habe ich dann mein ganzes Leben und einige Psycho-Workshops gebraucht.
Reicht der Fluch des Nachnamens bis zu einer Großnichte?
Die Nazi-Vergangenheit in der Familie ist sicher viel einfacher zu verarbeiten, wenn man etwas entfernter ist und kein direkter Nachkomme, wie etwa Rainer Höß, der Enkel des Auschwitz-Kommandanten, oder Niklas Frank, der Sohn des »Schlächters von Polen«. Meine Eltern waren cool. Trotzdem musste ich mich erst mit meinem Großonkel beschäftigen und mich in gewisser Weise auch ein Stück in ihn hineinversetzen, um mich mit meiner Familie zu versöhnen.
Sie meinen, Sie haben den Stellvertreter Hitlers verstehen, ihm sogar verzeihen gelernt?
Nein, so weit geht das nicht. Aber meine Großmutter Ilse liebte und verehrte ihren Schwager Hermann und blieb bis an ihr Lebensende ein Super-Nazi. Sie wurde von Hermann protegiert, er hat ihr in den Dreißigerjahren einen hohen Funktionärsjob beim Roten Kreuz vermittelt, als eine von ganz wenigen Frauen machte sie im Dritten Reich Karriere. Er war nicht nur ihr Schwager, sondern zugleich ihr Onkel – Inzest war in dieser Familie verbreitet. Sie blieb ihm bis zu seiner Verhaftung treu. Ich kann heute verstehen, dass sie ihn mochte. Wahrscheinlich hätte ich ihn sogar selbst gemocht, wenn ich ihn persönlich kennengelernt hätte. Jedenfalls bin ich so weit, dass ich meiner Großmutter verzeihen kann. Ich kann meine Großmutter wieder lieben, jetzt kommen auch die ganzen guten Erinnerungen an sie wieder. Ich betrachte mich als glücklich. Meinem Vater zu verzeihen war einfacher. Er war immer nur ein Mitläufer. Einer, der gern mit seinen beiden Brüdern auf die Napola ging und alte Freundschaften von dort auch nach dem Krieg noch pflegte.
Sie wurden 1956 geboren. Wie sah Ihr Elternhaus in den Sechzigerjahren aus?
Wir lebten in Wiesbaden. Die Ehe meiner Eltern war eine Katastrophe. Mutter führte nach dem Krieg eine große Schneiderei. Ihr Vater war evangelisch und gegen die Nazis, den liebte ich. Sie ernährte die Familie, war Workaholic und später auch Alkoholikerin. Wenn ich aus der Schule heimkam, musste ich sie oft ins Bett bringen. Mein Bruder und ich hatten eine Haushälterin, die wir Käthe-Mum nannten. Papa war ein Bohemien, ein Nichtsnutz, der kaum gearbeitet hat. Ich glaube nicht, dass er Nazi war, nach dem Krieg hat er sogar FDP gewählt, einmal sogar uns Kindern zuliebe DKP. Sein eigener Vater war früh gestorben, auch seine beiden Brüder, die bei einer Jagdfliegerstaffel waren, so wie Onkel Hermann im Ersten Weltkrieg. Mein Vater hat es als Brillenträger nur zum Aufklärungsflieger gebracht. Hermann war Onkel meines Vaters und zugleich sein Patenonkel. Nach dem Tod seines Bruders hat er sich um meinen Vater und dessen Brüder wie um seine eigenen Kinder gekümmert, hat Großmutti Geld zugesteckt. Nach dem Krieg hatte mein Vater nie mehr Geld. Er rebellierte gegen Großmutter, dabei besaß er doch den gleichen Standesdünkel aller Görings, den Glauben, etwas Besseres zu sein.
Hermann Göring stammte aus einer reichen Familie.
Die Männer aus der Göring-Familie haben eigentlich immer reiche, hochnäsige Frauen geheiratet. Aber Hermann wurde als Kind einer Gouvernante geboren, sie kam aus der Arbeiterschicht, das empfand Hermann als Makel, auch deswegen wurde er so profilierungssüchtig. Seine Mutter hatte später ein Verhältnis mit Hermann Epenstein, Ritter von Mauternburg. Den Titel hat er sich gekauft. Interessanterweise ein Halbjude, und lange hieß es, Hermann sei auch dessen uneheliches Kind – erst seit 1996 weiß man, dass das nicht stimmen kann. Da hat ein Genealoge Unterlagen ausgewertet, die auf irgendeinem Speicher gefunden wurden. Hermann bewunderte Epenstein, und bekam später auch zwei Burgen aus dessen Nachlass. Hermann wollte immer wie Epenstein sein, daher auch seine Neigung zu Pomp und selbstentworfenen Fantasieuniformen oder das Horten von Landsitzen, Bildern, Antiquitäten. Er hat ja sogar Bauernhäuser angemietet, weil er gar nicht mehr wusste, wohin mit dem Zeug.
Wann zog die Großmutter, die Mutter Ihres Vaters, zu Ihnen?
1967, auf einmal hatten wir so tolle Möbel: Ich erinnere mich an so einen flämischen Schrank mit sicher 150 verschiedenen geschnitzten Figuren darauf. Hermann hatte meiner Großmutter Ilse im Krieg eine ganze Waggonladung in Holland an den Zug hängen lassen, das habe ich erst spät herausgefunden. Wir sind wie die Raubritter, hat mir Papa als Kind irgendwann ganz stolz erzählt. Das fand er also gut. Dabei hatte Hermann die Möbel und Kunstgegenstände, die er gehortet hat, angeblich immer aus der Staatskasse bezahlt. Auch Carinhall, sein protziges Schloss in Brandenburg, hat das deutsche Volk bezahlt. 1967 musste meine Mutter auch die Schneiderei aufgeben, und danach ging bei uns zu Hause alles den Bach runter. Großmutti hatte Syphilis, die hat ihr der zweite Ehemann angehängt, Rudolf Diels, der erste, von Hermann berufene Gestapo-Chef, der sie 1943 sicher nur heiratete, um sich den Schutz von Hermann zu sichern. 1957 hat er sich angeblich aus Versehen bei der Jagd erschossen, niemand hat ihm nachgetrauert. Mutter kümmerte sich um Großmutti, obwohl die sie immer schlecht behandelt hatte. Aber Mutter hatte im Krieg ja als Krankenschwester gearbeitet.
Penicillin konnte Ihrer Großmutter nicht mehr helfen?
Dafür war es zu spät, sie hat erst im Endstadium von ihrer Infektion erfahren. Für ein Kind war es sehr unheimlich mitzubekommen, wie sich die Krankheit langsam durch das Gehirn fraß. Ihre Pupillen bewegten sich irgendwann nicht mehr. Sie brauchte auch einen künstlichen Darmausgang. Zwölf Jahre hatte Großmutti Glück und gehörte zur High Society der Nazis, aber das hat sie mit ihrer Krankheit büßen müssen. Ich kann sie nicht mehr verurteilen heute. Als Kind war ich sehr eng mit ihr. Alle anderen in der Familie hatten Angst vor ihr. Sie war eine arrogante Frau.
Was für Geschichten vom guten Onkel kursierten bei Ihnen zu Hause?
Hermann, der Patron und Beschützer, auf den sich die Familie verlassen konnte, der alle immer rausgeboxt hatte, auch seinen Bruder Albert, den sogenannten guten Göring, sogar einige Juden – »Wer Jude ist, bestimme ich«, sagte er. Hermann, der hochdekorierte Fliegerheld, der nach dem Ersten Weltkrieg nach Schweden ausgewandert ist, dort geholfen hat, die zivile Luftfahrt aufzubauen, und Geld als Taxiflieger verdient hat. Südlich von Stockholm tobte einmal ein Sturm, Hermann war der Einzige, der sich traute, einen Schlossbesitzer nach Hause zu fliegen: Eric von Rosen. Auf dessen Schloss entdeckte Hermann das Hakenkreuz als Deko und eine Dame, die eine Treppe herunterkam – es war Liebe auf den ersten Blick. 1920 war das. Carin war verheiratet, und wurde in der Gesellschaft geächtet, weil sie sich mit dem Ausländer einließ. Beide sind nach Deutschland gezogen. Sie hat ihr Kind zurückgelassen. Nach dem Bürgerbräu-Putsch in München sind sie nach Österreich, Italien und wieder nach Schweden geflohen, bevor sie nach Deutschland zurückkehrten, wo Carin als eine Art Priesterin von den Nazis verehrt wurde. Sie war ja sehr vertraut mit der nordisch-arischen Mythologie. Solche Geschichten bekamen wir erzählt. Eric von Rosen wurde überzeugter Nazi und war oft auf Carinhall zu Gast. Einer seiner Enkel wollte lange nach dem Krieg die Sünden seiner Familie gutmachen und hat Hilfsflüge in Westafrika durchgeführt. Eine Guerilla hat ihn abgeschossen. Verrücktes Karma. Einmal sind mein Vater, mein Bruder und ich hochgefahren nach Rockelstad und haben Rosens Enkelkinder besucht. Verarmter Adel, keine Bediensteten, sehr sympathisch. Acht oder neun Jahre alt war ich da, das war der beste gemeinsame Urlaub, den wir je hatten.
Warum hat Ihr Vater Ihnen die Fliegergeschichten seines Onkels erzählt, wenn er doch, wie Sie glauben, kein überzeugter Nazi war?
Ich glaube, er hat seinen Onkel und Patenonkel einfach bewundert, wie auch Bewunderung in den Erzählungen über Ernst Udet, den Flieger, oder Leni Riefenstahl mitschwang, die Helden der Nazizeit. Mein Papa war ja auch Flieger. Ich hatte sogar das Gefühl, dass Papa Hermann geliebt hat. Die Uhr, die Hermann ihm einmal geschenkt hatte, trug er auch nach dem Krieg, eine mit Gravur auf der Rückseite und mit Sonne, Mond und Sternen im Zifferblatt. Hermann hatte zu dem Zeitpunkt keine Kinder und hat meinen Papa wie einen Sohn angenommen.
Hat Ihre Großmutter je antisemitische Bemerkungen fallen lassen?
Nicht dass ich mich erinnere. Außer der Redewendung: Warum denn diese jüdische Hast? Aber die hatten auch mein Vater und sogar meine Mutter verwendet, die alles andere als antisemitisch war.
Hingen nach dem Krieg noch Fotos von Hermann bei Ihnen zu Hause?
Nein. Nur von den gefallenen Brüdern meines Vaters. Die Familie hatte die meisten Fotos im Krieg verloren. Sehr viel später, als mein Vater 1981 gestorben ist, fand ich eines von Hermann in einer Kiste. Es stammte aus einer Zeit, als er noch dünn und jung war. Darauf sah er mir irrsinnig ähnlich. Ich habe einen großen Schreck bekommen und das Foto gleich zerrissen. Aber ich wusste natürlich, ich würde mich mit dem Thema noch einmal ausgiebig auseinandersetzen müssen.
Wie alt waren Sie, als Sie erfuhren, dass Ihr Großonkel ein Kriegsverbrecher gewesen war?
1967, da war ich elf. Wir hatten gerade unseren ersten Fernseher bekommen und sahen eine Dokumentation über Auschwitz. Großmutter stritt alles als Lüge ab, sie sagte, Hermann sei ein toller Mann gewesen. Das Leugnen machte meinen Bruder so wütend, dass er einen Holzschuh nach ihr geworfen hat. Ich habe ihn festhalten müssen, bis er sich beruhigt hat. Von da an haben mein Bruder und ich uns jedenfalls für unseren Nachnamen geniert.
Ihr Vater hat Auschwitz nicht geleugnet?
Nein, dennoch hab ich ihn mit 13 einmal beschimpft: »Deine Scheiß-Göringfamilie, machst nie was und lässt dich bedienen wie ein Pascha.« Ich habe die aufgestaute Wut meiner Mutter übernommen und ihn provoziert. Er hat ja nie viel Geld verdient. Als Mutter ihren Betrieb zusperrte, musste er mal ran. Eigentlich hat er mich nie geschlagen, aber damals hat er mir mit dem Göring-Siegelring in die Fresse gehauen, so, dass ich geblutet habe.
Mit dem Ring, den Sie jetzt tragen?
Nein, dieser hier stammt von meiner Großmutter. Siegelringe wurden hauptsächlich an die Söhne weitergegeben, aber Frauen bekamen ihn auch. Ich trage ihn nur gelegentlich. Als Symbol dafür, dass ich heute mit mir im Reinen bin. Ich kann das Unrecht und die Geschichte ja nicht ungeschehen machen. Ich habe später in so vielen Ländern gelebt und mein Deutschsein dennoch nicht verloren.
Sind Sie damals auf Ihren Namen angesprochen worden?
Wir waren in Wiesbaden ja nicht die einzigen Nazi-Kinder, und den Göring mochten alle noch lange nach dem Krieg. War mir das peinlich, wenn ein Taxifahrer von Hermann zu schwärmen begann! In den Sechzigerjahren war der Name aber kein großes Thema. Deutschland war ja voller Nazis. Die Entnazifizierung war abgebrochen worden, in der Justiz und der Industrie brauchte man die alten Nazis, nur die Görings hatten ihre Jobs verloren. Auch in der Schule war das Dritte Reich kein Thema. Die Lehrer haben abgeblockt und nur Daten der Schlachten verlesen. Aber ich zog schnell von zu Hause aus, wurde in den Siebzigern Hippie und fing an, mich selbst richtig mit der Geschichte zu beschäftigen. Meine neuen Freunde fanden eher toll, dass wir Görings übergelaufen sind.
Sie haben viele Jahre in Indien gelebt, heute pendeln Sie zwischen Santa Fe und Kho Samui. Sind Sie vor den Görings geflohen?
Ich bin schon mit 13 das erste Mal von zu Hause geflohen, lebte in WGs, klaute mir Essen zusammen, meine Freunde und ich betrachteten das als politischen Protest. Zu Hause ging ich aber immer noch ein und aus. Mit zwanzig bin ich dann aus Deutschland weg. Nach dem Abitur erst mal ein Jahr nach Mexiko und Costa Rica zum Spanischlernen. Als ich da zufällig in lauter alte Nazi-Familien aus Deutschland geriet, hatte ich einen Nervenzusammenbruch und landete einen Monat in der Psychiatrie. Da wurde mir klar, was für ein riesiges Thema ich zu bewältigen hatte. Erst bin ich nach Griechenland, und mit 24 ging ich zu Bhagwan nach Poona. Habe geheiratet und die günstige Gelegenheit ergriffen, meinen Namen abzulegen, um diese Scheiße nicht mehr mitzuschleppen. Dabei bin ich emanzipiert und wollte meinen Namen nie ändern. Die Ehe ging bald in die Brüche. Als ich 1988 meinen heutigen Mann kennenlernte, habe ich gleich gebeichtet, dass ich aus der Göring-Familie komme. Hat ihn Gott sei Dank nicht gestört. Meine Eltern führten eine schlechte Ehe, mein Bruder und ich führen ganz gute Beziehungen.
Sie haben sich sterilisieren lassen. Aus Angst vor bösen Genen?
Unbewusst hat das bei der Entscheidung sicher mitgeschwungen, aber ich wollte auch einfach keine Kinder bekommen. Viele Sannyasins waren ichbezogen und ließen sich sterilisieren. Mein Bruder auch, aber er hat ganz ostentativ gesagt: Ich durchtrenne die Blutlinie. Israelische Bekannte haben uns deswegen übrigens vorgeworfen, mein Bruder und ich seien genauso schlimm wie die Nazis mit ihrem Rassenwahn. Später bin ich trotz Sterilisation schwanger geworden. Aber ich hatte eine Fehlgeburt, das war furchtbar, ich war nie so depressiv wie zu dieser Zeit.
Hat Bhagwan Ihnen geholfen, den Fluch des Namens loszuwerden?
Ich bin nicht unbedingt deswegen hingegangen. Ich liebe Kommunen, und die Sannyasins wurden meine Ersatzfamilie. Mein Bruder und mein späterer Mann wollten erleuchtet werden, ich nicht. Die meisten Sannyasins kamen zu Beginn aus Deutschland, Italien, Japan, alles faschistische Länder, in denen der jungen Generation männliche Vorbilder fehlten. Verrückt. Bhagwan hat das sogar thematisiert. Er hat es auch benutzt, als er eines Tages meinen Geburtsnamen erfuhr, und verkündet: Unter uns sind die Kinder von Hitler, Göring und Goebbels. Typisch Bhagwan. Die Bild stand gleich auf der Matte. 1981 ist Bhagwan oder Osho, wie er sich später nannte, wegen Steuerschulden nach Oregon geflohen, wo sich einige aus dem engsten Führungskreis Machtkämpfe lieferten und gegenseitig umzubringen versuchen. Wir haben das Kindergartenfaschismus genannt. War eine irre Erfahrung für uns Nazi-Kinder. Sehr desillusionierend. Die Gefahr des Faschismus besteht überall, wo Menschen absolute Macht haben. Meine Sicht auf Großmutter ist da mit einem Schlag viel milder geworden, als ich selbst miterlebt habe, wie schnell eine Gemeinschaft korrupt und mörderisch werden kann. Auf einmal konnte ich auch meine Eltern besser verstehen, die ich als feige Mitläufer verurteilt hatte.
Was haben Sie gemacht, als Sie sich von Bhagwan lösten?
Ich bin erst nach Kalifornien, lernte meinen heutigen Mann kennen und zog später mit ihm nach Santa Fe. Habe Heilberufe erlernt, Akupunktur, chinesische Medizin. Da war ich schon 36. Heute stammt die größte Gruppe unter den letzten Sannyasins in Poona übrigens aus Israel.
Wie kam Ihr Bruder mit dem Namen zurecht?
Mein Bruder sagt, er hätte nichts zu tun damit und nie drunter gelitten. Er ist Wassermann vom Sternzeichen, wie unser Vater, und kann Emotionen gut wegdrücken.
Gibt es noch viele Görings in Deutschland?
Wir sind eine Riesensippe. Nazis waren viele aus der älteren Generation. Weil Hermann jeden finanziell unterstützt und begünstigt hat. 2011 gab es ein tolles Familientreffen am Starnberger See. Da habe ich einige Cousins kennengelernt, mit denen ich mich gut verstehe.
Sind die Geschichten Ihrer Cousins ähnlich?
Ja und nein. Ich war viel näher an Hermann dran als die beiden, an die ich denke, aber sie haben es viel schlimmer abbekommen. Wollen auch nicht an die Öffentlichkeit gehen. Interessanterweise haben beide nur Töchter bekommen. Das war für sie eine Erleichterung, denn der Name kann zur großen Belastung werden: Der Vater von einem ist zu Unrecht wegen fahrlässiger Tötung verurteilt worden – vor allem wegen seines Namens –, hat Berufsverbot bekommen und sein ganzes Leben um seine Rehabilitation gekämpft. Viele Görings wurden allerdings superehrgeizig und machten Karriere, als Psychologen, in der Justiz. Sieht so aus, als ob sie sich selbst beweisen mussten, wie das oft in reichen Familien geschieht, wo die Eltern Richter oder Ärzte oder sonst was sind. Ich habe immer jede Führungsposition abgelehnt.
War Edda, die 1938 geborene Tochter von Hermann Göring, auch beim Familientreffen?
Nein, sie kam nicht, sie lebt ja sehr zurückgezogen in München. Ich habe ihr nach dem Treffen einen Brief geschrieben, um mich zu erkundigen, ob sie vielleicht etwas Interessantes über meinen Vater und Ilse wüsste, woraufhin sie mich angerufen hat. Sie war sehr nett und liebenswürdig. Wir haben vielleicht zehn Minuten telefoniert. Sie sagte: Du, ich weiß eigentlich gar nicht viel über deinen Papa. Aber dann hat sie gleich viel über ihn erzählt. Sie will nicht interviewt werden: Ich habe ein schweres Leben gehabt und will meine Ruhe, sagt sie. Sie hat ganz wenige Freunde, und das ist ihr auch ganz recht. Ich kann das respektieren, wenn man nicht an die Öffentlichkeit will, und bin sehr dankbar, dass sie sich gemeldet hat.
Sind Raffgier und Protz in der Familie auch nach Hermann Göring aufgetreten?
Nee, eher im Gegenteil. Die altreiche Göring-Familie fand ihn als Neureichen sogar peinlich. Benutzt haben sie ihren persönlichen Familienkontakt zur Nazi-Führung allerdings alle. Auf ihn war Verlass. Aber er galt in der Familie als Witzfigur. Carinhall war ja völlig daneben. Man muss dazu sagen, dass die obersten Nazis alle auch unter Drogen standen. Hermann war morphiumsüchtig, seit ihm beim München-Putsch in die Eier geschossen wurde, ihn ein jüdischer Arzt wieder zusammengeflickt hatte und er ständig Schmerzmittel brauchte. Größenwahn und Gefühllosigkeit sind Nebeneffekte von Morphium. Er war mehr als zwanzig Jahre süchtig, hat oft einen Entzug probiert, aber erst in Nürnberg ist er vom Morphium losgekommen. So schlank und gesund wie vor seinem Tod mit 53 Jahren war er sein Lebtag nicht.
Was ist mit dem Erbe Ihrer Großmutter geschehen, die von Hermann so viele Möbel geschenkt bekommen hatte?
Papa hat die Möbel vor seinem Tod verkauft und Schulden beglichen. Die waren 1980 alle in schlechtem Zustand, aber er hat immer noch viel Geld dafür bekommen. Ein Schreibtisch ist aber immer noch da, ich weiß nicht, was ich damit machen soll. Louis-Quatorze, der ist bestimmt aus irgendeinem Güterwagon, meine Mutter hat ihn weiß lackiert. Mein Bruder und ich wollten nie Geld mit dem Göring-Erbe unserer Großmutter machen. Als ich bei Papa nach seinem Tod ausgeräumt habe, fand ich noch einen Riesendiamantring, mit Mitte zwanzig hatte ich keine Vorstellung, wie wertvoll der war. Den habe ich getragen, in Poona ist der kaputt gegangen. Alles, was aus dieser Familie kam, ist mir – bewusst oder unbewusst – kaputt gegangen oder geklaut worden.
Hat irgendjemand aus der Familie versucht, seinen Namen abzulegen?
Ein Cousin hat es vor Gericht versucht. Vergeblich. Der Richter meinte, mit Hitler würde das gehen, mit Göring nicht.
Sie schreiben gemeinsam mit einer Autorin an Ihrer Biografie mit dem Titel Der gute Onkel. Müssen Sie fürchten, in der Familie als Nestbeschmutzerin zu gelten?
Die Aufarbeitung der Familiengeschichte ist meine Mission geworden. Ich will mich selbst heilen, aber die Geschichte ist wichtig genug, dass sie auch anderen helfen wird. Und das Nest ist beschmutzt. Ich bin eigentlich der Nestreiniger.
Fotos: Andrea Gjestvang