SZ-Magazin: Wer war Ruth Landshoff und was für eine Rolle spielte sie im Berlin der Zwanzigerjahre?
Jan Bürger: Sie war so etwas wie ein Idol - eine Ikone jener Bewegung, die damals die Frauenrolle neu definierte. Das begann schon bei der Frisur: Sie wurde für ihre Kurzhaarfrisur, ihren Bubikopf, bewundert, ihr Stil fand viele Nachahmerinnen. Man kannte sie auch als junge Frau, die selbst Auto fuhr - damals alles andere als üblich. Und natürlich ging es im Bereich des Erotischen um die Neudefinition der Geschlechterrollen.
Wie hat sich das geäußert?
Zum Beispiel hat sie zusammen mit Francesco von Mendelssohn, einem homosexuellen Freund, Sachen gemacht, die man heute Cross-Dressing nennen würde. Sie trat als Jüngling im Smoking mit aufgeschminktem Bart auf, er als Frau im Abendkleid. So zogen sie durch die Berliner Bars.
Was hatte Ruth Landshoff für einen familiären Hintergrund?
Sie war die Nichte des Verlegers Samuel Fischer und traf schon als Kind Autoren wie Thomas Mann und Gerhard Hauptmann. Aus diesem Milieu heraus kam sie an den Dramatiker Karl Vollmoeller, einen deutlich älteren Mann, von dem auch die Fotos stammen, die wir im vergangenen Jahr entdeckt haben. Zwischen den beiden gab es zuerst eine Liebesbeziehung, die dann zu einer Art kumpelhaften Ehe wurde. Man blieb sich nahe, unterstützte sich gegenseitig, aber das war wohl auch alles. Zusammen führten Landshoff und Vollmoeller im Berlin der Zwanziger ein Leben zwischen Boheme und Großbürgertum, mit allem, was dazugehört - Cafés, Salons, Nachtclubs, politische Debatten, Hinterzimmer. Die beiden haben ziemlich alles mitgenommen.
Der Name Karl Vollmoeller sagt einem heute nichts mehr.
Mag sein, aber jeder kennt noch den Film Der blaue Engel. Zusammen mit Carl Zuckmayer und Robert Liebmann hat Vollmoeller das Drehbuch geschrieben, und er war mitverantwortlich dafür, dass Marlene Dietrich die Rolle als fesche Lola bekam. Vollmoeller war damals ein sehr erfolgreicher Dramatiker aus dem Umfeld von Max Reinhardt. Seine Stücke wurden sogar am Broadway gespielt! Er kam aus einer schwäbischen Industriellenfamilie und hat einen äußerst aufwändigen Lebensstil gepflegt, mit einer riesigen Wohnung am Pariser Platz und als Zweitwohnsitz dem Palazzo Vendramin direkt am Canal Grande in Venedig.
Ein alter Mann, der mit seinem Geld eine junge Frau beeindruckt und dann Nacktfotos von ihr macht – das klingt nach einer potenziell heiklen Beziehung.
Das stimmt, und im Licht der aktuellen #MeToo-Debatte fällt das besonders auf. Deshalb trägt die Ausgabe des Marbacher Magazins, in der die Fotos jetzt erscheinen, auch den Titel Im Schattenreich der wilden Zwanziger. Damit wird schon ein gewisses Unbehagen formuliert, das auch zu diesen wunderbaren Fotos gehört. Aber natürlich ist es unmöglich, aus der Distanz von bald 100 Jahren eine solche Beziehung zu verurteilen. Das wäre vermessen. Der Umstand, dass die beiden ein Leben lang in enger Verbindung blieben, sich in ihrer gegenseitigen Fürsorge treu waren und Landshoff nach Vollmoellers Tod sogar dessen Nachlass verwaltete, spricht dagegen, dass sie sich von ihm ausgebeutet fühlte oder in Wahrheit eine Abneigung gegen ihn hegte. Außerdem ist auch klar, dass sie die Kontakte, die sie durch Vollmoeller bekam, auf sehr geschickte Weise für ihr eigenes berufliches und gesellschaftliches Fortkommen genutzt hat.
Wie hat sie das angestellt?
Anfangs war sie eine ziemlich erfolglose Schauspielerin und ein Gesicht auf vielen Fotos, die Aufsehen erregten. Der Magazinjournalismus, wie Sie ihn zum Beispiel beim SZ-Magazin pflegen, kam damals gerade auf. Dies hing auch damit zusammen, dass sich die technischen Möglichkeiten, Fotos zu drucken, verbessert hatten. Neue Formen des Mode- und Reisejournalismus entstanden, und Ruth Landshoff stand als eine Art Glamour Girl an der Spitze dieser Bewegung. Relativ bald wurde sie dann auch selbst Journalistin. Sie hat zunächst sozusagen von innen heraus über die Boheme berichtet. 1930 konnte sie dann ihren ersten Roman im Rowohlt Verlag veröffentlichen. Eigentlich ein ähnliches Karrieremodell, wie man es heute bei Popautoren wie Benjamin von Stuckrad-Barre beobachten kann.
An den Fotos, die Sie nun im Rahmen einer Publikation des Deutschen Literatur-Archivs verbreiten, fällt auf, dass sich Ruth Landshoff auch draußen nackt fotografieren ließ, unter freiem Himmel. War das einfach eine ästhetische Entscheidung, oder ist es auch ein Indiz ihrer libertären Einstellung?
Ich denke Letzteres. Diese Zeit war viel freizügiger, als wir heute denken. Für mein Empfinden übrigens auch freizügiger als die Siebziger, in denen angeblich die große ›Sexwelle‹ durch Deutschland schwappte. Man hat damals offenbar gar nicht lange über so etwas nachgedacht, man hat es einfach getan. Es war ein großer Aufbruch, den wir uns heute nur noch schwer vorstellen können.
Dafür steht auch Josephine Baker, die im Berlin der Zwanzigerjahre als Nackttänzerin Furore machte – und ebenfalls auf den nun wiederentdeckten Fotos von Karl Vollmoeller zu sehen ist.
Vollmoeller hat Josephine Baker in Paris kennengelernt und war daran beteiligt, dass die ›Revue Nègre‹, in der sie tanzte, Anfang 1926 nach Berlin kam. Diese Revue war damals Stadtgespräch. Josephine Baker hat anscheinend viel Zeit in Vollmoellers großer Wohnung verbracht und dort zusammen mit Ruth Landshoff, die ebenfalls Tänzerin war, im privaten Rahmen so eine kleine Performance aufgeführt, neben ihren umjubelten öffentlichen Auftritten. In diesem Kontext sind im Februar 1926 die Fotos entstanden, die wir nun zeigen.
Was machte Ruth Landshoff nach Hitlers Machtergreifung?
Sie ist sofort nach Frankreich gegangen und 1937 in die USA. Für den Rest ihres Lebens hat sie in New York gelebt und sich dort als Schriftstellerin und Journalistin in Avantgarde-Kreisen bewegt. Interessant ist, dass sie sich in Amerika plötzlich in einer Boheme mit, ich sage mal, deutlich queerem Einschlag wiederfand, aus der später Leute wie Andy Warhol hervorgingen. Es wirkt ein bisschen so, als hätte sie versucht, in New York Ideen zu forcieren, die ihr aus dem Berlin der Zwanziger vertraut waren. 1966 ist sie gestorben.
Und wo waren die Bilder, die Sie nun zeigen, die ganze Zeit?
In der Wohnung eines Mannes namens Kenward Elmslie. Das ist ein bekannter amerikanischer Dichter, der mit Landshoff in New York eng befreundet war und nach ihrem Tod ihre Papiere übernommen hat. Einen Teil davon hat er vor vielen Jahren an eine Bibliothek in Boston gegeben. Sehr viele Briefe, Manuskripte und auch diese Fotos hat er aber behalten und im Sommer 2016 dem Deutschen Literaturarchiv gestiftet. Vielleicht kamen sie ihm anfangs noch zu privat vor.
Dennoch werden sie jetzt veröffentlicht ...
Ruth Landshoff hat diese Bilder gehütet wie einen Schatz, sie mit ins Exil genommen und die Alben mit den Negativen selbst beschriftet. Für mich wirkt es so, als hätte sie damit gerechnet und sich auch gewünscht, dass die Bilder irgendwann einmal veröffentlicht werden, um an sie als exzentrisch-wundersame junge Frau zu erinnern.
Jan Bürger ist Literaturwissenschaftler beim Deutschen Literaturarchiv Marbach und hat dort die neue, am 15. Januar erscheinende Ausgabe des Marbacher Magazins betreut, in der etliche wiederentdeckte Fotos von Karl Vollmöller erscheinen, zusammen mit mehreren Texten zu Ruth Landshoff, Karl Vollmoeller und Josephine Baker. Von Jan Bürger erschien im vergangenen Jahr außerdem eine Neuauflage seiner Hans-Henny-Jahnn-Biographie »Der gestrandete Wal« (Hoffmann & Campe).
Fotos: Karl Vollmoeller/Chris Korner/DLA Marbach