Miss Holocaust

Chava Herschkowitz wurde in Israel zur schönsten KZ-Überlebenden gewählt. Jetzt streitet das Land, ob die Idee geschmacklos ist - oder eine ganz neue Form von Beistand.

Eine stolze, schöne Frau, die den Holocaust überlebt hat, Chava Herschkowitz in ihrer Wohnung in Haifa mit Krone und Schärpe, die zeigen: Sie ist »Miss Holocaust Survivor«.

Chava Herschkowitz sitzt auf dem Balkon ihrer Wohnung, in der Ferne sieht man das Mittelmeer vor Haifa glitzern. Auf dem Tisch stehen Hefezöpfe und eine Kanne Tee. Sie rührt nichts davon an. Der Balkon ist ihr Balsam. Wenn Chava Herschkowitz nachts nicht schlafen kann, wenn ihr Herz pocht vor Aufregung, setzt sie sich auf einen der weißen Plastikstühle auf ihrem Balkon und schaut auf die Lichter der Stadt. Die Lichter sagen ihr: Dass das Leben weitergeht. Egal, was kommt. Egal, was war.

Es ist später Nachmittag, Chava Herschkowitz trägt eine pinkfarbene Bluse, roten Lippenstift und hat silbergraues Haar. Sie legt Wert auf Eleganz und Sauberkeit. Sie sagt, sie kenne Menschen in ihrem Alter, die »sitzen den ganzen Tag im Pyjama in ihrer Wohnung«. Sie möchte es »nie so weit kommen lassen«. Seit einer Stunde erzählt sie aus ihrem Leben. Von der Bukowina im heutigen Rumänien, wo sie geboren wurde, vom Krieg in Transnistrien, von Gefangenschaft, Hunger, Kälte. Sie hat sich am Abend zuvor einen Zettel gemacht, damit sie auch ja nichts vergisst. Als sie vom letzten Tag im Leben ihrer Mutter berichtet, versagt ihre Stimme. Sie stockt und legt ihren Kopf in beide Hände. Tränen fließen aus ihren Augen, auf die Bluse.

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Acht Jahre alt war Chava Herschkowitz, als ihre Mutter starb. Erschöpft und krank lag die Mutter auf einer Pritsche in einem Lager in Transnistrien, es war das Jahr 1942. Die Mutter litt an Bakterienruhr. Chava hielt die Hand ihrer Mutter, als die Mutter Chava bat, kurz nach draußen zu gehen. Als sie zurückkehrte, war die Mutter tot. »Sie wollte nicht«, sagt Chava Herschkowitz und ihre Augen werden feucht, »dass ich sie sterben sehe.«

Sie geht in die Küche. In einer Schublade liegt die Packung mit Beruhigungstabletten. Sie fürchtet sich vor der Nacht. Wenn sie vom Krieg erzählt, vom Getto und dem Lager in Transnistrien, kommen der Krieg, das Getto und das Lager nachts in ihr Bett gekrochen. Oft, sagt sie, schreie sie dann und werde von ihrer eigenen Stimme wach. In solchen Momenten schält sie sich aus dem Bett und geht auf den Balkon, zu den Lichtern der Stadt. Im November 1941 haben die Nationalsozialisten sie und ihre Familie in ein Massenlager nach Transnistrien deportiert. Seitdem legt sich, immer im November, ein Schatten auf ihre Seele.

Chava Herschkowitz wird nächstes Jahr 80 Jahre alt. Das sieht man ihr nicht an. Ihr Mann ist vor zwei Jahren gestorben, sie vermisst ihn. Auch er kommt manchmal nachts in ihren Träumen vor. Er hat den Krieg überlebt, ist Auschwitz und Theresienstadt und Buchenwald entkommen. Aber viel kann Chava Herschkowitz nicht erzählen über seine Zeit in den Lagern. »Wir haben uns bemüht«, sagt sie, »nicht darüber zu reden.« Nur zweimal, als der Sohn und die Tochter in der Schule Referate anfertigen mussten, erzählten sie den Kindern vom Krieg, dem Getto, den Lagern. Dann wurde wieder geschwiegen.

Erst in diesem Jahr, im Sommer, am 28. Juni, hat Chava Herschkowitz gelernt, über ihre Erlebnisse zu reden. Vor Hunderten von Menschen, nach Jahrzehnten des Schweigens. Es war ein Sprung ins kalte Wasser, es war ein lohnenswerter Sprung. »Diese Veranstaltung«, sagt sie, »war wie eine Befreiung für mich.

Diese Veranstaltung war: ein Schönheitswettbewerb, »Miss Holocaust Survivor«. Gesucht wurde die schönste, berührendste, aktivste Holocaust-Überlebende Israels.

Früher habe sie jeden Film, jedes Buch gemieden, in dem der Holocaust vorkam. Das erleichterte das Schweigen. »Ich habe«, sagt sie, »den Holocaust weggedrückt.« Der Schönheitswettbewerb hat sie gelehrt: Dass es gut ist, die Erinnerungen hervorzukramen.

Nur noch 210 000 Menschen leben in Israel, die den Holocaust überlebt haben. Es ist die letzte Generation. Rund ein Drittel lebt unterhalb der Armutsgrenze. Vor fünf Jahren hat eine israelische Reporterin in einem Fernsehbeitrag über die Armut unter Holocaust-Überlebenden in Israel berichtet. Sie hat Frauen interviewt, die sich keine Hörgeräte leisten können und die Schuhe ihrer verstorbenen Ehemänner tragen. Der Film hatte großes Aufsehen erregt. Wie kann das sein, dass im Land der Juden Holocaust-Überlebende verarmen, haben sich die Menschen damals gefragt. Die Politiker versprachen Hilfe. Geändert aber hat sich seitdem nichts – und die Armut der letzten Generation der Holocaust-Überlebenden verschwand aus den Medien, in den Themen-Schubladen.


Ein rauschendes Fest

So tanzten sie alle Polonaise beim Fest zur Misswahl. Die Gewinnerin wurde unter 14 Bewerberinnen ausgesucht.

Der Mann, der die Idee hatte, das Thema aus den Schubladen zu holen, heißt Simon Sabag. Sein Handy ist nie ausgestellt. Man könne ihn auch morgens um zwei Uhr anrufen, sagt er. »Eyn baya, kein Problem.« Sabag ist Direktor von Jad Ezer Lechaver (Helfende Hände). Mit den Spenden der Internationalen Christlichen Botschaft Jerusalem betreibt sein Verein in Haifa ein Altersheim für 70 arme und vereinsamte Holocaust-Überlebende. Chava Herschkowitz lebt hier, seit dem Tod ihres Mannes, in einer Zwei-Zimmer-Wohnung mit Balkon.

Jedes Jahr feiert Sabags Verein in einem Hochzeitssaal in Haifa ein rauschendes Fest. Was gefeiert wird? »Das Leben!«, sagt Simon Sabag in seinem Büro, das im Altersheim untergebracht ist. In diesem Jahr hatte er die Idee, das Fest mit einem Schönheitswettbewerb anzureichern. Alle in seinem Team seien begeistert gewesen von der Idee. Auch der Psychiater, der sich um die Holocaust-Überlebenden kümmert. Er sagt den Bewohnern immer: »Geht raus! Zieht euch schön an!«

Der Wettbewerb, sagt Simon Sabag, sollte zwei Dinge erfüllen: »Dass die Holocaust-Opfer nicht vergessen werden und dass sie Spaß haben am Leben!« Von der Gesellschaft würden Holocaust-Überlebende oft »immer nur als Opfer« betrachtet. »Ich wollte sie einfach mal aus dieser Opfer-Schublade herausholen.«

Etwa 700 Israelinnen bewarben sich, 14 kamen in die engere Auswahl, Frauen zwischen 74 und 97 Jahren, die Gettos und Konzentrationslagern entkommen waren und einmal in ihrem Leben auf einem Laufsteg stehen wollten. Am Ende des Abends bekam Chava Herschkowitz eine Plastikkrone ins graue Haar gesteckt, sie hatte es auf den ersten Platz geschafft. Der erste Platz waren eine Urkunde und ein Wochenende in einem Hotel in Haifa. Das Make-up und das Haarspray wurden von der israelischen Kosmetikfirma Arvuvim gesponsert.

Die Kriterien für den Gewinn waren, reimt Simon Sabag, »joter ofi bimkom jofi«, eher Ausstrahlung also und nicht nur die reine Schönheit. Die Frauen liefen in Abendkleidung einen Laufsteg entlang, und am Ende des Laufstegs verbeugten sie sich und stellten sich mit einem Lächeln vor. Ein paar Minuten nur hatte Herschkowitz, um vom Überleben in Rumänien und Transnistrien zu erzählen, von der Auswanderung nach Israel und ihrer Arbeit als Gewerkschaftssekretärin. Die Jury bestand aus drei früheren Schönheitsköniginnen und dem Psychiater, der die Holocaust-Überlebenden behandelt. Chava Herschkowitz sagt, das Reden vor Publikum sei ihr leicht gefallen: »Ich habe das hier im Altersheim gelernt.« Sie habe geredet, »damit man uns nicht vergisst.«

In einem kurzen Film sieht man sie, als ihr Name fällt und wie man ihr die Krone aufsetzt. Links von ihr steht »Miss Israel 2010« und rechts »Miss Israel 1979«, die mit den 14 Damen das Laufsteglaufen geprobt hat. Herschkowitz lässt das Blitzlichtgewitter über sich ergehen und gibt israelischen Fernsehsendern Interviews. Monate danach kann sie sich noch immer über sich selbst wundern: »Im Lager hat immer der Tod über uns geschwebt. Jetzt lebe ich und laufe auf einem Laufsteg!«

Einmal im Jahr begeht Israel den Holocaust-Tag, es ist einer der traurigsten Gedenktage überhaupt. Alles Leben steht dann still, Restaurants, Kinos, Bars sind geschlossen, nirgendwo läuft Musik, im Fernsehen gibt es Shoah-Filme, es heulen Sirenen und alle halten inne für zwei Minuten. Simon Sabag steht still, wenn die Sirenen heulen. Er findet aber auch, dass man den Holocaust-Opfern für einen Abend lang die Opferrolle abnehmen dürfe.

Sabags Mutter stammt aus Griechenland. Ihre gesamte Familie ist im Holocaust umgekommen. Sie fand, sagt er, das sei eine »tolle Idee«, Holocaust-Überlebende über den Laufsteg zu schicken. Mit dem Schönheitswettbewerb, sagt Sabag, wolle er der letzten Generation von Holocaust-Überlebenden noch einmal einen Auftritt verschaffen: »Die Welt soll sehen, dass diese Menschen auch Spaß haben können.«

Darf man das?

Colette Avital, die frühere Knesset-Abgeordnete und Chefin aller israelischer Holocaust-Organisationen, sagt, wenn man sie fragt: »Nein! Das war eine makabre Veranstaltung.« Und Gal Mor, der den Blog Löcher im Netz betreibt, ätzt: »Was dürfen wir als Nächstes erwarten? Big Brother in Auschwitz?«

Vielleicht wird es im kommenden Jahr wieder so einen Wettbewerb geben. Genug Kandidatinnen hat Sabag schon: »Es haben sich schon über 2000 Frauen bei uns gemeldet, die mitmachen möchten.« Er findet: »Niemand hat das Recht, den Holocaust-Überlebenden zu sagen, was sie machen dürfen und was nicht. Das sollen sie selbst entscheiden.« Seit dem Laufsteg-Abend, berichtet er, seien Hunderte Menschen in das Altersheim gekommen und hätten mit den Bewohnern Bridge gespielt, sie bei Arztbesuchen begleitet oder deren Wohnungen gesäubert und die Vorgärten gepflegt.


Schwärmen von Sabag

Als Chava Herschkowitz gewonnen hatte, bekam sie eine Plastikkrone, ein Wochenende in einem Hotel, eine Urkunde und Geschenke von Miss Israel 2010.

Wenn man die Frauen in ihren Wohnungen besucht, schwärmen sie von Sabag. Esti Lieber, 75, sagt: »Simon ist ein Engel!« Lieber war eine der 14 Frauen auf dem Laufsteg. Sie hat ihre Zweifel überwunden und sich Lippenstift, Rouge, Nagellack auftragen und die Haare frisieren lassen. Wer ihr die Zweifel genommen habe? »Mein Mann. Er hat gesagt hat: Esti, meine Liebe, geh hin! Genieße! Lebe!«

Sie sitzt in ihrer Wohnung, ihr Mann ist gerade einkaufen, sie wischt sich ständig Tränen aus den Augen. Es hat nicht viele Engel in ihrem Leben gegeben. Ihre Augen füllen sich immer mit Tränen, wenn sie erzählt, wie sie den Krieg in einem Wald überlebt hat. Das Erzählen hat auch sie erst gelernt, seit sie in dem Altersheim für Holocaust-Überlebende wohnt. Wollen Sie das alles wirklich hören, fragt sie immer wieder. »Wen interessiert das denn heute noch?«

Eines Nachts habe ihr Vater sie und ihre Schwester und die Mutter aus den Betten geholt und in den polnischen Wald geführt. Er verscholl für immer, als er Essen besorgen wollte. Drei Jahre versteckten sich Esti Lieber, ihre Schwester und die Mutter im Wald. Drei Jahre draußen schlafen, drei Jahre Angst. Die Mutter starb neun Monate später, dann waren die Schwestern im Wald allein auf sich gestellt.

Kein Tag vergehe, sagt Esti Lieber, an dem sie nicht an die Zeit im Wald denke. An jenem Abend im Juni aber, im Rampenlicht, auf dem Laufsteg, sei der Wald »für ein paar Stunden verschwunden«. Esti Lieber sitzt in ihrer kleinen Essecke und sagt: »Erst wollte ich gar nicht mitmachen.« Warum nicht? »Weil ich nicht schön bin.«

Und dann? »Haben alle gesagt, mach mit, wir werden Spaß haben.«

Und? »Es wurde ein sehr lustiger Abend.«

Chava Herschkowitz macht eine Führung durchs Haus, zeigt den Gemeinschaftsraum, in dem sie anderen Bewohnern Bridge beibringt, führt zur portablen Synagoge, wo an Freitagabenden das Gebet gesprochen wird, zeigt den Zahnarztraum und den Speisesaal. Manchmal, sagt sie, »bleibe ich hier noch zwei Stunden nach dem Essen sitzen und rede mit den anderen. Man hört hier gar nicht mehr auf zu reden.« Dann kehrt sie zurück in ihre Wohnung im zweiten Stock, die so sauber ist, als sei sie für ein Katalogfoto geputzt worden. Das mit der Sauberkeit hat sie noch aus dem Lager. Dort sei es so dreckig gewesen, dass sie immer versucht habe, den Dreck zu bändigen. Ihre Kleider hat sie in Regenwasser gewaschen, getrunken hat sie aus Pfützen.

Die Sonne ist längst untergegangen, Chava Herschkowitz steht auf und knipst das Licht auf ihrem Balkon an. Als sie nach Kriegsende nach Israel auswanderte, schwor sie sich, keine Kinder in eine Welt zu bringen, die den Holocaust zulässt. Sie hat ihren Schwur dann gebrochen. Ihr Sohn war anfangs skeptisch, ob es richtig ist, dass sie an dem Wettbewerb teilnehmen wollte. Die Tochter habe ausgerufen: »Super, Mama!« Und ihr Mann, der Auschwitz überlebt hat? Was er wohl gesagt hätte? Sie hält kurz inne. »Er hätte mir zugeraten.«

Sie schaut auf die Lichter von Haifa und fragt: »Wollen Sie die Krone mal sehen?« Sie verschwindet im Schlafzimmer und kehrt nach einem kurzen Moment zurück, kramt die Krone aus einer Plastiktüte, setzt sie ins graue Haar und lächelt. »Das ist doch auch gut, dass ich lachen kann.«

Sie kommt mit zur Tür, drückt einem die Hand, dann fällt ihr ein Gedanke ein, den sie sich nicht am Abend zuvor notiert hatte: »Wissen Sie was? Dass ich an dem Wettbewerb teilgenommen habe, das ist auch meine Rache an den Nazis.«

(zusätzliche Fotos: Getty)

Foto: Michael Chelbin