Szenen einer Ehe Andrea Linke und ihr Mann beim Frühstück. Auf dem Tisch einige der Medikamente, die Robert Linke täglich einnehmen muss.
Was ist der Unterschied zwischen einem englischen, einem französischen und einem deutschen Rentner? Der englische Rentner steht morgens um neun auf, trinkt seinen Tee und liest die Zeitung. Der französische steht um zehn auf, genehmigt sich ein Gläschen Bordeaux und macht danach einen ausgedehnten Spaziergang. Und der deutsche Rentner? Steht um sechs auf, nimmt seine Herztropfen und geht anschließend zur Arbeit. »Komisch, nicht?« Frau Linke erzählt einen Witz, über den sie nicht lachen kann. Vermutlich, weil er ihrer eigenen Situation recht nahe kommt.
In Wirklichkeit muss sie noch etwas früher aufstehen als der Rentner in ihrem Witz. Meist um halb fünf, denn ihre Plattenbau-Wohnung in Berlin-Buch liegt so abgelegen, dass sie mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fast zwei Stunden braucht – ganz egal, wohin sie gerade bestellt wird. Andrea Linke*, 65, arbeitet für acht Euro in der Stunde als Springerin für eine Zeitarbeitsfirma, die sie an Supermärkte in Berlin und dem Umland vermittelt. Mit Häubchen, Einweghandschuhen und weißem Arbeitskittel steht sie heute hinter einer Fleischtheke, die in etwa so lang ist wie die Startbahn einer Boeing 737. Weil die Stammbesetzung ein bisschen ausgedünnt ist, muss sie zwischen Aufschnitt, Angebotswurst und Käsestand hin und her rennen. »Auf der Galopprennbahn«, sagt ihr Mann immer, wenn er gefragt wird, wo seine Frau arbeitet.
Frau Linke arbeitet nicht, weil sie sich so schwer vom Berufsleben lösen könnte. Sondern, weil sie es muss. Weil ihre Rente nicht reicht, um ein menschenwürdiges Leben zu führen. Ihr Arbeitgeber bestätigt ihr, ordentlich und sehr zuverlässig zu sein, aber darüber, dass ihr Vertrag verlängert wird, macht sie sich keine Illusionen. Die Kunden, hat man ihr zu verstehen gegeben, würden durch einen Menschen in ihrem Alter »gestört«, eine Irritation, von der man nicht weiß, ob sie das Kaufverhalten negativ beeinflusst. Sie könnten ein schlechtes Gefühl bekommen, wenn sie sehen, dass hinter dem Tresen jemand stehen muss, der sich doch längst dem Müßiggang hingeben könnte. Jemand, der seine Not ausstellt, indem er arbeitet, kann abschreckend wirken, denken sie in der Geschäftsführung der Filiale.
Eine Kundin verlangt 125 Gramm grobe Teewurst. Das Stück, das Andrea Linke abschneidet, wiegt 118 Gramm. Die Kundin besteht auf 125 Gramm. Frau Linke ist zur Freundlichkeit angehalten. »Musste eben ein neues Stück abschneiden«, sagt jemand vom Stammpersonal. Aber es ist natürlich eine ziemliche Glückssache, Teewurst aufs Gramm genau zu schneiden: Das neue Stück wiegt 130 Gramm. Die Kundin ist gnädig. Nur, dass Frau Linke jetzt auf dem Zwischenstück sitzt. Kauft ja keiner mehr. Also kauft sie es selbst. Bevor es Ärger gibt. Nur keinen Vorwand liefern.
Bis 30, sagt Frau Linke, kann man sich viel erlauben, um die 40 muss man schon aufpassen. Aber wer über 60 ist, muss sich schon fast entschuldigen, dass es ihn überhaupt noch gibt. Sie hat Dutzende von Bewerbungen geschrieben. »Nehmen Sie auch Rentner?«, fragt sie gleich als Erstes. 85 Prozent antworten sofort: »Nein!« Andrea Linke hat schnell gemerkt, dass es meistens nur Gesuche der Art gibt, wie sie es erst gestern wieder in der kostenlosen Wochenzeitung gelesen hat: »Für unsere quirligen, netten Kinder suchen wir eine liebe Ersatz-Omi auf freiwilliger Basis.« Aber Frau Linke geht es nicht um sinnvolle Beschäftigung. Sie braucht das Geld.
Immer mehr Rentner müssen in Deutschland dazuverdienen. Meist trifft es die Risikopatienten der Angestelltengesellschaft: Kassiererinnen, Putzkräfte oder Friseurinnen. Seit der Jahrtausendwende ist die Zahl der Ruheständler mit Minijobs bundesweit um 60 Prozent gestiegen, auf rund 760 000. Dazu kommen 154 000 mit sozialversicherungspflichtigen Stellen. Laut statistischem Bundesamt beginnt die Armut in Deutschland bei 930 Euro im Monat. Rund zwölf Prozent aller Renten liegen unterhalb dieser Armutsgrenze. 400 000 Menschen in Deutschland leben bereits von der sogenannten Grundsicherung, einer Art Sozialhilfe für Rentner.
Mit 750 Euro Rente bekommt Andrea Linke etwas zu viel, um sie beantragen zu können. Sie hat das Pech, in einem Bereich der »milden« Armut zu leben, die der Staat als noch nicht unterstützungswürdig betrachtet. Die nicht auf der Stirn geschrieben steht und dennoch zehrt wie eine lange Krankheit. Eine Zwischenwelt, aus der man aus eigener Kraft nicht herausfinden kann. Der aber jederzeit die Gefahr eines noch tieferen Sturzes innewohnt. Vordergründig mag es dramatischere Fälle geben, Rentner, die noch viel weniger Geld haben als sie. Aber gerade die relative Durchschnittlichkeit ihrer Armut verdeutlicht die Tragweite des Problems. Hätte sie eine West-Biografie, würde sie fast 200 Euro mehr Rente erhalten, meint Frau Linke. Man mag das ungerecht finden und für ein spezifisches Ostproblem halten. Doch Frau Linke ist nur die Vorhut einer Entwicklung, die sich wie ein Flächenbrand auch in den alten Bundesländern ausbreiten wird. Nach Berechnung des Deutschen Instituts für Altersvorsorge ist bereits jeder dritte Bundesbürger von Altersarmut bedroht.
Dabei hat Frau Linke doch eigentlich alles richtig gemacht: Außenhandelskauffrau gelernt, Sachbearbeiterin bei der Bewag und im VEB Energiekombinat. An der Kasse im Konsum und nach der Wende dann 15 Jahre bei Kaisers. 44 Jahre lang hart gearbeitet, um nun knapp über dem Sozialhilfeniveau angekommen zu sein. Dabei war sie nie faul, hat nichts verspielt oder übermäßig viel gewagt. Hat nie auf Kosten anderer gelebt und immer fleißig für ihre Rente eingezahlt. Ist ausdauernd die Runden eines langen Arbeitslebens gelaufen, um dann auf der Zielgeraden zu merken, dass das Versprechen eines würdigen Lebensabends ein Missverständnis gewesen ist.
Andrea Linke fehlen zwei Schneidezähne im Unterkiefer, aber ihr fehlt auch das Geld, sie ersetzen zu lassen. Sie kann sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal etwas zum Anziehen gekauft hat. Wenn sie irgendwo in einem Schaufenster etwas sieht, was ihr gefällt, überschlägt sie, wie lange sie dafür arbeiten müsste. Meist rechnet sie in DM-Preisen, weil das noch eindrucksvoller ist. Und dann sagt sie sich fast immer: »Lass ma sein.« Frau Linke hat sich arrangiert mit einem Leben, das keinen Platz mehr hat für Bedürfnisse, die über das Nötigste hinausgehen. Ins Konzert? Mal in den Spreewald? Mit ihrem Mann zur Funkausstellung? Erlebnisse aus einer fernen Welt, im Nebel ihrer Erinnerung schon fast verblasst. Die Zukunft hält nur das für sie bereit, von dem sie annahm, dass es ihre Vergangenheit sein sollte: Arbeit.
*Name von der Redaktion geändert
»Wir sind keine vollwertigen Menschen.«
Andrea Linke auf dem Weg zur S-Bahn, mit der sie täglich zur Arbeit fährt. Sie ist zwar Rentnerin, hat aber dennoch große Angst, ihren Job zu verlieren. Deshalb lässt sie sich nur von hinten und aus der Ferne fotografieren, um nicht erkennbar zu sein.
Bis Oktober hatte sie einen Vertrag, der ihr 86 Arbeitsstunden im Monat garantierte, aber dann wurde sie auf 56 Stunden heruntergestuft. Angeblich weil es für jemanden in ihrem Alter zu wenig Arbeit gebe. »Wir sind keine vollwertigen Menschen«, sagt Frau Linke, schaut aus tiefen Tränensäcken und erzählt von den Kränkungen ihres Alltags. Stets erfährt sie erst kurzfristig, wann sie wo eingesetzt wird. Mal muss sie vier oder fünf Tage arbeiten, dann vielleicht eine Woche wieder gar nicht. Dabei hasst sie es, ohne Ordnung und Struktur in den Tag hinein zu leben, der nicht mehr von ihr selbst bestimmt wird, sondern von einer Stimme am Telefon, die ihr sagt, wohin sie zu gehen hat. Frau Linke sagt: »Das macht mich krank.«
Gestern Nacht hat ihr Mann wieder Blut gespuckt. Vor 17 Jahren hatten die Tumoren in die halbe Lunge gestreut, vermutlich weil er früher als Elektro-meister jahrzehntelang auf asbestverseuchten Baustellen gearbeitet hat. Geraucht hat er nie. Als Folge der Chemo ist seine Schilddrüse kaputt und, wie er sagt, »eigentlich auch das meiste, was oberhalb des Magens liegt«. Aber er überlebte, entgegen der Prognose der Ärzte. Natürlich hat ihrem gemeinsamen Leben seit 17 Jahren sein Einkommen gefehlt. Erst lief das Krankengeld aus, dann die Erwerbsunfähigkeitsrente. Dann wollten sie ihm auch noch die Schwerbeschädigung von 80 Prozent auf 30 Prozent zurückstufen. Aber da kennen sie seine Frau schlecht. Andrea Linke sagt, sie habe gelernt, allem zu widersprechen, was einem die Ämter nehmen wollen. Also hat sie Briefe geschrieben, telefoniert und gekämpft – so lange, bis er wieder bei 70 Prozent war und seinen Schwerbeschädigtenausweis behalten durfte. Weil er zuletzt als Straßenbauaufseher beim Bezirksamt Pankow für DDR-Verhältnisse recht gut verdiente, bekommt er 130 Euro mehr Rente als seine Frau. Aber das meiste davon geht für seine Krankheit drauf.
Sie kennen sich schon ein ganzes Leben lang. Seine Eltern wohnten damals neben ihren Großeltern. Und seine Mutter, sagt Linke, hatte immer die Neigung, ihm »irgendwelche Frauen aufzuschwatzen«. Deshalb war es vielleicht kein Zufall, dass eines Tages im Spätherbst 1966, als er gerade zu Besuch vom Armeedienst war, dieses 19-jährige Mädchen mit ihrem hellen Lachen am Zaun stand. »Die behältste«, hat er sich damals gesagt. Ein Jahr später hieß sie auch Linke.
Damals hat sie zu ihm aufgeschaut. Heute ist er von ihr abhängig. Aber auch sie hat eigentlich nur noch ihn. Am öffentlichen Leben nehmen die Linkes seit Jahren schon nicht mehr teil. Sie haben genug, um nicht zu verhungern; ihre Armut ist die Einsamkeit. Was macht man mit Freunden? Ausgehen. Essen, Trinken, Kino. Freunde kosten Geld. Freunde muss man sich leisten können. Weil es angenehmer klingt, formuliert Frau Linke es etwas anders: Sagt, sie habe keine Zeit für Freundschaften. Entweder sie arbeitet. Oder sie organisiert Arztbesuche. Oder sie besucht ihren Mann im Krankenhaus. Wo sollte sie in dieses enge Korsett des Lebensnotwendigen noch Freunde einfügen? Robert Linke, 45 Jahre mit ihr verheiratet, sagt mit feiner Ironie: »Ich bin sozusagen ihre beste Freundin.«
Die meisten seiner alten Freunde haben sich inzwischen zurückgezogen. Als er schon schwer krank war, haben sie ihn immer noch gefragt, wenn es darum ging, etwas zu reparieren. Weil er doch sehr geschickt ist. »Haste nich und kannste mal?« Pro forma haben sie ihm meist Geld angeboten. Aber Linke nimmt kein Geld von Freunden. Hat also nur gesagt: »Falls ich irgendwann mal eure Hilfe brauche …« Als er dann tatsächlich mal fragte, ob sie ihn vielleicht mit dem Auto zu einem Arzttermin bringen könnten, war meist das Auto kaputt. Oder sie hatten keine Zeit. Irgendwann fragte er nicht mehr. »Du bist nicht mehr nutzbringend für die«, sagt seine Frau.
Seinem alten Beruf hängt er immer noch nach. Es kribbelt ihm in den Fingern, wenn er jemanden mauern sieht, und oft liest er die Stellenanzeigen für Elektriker, obwohl er natürlich weiß, dass er in diesem Leben nie wieder arbeiten wird. Einmal hat er in der Wochenzeitung eine Annonce entdeckt, in der Produkttester gesucht wurden. Das, dachte sich Linke, könnte er vielleicht auch von zu Hause aus machen. Für das Vorstellungsgespräch musste er bis ans andere Ende der Stadt. Auf einem Küchentisch lagen ein paar museale Mixer und Toaster, was ihm etwas merkwürdig vorkam. »Wir müssen nur hoch in den ersten Stock, dort können wir alles ausfüllen!«, war der Typ schnell zur Sache gekommen. »Was denn?«, fragte Linke, denn die Art, wie der Mann sprach, klang nicht so, als hätte er ihm gerade einen Arbeitsvertrag angeboten. »Zunächst einmal müssen Sie ein Zeitungsabonnement abschließen …« Zwei Jahre Bindungsfrist, aber viel billiger als am Kiosk. »Und wenn ich nun kein Abo will?«, sagte Linke.
Oft schaut er auch für seine Frau. Letzte Woche war was drin, was eigentlich nicht so schlecht klang: »25–30 Wochenstunden, neun Euro die Stunde plus Provision, gerne auch rüstige Rentner.« Linke also hin und sich die Sache angeschaut: Telefonakquise in einem Callcenter, das ein bisschen so aussah wie eine Legebatterie: Dutzende von Leuten, nur durch Pappwände voneinander getrennt. Wer keine Abschlüsse macht, bekommt auch kein Geld, wurde ihm erklärt. Das hatten sie in der Anzeige verschwiegen. Oder das Internetangebot, das »3–4000 Euro nebenbei« versprach. Allerdings hätte man, um in den vollen Genuss des Geldsegens zu kommen, zunächst eine DVD für 89 Euro kaufen müssen. Und dann weitere. Es sei denn, man findet selbst Käufer. Immer wenn er sich eine Weile in diesen Anzeigen verliert, bekommt Linke Rachefantasien: Er träumt dann davon, dass Sondereinsatzkommandos zu diesen Firmen ausschwärmen, die mit dem Rammbock die Tür plattmachen und alle verhaften. Die aufräumen mit den Betrügern und Abzockern. Auf dass endlich Gerechtigkeit einkehre in diese Welt.
»Bescherung schon zur Jahresmitte« hatte die Bild-Zeitung gejubelt, als vor drei Jahren die größte Rentenerhöhung seit Langem beschlossen worden war. Deutschlands Ruheständler könnten sich freuen. Der Jubel im Hause Linke hielt sich in Grenzen: Sie hat 14 Euro mehr bekommen, er 22. Ab Juli werden sie im Zuge der neuen Erhöhung dann noch einmal zusammen rund 50 Euro mehr erhalten. An ihrer grundsätzlichen Situation wird das wenig ändern. »Dolle ist das nicht«, sagt Herr Linke. Zumal er befürchtet, dass ihnen wie beim letzten Mal, auf dem Umweg erhöhter Pflegeversicherungsbeiträge, gleich wieder etwas abgezogen werden wird. Seine Frau schaut aus dem Fenster im dritten Stock ihrer Wohnung auf die ehemaligen Rieselfelder zu ihren Füßen und sagt: »Bloß nicht alt werden.«
Linkes sitzen am Küchentisch mit der abwaschbaren gelben Decke und wühlen die Angebote der Supermärkte durch, die immer schon eine Woche vorher im Briefkasten liegen. Bei Linkes wird nicht gegessen, worauf man Lust hat, sondern das, was gerade am billigsten ist. Robert Linke, drei Jahre älter als seine Frau, hat bei den Gurken zwischen zwei Supermärkten eine Differenz von 30 Cent pro Stück ausgemacht, obwohl sie ihm von außen betrachtet völlig identisch erscheinen: »Ist doch’n Hammer«, sagt Linke und verpasst sich erst mal einen Stoß Asthmaspray. Bei Kaufland kostet das Hühnerfrikassee »Feinfrost« 1,99 Euro, bei Norma 1,39, dabei ist es nach Aussage von Frau Linke »fast genauso im Geschmack«. Bei Netto um die Ecke werden sie sich für 59 Cent noch ein kleines Glas Spargelspitzen genehmigen, »kommt mit rein«, weil es die Sache geschmacklich etwas abrundet.
Kartoffeln kauft Frau Linke immer im großen Sack, weil man sie gut lagern kann. Schon von Mutter und Großmutter hat sie gelernt, auf Vorrat zu kaufen, wenn etwas günstig ist. Die ganze DDR war ja eine Vorratswirtschaft. Natürlich ist es eine bizarre Wendung, dass Frau Linke nun auch die Bundesrepublik so erlebt. »Zwar gibt es heute alles, aber wir können es uns nicht leisten.« Linkes befinden sich im permanenten Überlebenskampf: 600 Euro Miete, Stromkosten, die explodieren, Nahrungsmittel mit Preisen, die schwindlig machen. Und die Medikamente für ihren Mann, die in der hübschen Metalldose mit der Aufschrift »Danish Butter Cookies« lagern. Oft lässt er die Rezepte eine Weile liegen, weil er sich die Zuzahlung nicht leisten kann.
Es ist nicht so, dass Linkes nur ihre eigenen Probleme sehen, sie schauen stets auch auf diejenigen, denen es noch schlechter geht. Aber wenn im Fernsehen wieder von Griechenland die Rede ist, fragen sie sich schon manchmal, ob Kanzlerin Merkel angesichts der verzweifelten Lage vieler Rentner im eigenen Land nicht den falschen Rettungsschirm aufspannt. Wer rettet denn sie? Zur Arbeit gezwungen und dennoch ohne Chance auf einem Markt, der kein Pardon für sie kennt. »Uns sucht doch keiner«, sagt Frau Linke aus dem orangefarbenen Sessel, dessen Altersspuren sie mit einem Stofftuch abgedeckt hat. Und dann ist es ihr Mann, der diesen Satz über den Tisch schiebt, der noch eine Weile im Raum steht: »Grieneisen Bestattungen, die suchen immer!«
»Wieso sollt ich mich schämen, hab doch’n Hemd an?«
2009 gab es die größte Rentenerhöhung seit Langem. »Bescherung schon zur Jahresmitte«, jubelte die Bild-Zeitung. Dabei bekam Andrea Linke gerade mal 14 Euro mehr.
Im Grunde hatte sie sich ihren neuen Job etwas anders vorgestellt. Vielleicht menschlicher. Sie hatte nicht geahnt, dass sie nicht nur für sich, sondern auch gegen andere arbeiten würde: Für die Festangestellten stellt sie nämlich eine Bedrohung des eigenen Arbeitsplatzes dar. »Das Stammpersonal hat so’n Hals auf die Dienstleister!« Und deshalb wird sie auch so behandelt: als Eindringling. »Wenn Sie da keine Elefantenhaut haben …« Zehn Prozent der festangestellten Kollegen seien »ganz nett«, 40 Prozent könne sie »gerade noch ertragen«, aber die restlichen 50 Prozent seien »oft sehr gemein«. Frau Linke sagt, sie versuche jeder Konfrontation aus dem Weg zu gehen, weil am Ende natürlich immer die Festangestellten Recht bekommen.
Meistens arbeitet sie acht Stunden, oft auch zehn. Dafür wird ihr insgesamt eine halbe Stunde Pause eingeräumt. Sie muss auf der Hut sein. Deshalb hat sie auch niemandem gesagt, dass sie Diabetikerin ist. Und blutverdünnende Mittel nimmt. Nur als sie sich neulich mit dem Wurstmesser geschnitten hat, haben sich die anderen gewundert, dass die Blutung gar nicht aufhören wollte. Frau Linke versucht stets so zu essen und zu trinken, dass sie möglichst nur einmal während der Dienstzeit auf die Toilette muss. Neulich hatte sie Durchfall und wurde angeschwärzt. Eine Viertelstunde habe sie gebraucht, hat die Chefin vorgerechnet. Zu lange. Dabei muss sie ja durch den ganzen Laden und dann noch die Treppe runter. »Ich bin schließlich nicht auf der Flucht«, hat Frau Linke gesagt.
Als Zeitarbeiter muss man flexibel sein. Die Freitagsanrufe zum Beispiel. Dann mehren sich auf merkwürdige Weise die Krankmeldungen in den Supermärkten. Am Freitag gehen viele Angestellte gern schon früher ins Wochenende. Gestern kam der Anruf um kurz nach sechs. Frau Linke noch in tiefem Schlaf. Ob sie um acht in Wilmersdorf sein könne? Was ja nun auch nicht gerade um die Ecke liegt. »Wenn die mich morgens wecken, stört mein Alter komischerweise nicht mehr«, sagt Frau Linke. Ihr Mann vergleicht die Rentner mit den Sklaven, die bei den alten Pharaonen für ein Stück Brot Pyramiden errichtet haben. »Waren es nicht die heutigen Rentner, die Deutschland nach dem Krieg aus dem Dreck geholt haben?«, fragt Linke. Jetzt stößt man viele in den Dreck zurück. Eine doppelte Demütigung: Sie müssen arbeiten. Und dann macht man ihnen die Arbeit auch noch besonders schwer.
Auch manche Kunden werden beleidigend. »Schämen Sie sich denn nicht?«, hat sie gestern einer gefragt. »Wieso sollt ich mich schämen, hab doch’n Hemd an?«, hat Frau Linke gesagt. »Na, dass Sie hier jungen Leuten den Arbeitsplatz wegnehmen. Sie haben das doch gar nicht mehr nötig!« – »Na, nur aus Spaß steh ich auch nicht hier«, hat Frau Linke gekontert. Und als der Kunde sie dann mit Nachdruck aufforderte, sich zu schämen, hat sie eiskalt gesagt: »Wenn Sie diskutieren wollen, können Sie in eine Talkshow gehen!«
Als sie am Abend eines jener langen Tage an der Fleischtheke heimkommt, macht sich ihr Mann Sorgen um sie. »Mädel, pass uff«, sagt er, weil er sieht, wie ihr die Arbeit zunehmend schwerfällt: wie sie nach Feierabend immer in den Sessel fällt und gar nicht mehr hochkommt. Wie sie appetitlos ist, ständig weiter abnimmt und sich für gar nichts mehr interessiert. »Wie bei einer Zitrone«, sagt Herr Linke, »man presst sie so lange aus, bis nur noch die Schale übrig ist.« Er fürchtet, dass seine Frau, die der Zement ihres gemeinsamen Lebens ist, irgendwann zusammenbrechen könnte. Jedenfalls wenn sie so weitermacht. Aber hat sie eine Alternative?
Linkes schlafen in getrennten Zimmern. Weil er so eingestellt ist, dass er um 23.30 Uhr die letzten Medikamente nehmen muss, seine Frau aber dann schon längst schläft, weil sie am Morgen ja wieder früh raus muss. Er sieht oft fern, um sich wach zu halten. Dokumentationen vor allem. Alles über Geschichte. Und manchmal auch etwas über die DDR. In einem übermütigen Moment hat er sich mal ein »Sky«-Abo andrehen lassen, aber natürlich musste er es wieder kündigen, weil es zu teuer war. Als ihre Tochter neulich zum zweiten Mal heiratete, hat Linke vorher angerufen und gesagt, dass er nichts Passendes zum Anziehen habe und sich nicht zum Clown machen wolle. Seine Tochter hat ihn schließlich abgeholt, den Friseurbesuch bezahlt und auch einen neuen Anzug. Als er vor ein paar Jahren unglücklich direkt mit den Zähnen auf die Briefkastenkante knallte, war es seine Schwiegermutter, die zum Gebiss etwas dazugegeben hat. Früher, sagt Linke, habe er seiner Frau gern Blumen mitgebracht: »Ist auch passé.« Zum Geburtstag, Hochzeitstag oder an Weihnachten schenken sich Linkes schon seit Jahren nichts mehr. »Nur noch unsere Zuneigung«, sagt Robert Linke.
Fotos: Gianni Occhipinti