Das Ende der Unschuld

Ein Augenblick nur, und plötzlich ist die Kindheit vorbei. Zwölf Männer über den Moment, in dem sie erwachsen wurden.

Dieter Nuhr war elf Jahre alt, als er hörte, wie ausgewachsene Männer so reden. Danach, sagt er, war seine Kindheit vorbei.


Sigmar Gabriel
, 54, SPD-Vorsitzender

»Erwachsen sein heißt für mich: die volle Verantwortung zu übernehmen - auch gegen Widerstände. Ich habe diese Erfahrung zum ersten Mal mit 17 gemacht, als ich ein Zeltlager für die 200 Mitglieder der Falken, einer Jugendorganisation der SPD, in Montpellier organisiert habe. Als einer der Teilnehmer plötzlich 40 Grad Fieber bekam, meinten die anderen, man solle ihn in einen kühlen Raum schaffen und einfach mal abwarten. Ich aber hatte den Eindruck, dass der Junge ernsthaft krank war, und bestand darauf, ihn in ein Krankenhaus zu bringen. Am Ende stellte sich heraus, dass er eine Hirnhautentzündung hatte und höchstwahrscheinlich gestorben wäre, wenn wir nur ein paar Stunden länger gewartet hätten.«

Dieter Nuhr, 52, Kabarettist und Moderator

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»Vielleicht wurde ich schon mit elf erwachsen. Damals ging ich mit meiner Mutter zum Fußball, Stehplatz. Vor uns an der Eckfahne ein Zweikampf, Egon Köhnen, Fortuna Düsseldorf, gegen Bernd Hölzenbein, Eintracht Frankfurt. Ein fetter Schädel hinter uns brüllt meiner Mutter ins Ohr: ›Egon! Beiß ihm die Eier ab!‹ Danach durfte ich allein zum Fußball. Ich war kein Kind mehr.«

Peter Brugger und David Wagner

Peter Brugger, 40, Sänger der »Sportfreunde Stiller«

»Ich war lange Schlagzeuger, eher schüchtern, ein Mitschwimmer. Erwachsen bin ich in dem Moment geworden, als ich eine Gitarre in die Hand genommen und auf der Bühne in den Vordergrund getreten bin. Ich hatte schon vorher begonnen, mir auf der Westerngitarre meines Bruders ein paar Akkorde beizubringen, aber so richtig los ging es 1995, als ich meinen ersten Auftritt als Sänger und Gitarrist auf der Weihnachtsfeier meines Fußballvereins FC Eichenau hatte: Einer meiner Hits damals hieß Hey Knut, eine Adaptation von Hey Jude und eine Hommage an meinen damaligen Trainer. In den Jahren darauf konnte ich mich nicht mehr verstecken, ich war ja jetzt Sänger. Aber ich hatte auch die Möglichkeit, über alles, was mich bewegte, ein Lied zu machen. Das war für mich wie ein Befreiungsschlag, weil ich ganz ehrlich über meine Gefühle geschrieben und mich dadurch selbst besser kennengelernt habe. Ich glaube, dass mir das Texten und Singen bis heute dabei hilft, mich authentisch zu verhalten und selbstsicherer zu werden. Zwangsläufig habe ich auch gelernt, mich immer weniger dafür zu interessieren, was andere von mir halten.«
David Wagner, 42, Schriftsteller

»Ich war zwölf, fast 13, als meine Kindheit aufhörte. Es war der Tag, an dem mein Vater mich zu meiner toten Mutter fuhr. Sie lag in einer kühlen, halbdunklen Kammer im Keller eines großen Krankenhauses. Ich sah sie und erkannte sie nicht, sie schien geschrumpft zu sein. Vor ihrem Tod wusste ich nicht, was ihre Krankheit bedeutete, und konnte mir nicht vorstellen, dass sie tatsächlich sterben könnte. Eltern scheinen doch, so der Kinderglaube, unverwundbar zu sein. Dann aber, in der Leichenkammer dieses Klinikums, kam mir die plötzliche, schmerzhafte Einsicht: Alles ist vergänglich, und wir alle, auch ich, werden eines Tages sterben. Eine Einsicht, die mich älter und vielleicht auch erwachsener - aber nicht unbedingt vernünftiger - gemacht hat. Und eine Erfahrung, die bald gut in die seltsame Endzeitstimmung der Achtzigerjahre und zu der weit verbreiteten Angst vor der Auslöschung unserer Welt durch einen Atomkrieg passte. Ich wusste nun schon etwas vom Sterben, und das hatte kurioserweise auch etwas Befreiendes: Mit der Gewissheit, dass dies alles um uns herum eines Tages sowieso sein Ende finden wird, verlor das Leben viel von seiner Schwere. Es wurde leichter.«

Matthias Schweighöfer und Eckart von Hirschhausen

Matthias Schweighöfer, 32, Schauspieler

»Ich habe mit 15 meinen ersten Film gedreht, deshalb fiel diese unbeschwerte Jugend, in der man mit Freunden ins Freibad einbricht oder sich betrunken einen Hügel runterkullern lässt, bei mir einfach aus. Keine Ahnung, ob ich dadurch länger Kind geblieben oder früher erwachsen geworden bin, vermutlich beides. Ich habe mir darüber auch lange keine Gedanken gemacht - bis ich vor ein paar Jahren Vater geworden bin. Ich hatte vorher keinen Bezug dazu, dann stürzte alles ganz plötzlich auf mich ein: Kreißsaal, Kaiserschnitt, und auf einmal hielt ich sie in meinen Armen, meine Tochter Greta, so zierlich und schön. Plötzlich war dieses Gefühl da, das bis heute nicht mehr weggeht: dass ich sie schützen muss. Ich wollte sie nicht mehr loslassen, sie niemandem anderen anvertrauen. Dazu kam ein neues Selbstvertrauen, ich merkte, dass ich keine Angst davor haben muss, Vater zu sein. Und wenn Greta morgens neben mir im Bett liegt, ist es für mich noch immer unfassbar, dass sie tatsächlich meine Gene hat und mir auch noch ähnlich ist. Sie hat nämlich den gleichen Humor wie ich und lacht sogar wie ich.«
Eckart von Hirschhausen, 46, Moderator und Kabarettist

»Alt ist man, wenn man sich beim Schuhezubinden fragt: Was könnte ich noch erledigen, wenn ich schon mal hier unten bin? So weit bin ich noch nicht, aber ich merke schon: Das Alter zwingt einen in die Knie. Und vorher zum Orthopäden. Bei mir war es ein Meniskusriss, der mich mit der unangenehmen Wahrheit konfrontiert hat: Es wird nicht mehr alles wie früher von allein wieder gut. Menisken wachsen blöderweise nicht nach. Man muss selber daran wachsen, wenn aus dem ›Wird schon‹ ein ›Arrangiere dich‹ wird. Gut, Marathon war noch nie mein Ding, aber ich hätte halt lieber freiwillig drauf verzichtet. Coming of Age kann auch bedeuten: Plötzlich spricht man mit Freunden über Krankheit. Schleichend wird die Welt zum Wartezimmer. Aber worauf warten wir eigentlich?«

Jonathan Meese und Philipp Rösler


Jonathan Meese, 43, Künstler

»Weiterspielen, immer angreifen, abwarten und Tee trinken ist Meeses Devise des Älterwerdens. Bei Meese lief bislang Alles nach Plan, ohne dass ein Plan existierte, das ist Evolution. Meese lässt, je älter er wird, umso entschlossener jede Ideologie sausen. Meese blockt immer klarer und präzisest jeden Gegner der K.U.N.S.T. ab, basta. Meese altert als Baby der K.U.N.S.T. ohne Geschmack wie Alles, was keine Zeit hat. Meese bleibt unreif, wie immer, toll, toll, toll. Meese altert ohne FALSCH. Meese altert wie Humpty Dumpty. DAS ›ZUHAUSE der KUNST‹ ist immer ohne Menschenalter. Meese brüllt immer wieder gerne sein Alter weg.«

Philipp Rösler, 40, Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland

»Ich weiß noch, wie erwachsen ich mich gefühlt habe, als ich nach dem Abitur in meine erste eigene Wohnung gezogen bin. Ich war überzeugt davon, dass sich Freiheit einstellt, wenn ich die Möglichkeit habe, nach meinen eigenen Regeln zu spielen. Und ich war froh, dass ich mich bei niemandem rechtfertigen musste, wenn ich nachts mal später nach Hause kam oder Lust auf ein saftiges Steak statt auf einen Salat hatte - und umgekehrt. Vor vier Jahren habe ich erkannt, dass sich Erwachsensein nicht nur in Freiheit manifestiert. Damals wurden meine beiden Kinder Grietje und Gesche geboren, durch die ich nach und nach ins wirkliche Erwachsensein hineingekommen bin. Auf einmal musste ich Windeln wechseln und Werte wie Familie, Vertrauen, Freundschaft und Heimat vermitteln. Als Vater versuche ich für meine beiden Töchter da zu sein. Und es ist eben nicht so, dass sich diese Verantwortung mit meinem Freiheitsideal von damals beißt. Im Gegenteil, meine Freiheit hat sich weiterentwickelt, weil ich im Rücken eine kleine Bastion namens Familie habe, die mich glücklich, stark und bedacht macht. Und Erwachsensein heißt eben, Freiheit und Verantwortung zu leben.«

Reinhold Messner und Florian David Fitz

Reinhold Messner, 69, Bergsteiger

»Früher habe ich mich Machtmenschen wie meinem Vater und meinen Lehrern untergeordnet, aber als ich 1966 durchs Abitur geflogen bin, habe ich mein Leben umgekrempelt. Ich war an verlogener Moral und Ungerechtigkeit gescheitert, das konnte ich nicht ertragen. Mein Deutschlehrer hatte mich mit Negativnote zum Abitur antreten lassen, weil ich mich geweigert hatte, in der Klasse über meine Bergabenteuer zu erzählen. Dazu kam die heftige Reaktion meines Vaters, der wutentbrannt auf die Geflügelfarm lief - in der ich zu der Zeit als Handwerker arbeitete - und rief: ›Du brauchst nicht denken, dass du hier noch Unterstützung bekommst.‹ Durch diese Reaktion zwang er mich, finanziell selbstständig zu werden. Mich motivierte sie dazu, mich ein für allemal von Machtstrukturen zu befreien. Von da an jobbte ich, lernte für meinen zweiten Versuch und bestand das Abitur ein Jahr später. Ich bin erwachsen und unabhängig geworden, weil andere Menschen versucht haben, mich einzugrenzen, aber ich habe mich immer gegen diese Bevormundung gewehrt. Heute stört es mich nicht mehr, wenn ich anecke oder mich bei anderen unbeliebt mache. Ich spiele nach meinen eigenen Regeln - sowohl auf dem Berg als auch im Leben.«

Florian David Fitz
, 38, Schauspieler

»Erwachsen - woran macht man das fest? Außer an Wachstumsstopp und Schambehaarung? Es gab für mich nicht den einen Moment, eher viele Momente, die das im Rückblick ganz gut bebildern: Zum Beispiel war ich mit 19 im Flieger nach Amerika. Und als ich dort ankam, ganz allein - mein Koffer war für fünf Jahre gepackt -, hielt ich mich für die coolste Sau zwischen Isar und Orinoco. Aber erwachsen? Es gab auch den Moment, in dem ich mich auf der Baustelle meiner künftigen Eigentumswohnung in den Dreck gelegt habe, wo später mal mein Bett stehen sollte, und dachte: ›Das ist jetzt deins. Deine Wohnung. Dir gehört etwas.‹ Ein tolles Gefühl, auch wenn die Wohnung natürlich der Bank und nicht mir gehört hat. Ist man vielleicht erwachsen, wenn man einen Kredit abbezahlen muss? Mit 27 bin ich bei einem Vorsprechen am Deutschen Theater in Berlin völlig abgebrannt. Das war eigentlich schon beim ersten Wort klar, das meinen Mund verließ, hinter dem gelangweilten Intendanten an die Wand dotzte und zu Boden fiel. War es erwachsen, trotzdem weiterzumachen, oder hätte ich denen sagen sollen, dass sie sich ihre hochgezogenen Augenbrauen in den Arsch schieben sollen, wie ich es tausendmal danach geträumt habe?«

Dirk von Lowtzow und Martin Kušej

Dirk von Lowtzow, 42, Sänger von Tocotronic

»Ich habe ein Problem mit der Zuschreibung von Kategorien wie jung oder alt, Mann oder Frau. Die Kategorisierung von Menschen empfinde ich als wahnsinnig bürgerlich und verabscheuungswürdig. Deshalb inspiriert mich der Coming-of-Age-Augenblick, der in Filmen und Romanen oft thematisiert wird, überhaupt nicht. Es ist vielleicht eitel, sich selbst zu zitieren, aber in einem unserer Lieder singe ich ›Im Zweifel für den Zweifel für die Pubertät‹. Die Pubertät ist nie abgeschlossen und verkörpert immer etwas Halbstarkes, das finde ich spannend, im Grunde zieht sie sich von der Geburt bis ins Alter. Mich inspiriert der Kindheitsbegriff, wie ihn Marcel Proust definiert hat: ein Rückblick in vergangene Zeiten ohne Wehmut. Wie ein Spinnennetz, das erzittert, wenn es angestupst wird, so unwillkürlich taucht die Erinnerung auf.«

Martin Kušej
, 52, Intendant des Münchner Residenztheaters

»Mein Coming-of-Age-Moment war der 11. September 2001, aber nicht wegen des Anschlags auf das World Trade Center, sondern weil ich zeitgleich in Kairo war und mein ganz persönliches 9/11 durchlebte: Ich hatte an diesem Tag mein ganzes bisheriges Leben mit Frau und Kind in Schutt und Asche geschlagen und deshalb beschlossen, mein Leben komplett neu zu denken, ohne Lüge, ohne Täuschung, dafür endlich mit einem Gefühl für Verantwortung. Ich war damals 40 und bin richtig erschrocken, wie sehr ich mich in die Scheiße geritten hatte. Ich musste da aber durch, um endlich - so mit 42 dann - erwachsen zu werden. Ich glaube, dass es eine Art Scheitelpunkt im Leben gibt, wo die Jugend aufhört. Radikal sein, wild, unangepasst, das funktioniert eine Zeit lang, dann kehren sich die Vorzeichen um, man wird konservativer. Ich sehe meine Jugend als Tribut-Zahlung an mein Alter. Ist der Scheitelpunkt erreicht, nimmt man nur noch vom Leben, was nicht heißt, dass ich mein Leben - und mich selbst - nicht weiter mit Lust und Leidenschaft ausbeute. In der Jugend betreibt man Raubbau an seinen physischen Ressourcen. Und dann? Eine Hüft-OP, ein Stent, ein Bandscheibenvorfall. Auf einmal wählt man jede Bewegung mit Bedacht, erlebt sie bewusster - auch in ihrer Begrenztheit. Und plötzlich begegnet man auch Dingen, die nicht mehr gehen - das ist dieses schmerzhafte Scheitern, die Ahnung dessen, was Ende bedeuten könnte. Dann ist Altern ein andauerndes Abschiednehmen, ein permanentes ›letztes Mal‹, eine graue Betonwand, die vor einem liegt. Immer wenn ich an diesen Punkt gelange, könnte ich kotzen vor Wut und Enttäuschung. Das erste Mal war es so weit, als mein Sohn den eineinhalbfachen Salto vom Drei-Meter-Brett sehen wollte. Ich hätte noch gekonnt, aber mein Hirn hat gesagt: ›Das machst du nicht mehr.‹ «

Illustrationen: Pascal Cloëtta