Es gibt Menschen, die werden als Andrea geboren, sind aber ein Andreas. Oder sie kommen als Simone zur Welt, sind aber ein Simon. Diesen Irrtum der Natur bezeichnet der Fachmann als Transidentität, und inzwischen kann die Wissenschaft sogar bestätigen, dass es sich dabei nicht um Einbildung oder Spinnerei handelt, sondern um ein handfestes Zusammenspiel der biochemisch-somatischen Art.
Meistens dauert es eine Weile, bis der Transidentiker selbst dahinterkommt, was ihm das Leben so vermiest, denn in dieser Zeit zwischen Geburt und Erkenntnis lebt er in einer ihm fälschlich zugewiesenen Welt – und muss deren Ansprüche, Vorstellungen und Rituale meistern. Und allmählich steigert sich seine anfänglich diffuse Irritation über ein eskalierendes Unwohlsein bis zum final-verzweifelten Ausruf: Ich bin ein Transidentiker – holt mich hier raus!
So kam es, dass ich erst mal in der Verpackung einer unsicheren Quartanerin auf einer Mädchenschule landete. Es hätte das reine Zuckerschlecken sein können: Weit und breit kein Rivale männlichen Geschlechts, freier Zugang zu Umkleidekabinen, Pyjamapartys und Geheimkonferenzen! Aber das irritierende Doppelleben inklusive der lebensnotwendigen Assimilations-Anstrengungen zehrte an meinen Kräften. Richtig anstrengend wurde es, als die Mädels in die Pubertät kamen. Da war plötzlich viel Improvisation gefordert. Ich wurde zum perfekten Lügner.
Es begann mit dem Thema Traummann. Dauerndes Klassengespräch. Ich weiß nicht mehr, wie ich mich der Frage entzog, aber als Trans entwickelt man Durchmogel-Techniken: Die besten sind die Klassiker Scherzhaftes-Abtun und Ironie. Eine eingehende Analyse meiner Instinkte ergab: Das höchste meiner seltsamen Gefühle ist ein altersgerechtes role model, nämlich ein Mann, der ich gerne wäre. Aber haben will ich keinen. Ehrliche Antwort damals also: Ich hab keinen, ich will keinen, basta. Aber so kommt man der gleichaltrigen Truppe nicht davon. So kommt man auch unter Erwachsenen nicht davon. Alle wollen pro Frage zumindest eine nachvollziehbare Antwort. Und so beginnt das Dasein als lavierender Lügner; damals begann ich in ein verkorkstes und unfrohes Pinocchio-Leben reinzuschliddern wie ein Alkoholiker in seine Sucht.
Aber schon damals wunderte mich die Präzision, mit der jedes einzelne der 25 Mädchen Angaben zu seinem Traummann machen konnte: Haarfarbe, Augenfarbe, Beruf. Charakter, Hobby, Widerristhöhe. Zum Teil auch schriftlich fixiert. Stellte sich doch die Frage: Draußen auf der Straße laufen lauter alte Männer herum, weit über 20 Jahre alt, und manche haben sogar einen Bauch oder ein Scheißhobby: Wie waren denn die an eine Frau gekommen? Oder gab es auch Frauen, die einen alten, fetten Traummann mit blöden Hobbys hatten? Jedenfalls keine aus meiner Klasse. Da wurde ein Adonis nach dem anderen aus dem Boden gestampft.
Aber: Wenn sie nun tatsächlich ihren Traummann trafen, wer sagte denn, dass sie seine Traumfrau wären? Was, wenn auch er eine Geheimakte besaß? Und zwar eine, in der nicht die Rede war von »14 Jahre alt, etwas pickelig, hat präzise Vorstellungen von einem Traummann, bekommt zu wenig Taschengeld und gibt gern Pyjamapartys«? Spätestens nach diesen Gedanken legte ich den Mythos von Traumfrau/Traummann als unrealistische Gemütsdämmerei zu den Akten.
Von da an war ich vorsichtig, was die Erschaffung und Beschaffung von Idealbildern anging. Von Bildern überhaupt: Wie hat eine Frau zu sein? Wann ist ein Mann ein Mann? Mit wachsender Lebenserfahrung wurde mir klar, dass solch virtueller Hokuspokus offenbar jede Gesellschaft flutet, egal wie aufgeklärt/emanzipiert sie sein mag. Ein Naturgesetz auf dem Boden der ewigen Biologie plus der aktuellen Mode. Am Anfang steht das lächerliche Erschaffen eines Prinzen, später die ernsthafte gesellschaftliche Bildgebung des geschlechtlichen Menschen: Das ist weiblich, das ist männlich. Und als Weib sei der Mensch nicht unweiblich, als Mann nicht unmännlich. Und ich mittendrin, mit meinen lausigen Kulissen (Kleider, Frauenschuhe) und falschen Texten (»Wirklich schöne Schuhe!«) Alles so gar kein Zuckerschlecken, denn erst kommt die Identität, dann das Vergnügen.
Ein Gutachten fürs neue Geschlecht
Aber selbst vor die Identität haben die Götter die Verzweiflung gesetzt, und vor die Transbehandlung einen Gutachter. In meinem Fall eine Gutachterin. Und es gibt sicher keinen Vorgang, bei dem man stärker mit der Definition von Mann oder Frau konfrontiert wird als bei der sogenannten Trans-Begutachtung.
Mrs. Gutachterin und ich verstanden uns von der ersten Minute an gar nicht, aber ich dachte: »Zieh das durch. Sie soll ja nicht deine beste Freundin werden, sondern bloß dein Trans-Sein bestätigen.« Sie begutachtete mich beinahe ins Grab. Und sagte Sachen wie: »Mich irritiert, wie Sie sitzen. Sie sitzen immer mit übergeschlagenen Beinen da. Alle meine anderen Transmänner sitzen soo da« – und sie setzte sich in Positur, breitbeinig, übermännlich. Meine Antwort: »Ich habe nicht einen Mann in meinem Freundeskreis, der sich Ihnen so gegenübersetzen würde. Muss man wie ein Bierkutscher rumsitzen, um als Mann durchzugehen?« Sie war beleidigt. Und zog das, was sie als »Begutachtung« bezeichnete, über sage und schreibe ein Jahr hin. (Heute weiß ich, wie richtige Begutachtung läuft: ein bis zwei Sitzungen, danach vier bis fünf Seiten Gutachten, fertig.)
Gegen Ende der Sitzungen stellte sie mir die Frage: »Wenn Sie sich später als Mann sehen: Was für einen Mann haben Sie vor Augen? Wie werden Sie sein?« Ich fragte mich zunächst, ob sie ernsthaft so spekulativen Schwachsinn beantwortet haben wollte. Dann fragte ich mich: Wie beantwortest du den Schwachsinn möglichst Gutachten-konform? Möglichst realistisch? Aber was wäre realistisch? »Ich werde verfettet im Netzunterhemd im Garten sitzen und Bundesliga hören«? Oder »Ich werde ein schüchternes Kerlchen sein, das Schwierigkeiten hat, Frauen anzusprechen«?
Ich entschied mich, wie all die Jahre zuvor, für scherzhaftes Abtun: »Ich werde selbstverständlich ein ganz toller Hecht.« Sie notierte murmelnd: »Narzisstische Fehlblabla«. Meinen hastigen Hinweis, das sei natürlich nicht ernst gemeint, quittierte sie mit einem Blick, den man am besten beschreibt mit dem Satz: »Wie durch ein Wunder kam niemand zu Schaden.«
Ich bekam später (nach kurzen Besuchen bei echten Gutachtern) meine Behandlung, alles wurde, wie es sein sollte. Eines Tages ging ich froh ein Liedchen pfeifend zu einem Treffen von Transmännern. So saßen wir friedlich beisammen: lauter wohloperierte Kerle mit akkuratem Testosteron-Spiegel und weiblicher Sozialisation. Einer erzählte, er mache da gerade einen Workshop mit: »Männliches Gehen«. Mich überkam ein mächtiger Zorn, und ich rief: »Muss ich weiterhin ein Leben führen, das sich an der Gültigkeit irgendeines vorgefertigten Bildes orientiert? Bin ich unter Schmerzen erwachsen geworden, um jetzt dem nächsten Gruppendruck zu gehorchen? Fahrt zur Hölle mit euren Hausmacher-Ikonen und selbst montierten Abziehbildern!« Wäre ich weniger wütend gewesen, hätte ich vielleicht nur knapp angemerkt: Du sollst dir kein Bild machen.
PS: Nachdem sich der Pulverdampf aus dem Identitäts-Gefecht verzogen hat, noch zu einer Gegenfrage, die bestimmt irgendwer stellen wird: Wie sieht meine Traumfrau aus? Antwort: Das werde ich sicher erfahren, falls ich ihr begegnen sollte.
Fotos: Gianni Occhipint