Der Sauerstoff wird langsam knapp, in dieser Halle, die aussieht wie ein Parkhaus, 500 Menschen, die meisten schon mit einigen Bieren im Bauch, blicken zum Ring, auf die zwei Prachtkerle im Neonlicht, Schwergewichtler, die mit ihren rasierten roten Köpfen fast an die Betondecke stoßen, sich jetzt voreinander aufbauen, Nase an Nase, noch einmal die Muskeln schütteln. Die Frage dieses Abends, ganz klar: Wer hat die dicksten Eier?
Im Ring. Und im Publikum. Denn in der einen Ecke der Halle, im VIP-Bereich, hat es sich Berlins mächtigster Hells Angel auf einer Couch bequem gemacht: André Sommer, im Juni sechsmal angeschossen, sitzt jetzt, Mitte November, breitbeinig da. Mit einem Arm hält er lässig die Sofalehne umschlungen. Die Botschaft: alles im Griff.
Natürlich ist er nicht allein gekommen zu diesem Boxturnier in einem Köpenicker Kampfsportverein, beim Fußball würde man sagen: eine Drittliga-Partie. Um Sommer herum, auf der Couch und auf Klappstühlen, wachen seine Clubbrüder über ihren Präsidenten, tätowierte Schwergewichtler wie die beiden im Ring, die nun aufeinander losgehen, die Deckung noch oben, die Schläge dosiert, ein Belauern. »Komm schon, Keule!«, feuern die Hells Angels ihren Favoriten an.
In einer anderen Ecke der Halle, in Blickweite, stehen sechs LKA-Beamte. Obwohl sie in Zivil sind, erkennt man sie sofort: an ihren Trekkinghosen, den Windjacken. Und, wenn man näher herangeht, an den durchsichtigen Funkkabeln, die zu ihren Ohren führen. Mit eingefrorenen Gesichtern beobachten sie die Rocker, die ab und an zurückstarren. Das Ganze wirkt wie zwei konkurrierende Straßengangs. Auch hier: ein Belauern.
Einer der LKA-Beamten sticht aus der Gruppe heraus: Er ist zwei Meter groß, hat eine Gewichtheber-Statur, einen grauen Stoppelbart und die Präsenz eines Baggers. Sein echter Name darf nicht geschrieben werden, nennen wir ihn: Thomas Groß. Vor einer Woche hat er in seinem Büro, wo man ihn zum Gespräch getroffen hat, einen bemerkenswerten Satz gesagt, der zur Situation hier passt: »Wir« – damit meinte er die Polizei – »sind die größte Bruderschaft Berlins.« Jetzt hat er nicht viel Zeit zu reden. Der Kampf nimmt Fahrt auf.
In der vierten Runde blutet Keule aus der Nase, in der fünften nimmt sein Gegner kurz die Deckung runter, grinst, eine Provokation. Das hätte er nicht tun sollen. Keule treibt ihn jetzt vor sich her, paff, paff, es klingt dumpf, als würde auf einen Sack Reis eingehauen. »Zeig’s ihm, Keule!« Es ist ein archaisches Spiel, im Ring und im Publikum. Je länger der Kampf dauert, desto mehr Rocker versammeln sich in der Halle, sie müssen gerade erst gekommen sein, türkische Hells Angels aus dem Wedding, Hells Angels aus Dänemark, und die Red Devils, ein befreundeter Club. Der Aufmarsch ist beeindruckend und finster. Die LKA-Beamten sprechen in ihre Funkgeräte, draußen warten mehrere Einsatzhundertschaften, schon auf dem Weg in diese Boxhalle in Köpenick hatte die Polizei sämtliche Zufahrtsstraßen gesperrt und jedes Auto, jedes Motorrad kontrolliert, als würden Terroristen gesucht. Die Botschaft: Wir haben die Hosen an.
Deutschland ist Kampfplatz zwischen verfeindeten Rockerclubs und der Polizei, diesen Eindruck bekommt man seit ein paar Jahren, wenn man sich die Zeitungsberichte ansieht. Es geht um Waffenbesitz, Massenschlägereien, Machetenkämpfe und Tote. Im August 2009 beispielsweise wird in Berlin-Hohenschönhausen ein Mann auf offener Straße erschossen, der von den Hells Angels zu den Bandidos gewechselt sein soll, dem anderen großen, weltweit agierenden Motorradclub mit aggressivem Geltungsdrang. Wenige Wochen zuvor hatten Bandidos in Brandenburg Hells Angels überfallen, einem schlugen sie mit einem Beil fast das Bein ab, und schon damals war auch André Sommer, der Berliner Hells-Angels-Präsident, unter den Opfern. Mit einer abgebrochenen Messerklinge im Rücken lieferte er sich selbst im Krankenhaus ein. Im März 2010 erschießt in Rheinland-Pfalz ein Hells Angel einen SEK-Beamten, der mit seinen Kollegen die Wohnung des Rockers stürmen wollte. 2012 schließlich schlägt der Staat massiv zurück: Spezialeinheiten der Polizei durchsuchen im ganzen Bundesgebiet Clubhäuser und Privatwohnungen der Rocker, bei manchen Razzien ist sogar die GSG 9 dabei, die für den Antiterrorkampf geschult ist.
Die blutigste Arena in diesem »Krieg«, wie es in den Zeitungen immer wieder heißt, ist Berlin. Der Innensenator Frank Henkel, CDU, beschreibt die Lage so: »Bei den kriminellen Rockerbanden handelt es sich um eines der brutalsten und gefährlichsten Phänomene überhaupt. Wir fahren bei ihrer Bekämpfung eine Null-Toleranz-Strategie.«
Dafür hat die Berliner Polizei ein eigenes Dezernat eingerichtet, Dutzende Beamte des Landeskriminalamtes, die fast ausschließlich gegen Rocker ermitteln. Thomas Groß, der Bagger, gehört dazu. Seine Dienststelle: das LKA 64, Mobiles Einsatzkommando, kurz MEK, Rocker und Rotlicht.
Sein Büro wirkt wie die Kulisse einer amerikanischen Cop-Serie. Die Holzdielen sind abgewetzt, die Decken hoch wie in einem Loft. In einem Metallregal neben der Tür liegen schwarze Taschen griffbereit, darin: kugelsichere Westen und anderes Einsatzequipment. Einer seiner Kollegen trinkt seinen schwarzen Kaffee aus einer Tasse, auf die das Logo der New Yorker Polizei gedruckt ist: NYPD. Es ist die Woche vor dem Boxturnier in Köpenick. Zur Begrüßung blickt Thomas Groß nach unten und sagt: »Na, Sie sind aber jung.«
Über Hells Angels wie André Sommer gibt es Artikel und Filmbeiträge, über die, die gegen sie ermitteln, weiß man so gut wie nichts.
Als Erstes fällt die Kleidung auf: Thomas Groß trägt Baggy-Jeans, wildlederbraune Fila-Boots, die Schnürsenkel offen, eine schwarze Adidas-Fleece-jacke, vor dem Schritt hängt ein Hip-Bag von Eastpak. Groß ist ein sogenannter szenekundiger Beamter, das heißt, er kennt die Rocker aus dem fast täglichen Gespräch. Wenn deutsche Streifenpolizisten in ihren Uniformen manchmal bieder wie eine Blaskapelle wirken, ist er der Frontmann einer Rockband, ein Stück Straßenlässigkeit, die der bürokratische Sicherheitsapparat zulässt. Thomas Groß, 46, kann rumlaufen, wie er will.
In seiner Heimatstadt Berlin sind zurzeit die Hells Angels der mit Abstand größte Motorradclub im Blickfeld der Polizei, und damit in seinem. Es gibt die Westberliner, das älteste sogenannte Charter, die ihr Clubhaus früher in Charlottenburg hatten, mit Blick auf den Schlosspark. Rocker wie aus einem Klaus-Lemke-Film, über die auch Thomas Groß mit gewissem Respekt spricht. »Die haben bis zum Ellenbogen in der Ölwanne dringesteckt«, sagt er. »Die musst du nicht leiden können, aber ich habe sie akzeptiert.« Dann gibt es die Ostberliner aus der Plattenbau-Tristesse von Hohenschönhausen, von denen viele eher wie Hooligans aussehen. André Sommer ist ihr Präsident. Einer ihrer Treffpunkte: die Kneipe »Germanenhof« mit einem Bild von einem Wikinger über der mittelalterlichen Holztür. Und seit etwa fünf Jahren hat sich im Norden der Stadt, in Wedding und Reinickendorf, wo es nach Shisha-Tabak und Kebab duftet, eine dritte Gruppe breitgemacht: türkisch- und arabischstämmige Männer, Bodybuildertypen, solariumbraun, die Sportklamotten tragen wie Gangster-Rapper. Diese Gruppe um ihren Präsidenten Kadir Padir gehörte erst zu den Bandidos und ist 2010 dann zu den Hells Angels übergelaufen, was in der Szene ein Hochverrat ist, als würde ein NPD-Mann zum Islam konvertieren. Die Machtverhältnisse unter den verfeindeten Clubs wurden dadurch für die Hells Angels entschieden. Aber diese Gruppe um Kadir Padir war es auch, die mit ihrem Verhalten die Staatsmacht erst so richtig sauer gemacht hat.
Alter, ihr habt genau zehn Sekunden, um euch hinzulegen.
»Die haben die normale Funkstreife nicht mehr ernst genommen«, sagt Thomas Groß und blickt einen dabei so durchdringend an, dass man ein für alle Mal weiß: Er wird immer ernst genommen. »Einer Streife haben sie sogar gedroht: Du, das kostet uns 2000 Euro, einen Jungen zu engagieren, der euch niedersticht. Das war der Punkt, wo uns klar war: Die haben den Blick für die Realität verloren.«
Seitdem kontrollieren Thomas Groß und sein Team die Rocker fast täglich. Mit einem schwarzen VW Touareg, ein bulliger SUV, fahren sie die Bars und Shisha-Cafés ab, wo sich Padir und seine Männer treffen. »Die sollen uns ruhig von Weitem sehen, das haben sie sich hart erarbeitet«, sagt Thomas Groß, »dass wir sie jetzt so Alpha-Köter-mäßig anbellen. Wir sind die Lauteren, die klar sprechen«, zur Demonstration wird er jetzt selbst lauter, »wir sind die, die sich auch zu zweit vor die hinstellen und sagen: Wir wollen jetzt mal in dein Auto reingucken. Ich kann’s dir noch mal aufschreiben, dass ich das darf, aber dann musste erst mal einen finden, der das versteht.«
Thomas Groß macht gar keinen Hehl daraus, dass er nicht zimperlich ist. »Wenn wir ein Clubhaus durchsuchen wollen, dann gehe ich vor und spreche mit den Jungs an der Tür: Alter, ihr habt genau zehn Sekunden, um euch hinzulegen, ansonsten kommen wir mit Schwung rein und wir haben unsere Cousins dabei.« Mit Cousins meint er das SEK. Und als kürzlich vor dem Berliner Kriminalgericht ein Prozess gegen vier Bandidos eröffnet wurde, konnte man ihm bei der Arbeit einmal zusehen: Zu Beginn der Verhandlung blieb er drei, vier Minuten im Saal stehen, fixierte das Publikum, wo einige Rocker saßen, die rechte Hand an seiner Pistole, die in einem Beinhalfter steckte, er sah aus wie Charles Bronson im Duell. Es sind dieselben Drohgebärden, es ist dieselbe Sprache, die auch die Rocker benutzen. Und Thomas Groß wirkt nicht so, als würde ihm sein Job keinen Spaß machen. Aber wie weit darf man dabei gehen? Muss man werden wie sein Gegner?
»Bei denen geht es nur darum: Wer ist der Alpha-Hund, wer das Omega-Huhn?«, erklärt Thomas Groß, jetzt mit ruhiger Pädagogenstimme, zurückgelehnt, besänftigend. Später wird er erzählen, dass er fünf Jahre bei »M« war, der Mordkommission, er hat Verhörtechniken gelernt, ist also Kommunikationsprofi, man weiß nie so recht, ob er gerade sagt, was er denkt oder was man hören will. Seine Botschaft aber ist klar: Ich passe mich nur den äußeren Umständen an.
Das Interessante ist, dass es vermutlich keine Gruppe innerhalb der organisierten Kriminalität gibt, die so viele Schnittstellen mit der Lebenswelt der Polizei hat wie die Rocker, nicht die italienische Mafia, nicht die sogenannten arabischen Großfamilien. Das fängt beim uniformierten Auftreten an: Die einen nennen es Dienstuniform, die anderen Kutte. In beide Organisationen wird man auch nicht hineingeboren wie in eine Mafia-Familie, sondern Polizei und Motorradclub stehen jedem offen, der sich freiwillig in die streng hierarchischen Strukturen begibt. Konflikte werden öfter mit Körperkraft gelöst, und dafür trainieren die Mitglieder: in Fitnessstudios, beim Boxen. Und dass man sich an diesen Orten auch ganz privat mal über den Weg läuft, ist normal.
In den vergangenen Jahren hat es deshalb immer wieder Polizisten gegeben, die zu nah an den Rockern waren, die zum Beispiel vor Durchsuchungen gewarnt haben. Auch Kadir Padir hat davon schon profitiert. Einer seiner Männer war mit einem Bereitschaftspolizisten befreundet, der ihm eine SMS geschickt hat: »Vielleicht komme ich heute Abend mit meinen Freunden vorbei.« Der Polizist ist mittlerweile vom Dienst suspendiert.
Frank Schwederski trainiert Kraftsport, fährt sogar Motorrad, und doch würde ihm kein Kollege zu viel Nähe zu seinem Gegner unterstellen, obwohl er an ihnen dranklebt wie früher Berti Vogts an den Stürmern.
Niemand bei der Berliner Polizei kennt sich wohl besser aus mit Rockern als er. Frank Schwederski, dessen echten Namen man schreiben darf, ist mittelgroß und hat mittelkurze blonde Haare, die über der Stirn schon ein wenig licht werden. Er sieht etwas jünger aus als 37, was wohl an seiner hellen Haut liegt, die an den Wangen schnell rot wird, dazu trägt er eine randlose Brille. Er wirkt so unauffällig, dass es schon wieder auffällig ist, besonders in der Machowelt der Rocker. Wo Thomas Groß allein schon durch seine körperliche Präsenz respektiert wird, musste sich Frank Schwederski, den alle nur »Schwede« nennen, den Respekt erst verdienen. Er fährt den Rockern hinterher, wenn es sein muss, bis nach Österreich. »Da war ein Hells-Angels-Treffen und Kadirs Leute haben sich schön vor dem Hotel aufgestellt, bis die irgendwann gemerkt haben: Oh, da ist ja ein Berliner Auto. Kadir kam dann rüber mit zwei Leuten, war völlig überrascht und meinte: Was machst du denn hier? Meinte ich erst: Urlaub. Aber jetzt mal im Ernst: Warum bin ich wohl hier? Wegen euch!«
Einer seiner besonderen Freunde ist Rayk Freitag, der es durch einen Spiegel TV-Beitrag zu gewisser Berühmtheit gebracht hat. In dem Film zeigt der Berliner Hells Angel, was für ein Verhältnis er zur Staatsmacht hat. Freitag, ein ehemaliger Deutscher Karatemeister, soll verhaftet werden, vier Bereitschaftspolizisten in voller Kampfmontur kreisen ihn ein, eine ausweglose Situation, doch als einer der Beamten Freitag an den Oberarm fasst, schlägt dieser trotzdem zu und nimmt einen Polizisten in den Schwitzkasten. Die anderen prügeln mit Schlagstöcken auf ihn ein, es dauert eine Weile, bis er ihren Kollegen loslässt. Als sie ihn schließlich gefesselt haben, sieht er zwar fertig, aber irgendwie auch zufrieden aus. Wer hat die dicksten Eier?
Frank Schwederski hat diesen Rayk Freitag, der mindestens zwei Köpfe größer ist als er, einmal im Auto angehalten. Er hat den Wagen durchsucht und den Hells Angel dann gebeten, eine schwere Taschenlampe aus Metall, die im Innenraum lag, doch bitte in den Kofferraum zu packen, »wo Leuchtmittel hingehören«. Frank Schwederski sagt: »Ich glaube, das Hinterherfahren nervt die mehr als uns.«
Er ist ein Wühler, ein Wadenbeißer, einer, der auch in seiner Freizeit im Dienst ist. Wenn er nach Mallorca in den Urlaub fliegt, fährt er dort beim Hells-Angels-Clubhaus vorbei, um ein paar Fotos zu schießen. Für die eigene Familie sei dieses private Engagement manchmal nicht leicht. »Ich will jetzt nicht sagen, dass meine Beziehung am Job gescheitert ist«, sagt er, »das klingt immer ganz gut, aber da waren bestimmt noch andere Sachen dran schuld.« Nun ist er mit einer Kollegin zusammen, die in Brandenburg fürs Rockerdezernat arbeitet. Auch Schwederskis Eltern waren bei der Polizei: seine Mutter in der Verwaltung, sein Vater beim Wasserschutz. Als er früher in Potsdam gelebt hat, ist er jeden Morgen 28 Kilometer mit dem Rad zum LKA in Berlin gefahren und abends wieder zurück. In seinem Büro hing lange ein DIN-A 3-Plakat von Schimanski an der Wand. Und mit 30 ist er schon Hauptkommissar geworden, ein Karriereschritt, der den meisten erst mit Mitte 40 gelingt.
Ein Strategiepapier zur »Rockerbekämpfung«
Frank Schwederski ist ein Musterpolizist, und er verrät sehr viel mehr über sich als Thomas Groß. »Ich bin eh bekannt in der Szene«, sagt er; selbst die Rocker nennen ihn Schwede. Seine Dienststelle ist das LKA 42, die ermittelnde Abteilung, die versucht, die innere Struktur der Rockerclubs offenzulegen, ein bisschen so wie in Mafiafilmen, wo Organigramme der Familie bei der Polizei an der Wand hängen. Frank Schwederski sammelt Daten. Über mehr als tausend »relevante Personen« kann er im Computer Informationen abrufen, wenn zum Beispiel ein Boxturnier ansteht wie das in Köpenick: Wer kommt da hin? Wie gefährlich ist der? Und dann schickt er Alpha-Hunde wie Thomas Groß los, die operative Abteilung, damit sie den Rockern vorab schon mal ins Gewissen reden, sogenannte Gefährderansprachen: Lasst eure Messer zu Hause, macht keinen Stress.
An dem Boxabend in Köpenick war dann auch Schwederski in der Halle und hat mit strengen Augen beobachtet, wie Keule, der Favorit der Hells Angels, seinen Kampf am Ende nach Punkten gewann, und die Rocker anschließend, ruhig und friedlich, den Heimweg antraten. Was denken sie eigentlich über diese Sonderbehandlung durch die Berliner Polizei, schließlich ist der Besuch eines Boxturniers kein Verbrechen?
Kadir Padir, der Hells-Angels-Präsident aus dem Wedding, fühlt sich verfolgt und als Staatsfeind Nummer eins. Er sagt: »Wenn die zu mir nach Hause kommen, klingeln die nicht, sondern das SEK haut die Tür ein, auch wenn sie wissen, dass meine Frau und mein Kind da sind.« Und wenn er im Auto angehalten wird, würden sie es manchmal »entglasen«, das heißt, das SEK schlägt alle Fensterscheiben gleichzeitig ein. Er könne kaum noch vor die Tür gehen, ohne durchsucht zu werden, was dann jedes Mal eine Stunde in der Kälte stehen bedeutet. Und er werde dabei als »Dreckstürke« beschimpft.
Thomas Groß und Frank Schwederski verneinen die unverhältnismäßige Gewalt und den Rassismus natürlich: Beide hätten jahrelang gegen Rechtsextremisten ermittelt und seien in dieser Szene ebenso verhasst wie bei den Rockern. Aber dass sie Kadir Padir das Gangsterleben versauen wollen, wird deutlich. »Das sind einfach potenzielle Verbrecher«, sagt Schwederski. »Kadir Padir ist seit 1996 mindestens 48 Mal als Tatverdächtiger in Berlin in Erscheinung getreten.«
Im Mai wurde Padirs Charter, Hells Angels MC Berlin City, von Innensenator Henkel verboten. Ruhiger ist es in Berlin jedoch kaum geworden, weil bereits neue Charter gegründet wurden. Nur Padirs Clubhaus an der Residenzstraße ist endgültig dicht, die Polizei hat es leer geräumt. Die Inneneinrichtung liegt nun in einer Asservatenkammer, durchnummeriert von eins bis 2687. Und wenn man sich die Dinge anschaut, die da einstauben, bekommt man einen ganz guten Eindruck vom Selbstverständnis der Rocker: Ledersofas im klassisch englischen Stil; ein vier Meter langer Tisch, die Platte aus geschwärztem Glas, darauf, in Weiß, der geflügelte Hells-Angels-Totenkopf; in einer Art Munitionskiste liegt eine Flasche Wodka, die die Form eines Maschinengewehrs hat. Gangster-Kram, als hätten sie sich zu oft Scarface angesehen. Und mit diesem Image gehen sie auch an die Öffentlichkeit: Der Berliner Rapper Fler hat zum Beispiel ein Musikvideo mit Padirs Leuten gedreht, der Text: »Die Bullen kommen im Minutentakt, was soll’s.« Bei der italienischen Mafia wäre so eine mediale Präsenz wohl undenkbar. Der Leiter des Bereichs Organisierte Kriminalität (OK) beim Bundeskriminalamt, Peter Henzler, kommt daher zu einem überraschenden Fazit: »Die anderen OK-Gruppen, das muss man wohl sagen, sind smarter.«
Das BKA gibt jedes Jahr ein Lagebild über die organisierte Kriminalität in Deutschland heraus: 2011 wurden weniger als zehn Prozent aller Ermittlungsverfahren aus dem OK-Bereich gegen Rocker oder Personen geführt, die ihnen nahe stehen. Das bedeutet: Rocker sind ein Problem, aber nur eins unter vielen. Dennoch stehen sie wie keine andere Gruppe im Fokus der Öffentlichkeit – und damit auch der Polizei. Denn die reagiert immer auch auf die subjektive Gefährdungslage, also das, wovor die Menschen Angst haben, weil sie es dauernd in der Zeitung lesen.
In Berlin werden jeden Tag im Schnitt 1300 Straftaten von der Polizei aufgenommen. Einige sind unerklärlich, wie der Tod von Jonny K. auf dem Alexanderplatz. Andere können die Polizisten selbst in ein moralisches Dilemma bringen: Soll man frierenden Asylbewerbern vor dem Brandenburger Tor die Decken und Isomatten wegnehmen, weil Campingutensilien auf ihrer tagelangen Protestveranstaltung verboten sind? Auch bei anderen Demonstrationen, bei Stuttgart 21 zum Beispiel, stand die Polizei zuletzt keinem autonomen Block mehr gegenüber, sondern wütenden Bürgern, die sie eigentlich zu schützen glaubt. Der Job ist komplizierter geworden. Der Konflikt mit den Rockern dagegen ist einfach: Hier die Guten, da die Bösen, und die laufen auch noch in Kutten rum und posen öffentlich mit ihrem Gangstertum.
Ein Strategiepapier zur »Rockerbekämpfung«, das eigentlich nur für den Dienstgebrauch bestimmt war, liest sich so, als ob die Polizei selbst erkannt hätte, was für Chancen darin liegen. »Öffentlichkeitsarbeit ist ein Schlüsselfaktor in der Bekämpfung der Rockerkriminalität«, heißt es. Und ein Ziel dabei sei die »Betonung der Handlungsfähigkeit des Staates«. Das klingt nach Selbstvergewisserung einer verunsicherten Staatsmacht.
Die LKA-Ermittler Thomas Groß und Frank Schwederski sehen es eher so: Die Rocker haben uns provoziert, jetzt bekommen sie die Quittung dafür.
Und wenn an diesem Freitag in Berlin die 22. Tattoo Convention startet, eine Messe für Körperschmuck, werden sie wieder rausfahren in ihrem schwarzen VW Touareg. Die Veranstaltung ist bekannt dafür, dass die Hells Angels kommen. Das ist kein Geheimnis. Und Thomas Groß und Frank Schwederski werden den Rockern dann wieder auf den Füßen stehen, sie beobachten, sie kontrollieren. »Und wenn wir ein Messer finden, werden sie bestraft wegen erwiesener Dummheit«, sagt Schwederski. Die Alpha-Hunde bellen weiter.
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Mythos Hells Angels
Sie sind der bekannteste Motorradclub der Welt: die Hells Angels. Gegründet 1948 in Kalifornien, ihr Name geht zurück auf einen Film über Kampfflieger im Ersten Weltkrieg. Ihren schnellen, weltweiten Ruhm haben sie vor allem Hollywood zu verdanken: Filme wie Hells Angels on Wheels (1967) mit Jack Nicholson romantisieren das Rockerleben. 1969 dann der erste Schock, als auf einem Rolling-Stones-Konzert ein Hells Angel einen Fan ersticht, der unter Drogeneinfluss eine Pistole gezogen hatte.
Hells-Angels-Charter, also Ableger, gibt es inzwischen in mehr als 30 Ländern, einige der größten und bedeutendsten davon in Deutschland. Laut Bundeskriminalamt gehören etwa 1200 Personen den deutschen Chartern an, die Hälfte dieser Rocker ist schon einmal straffällig geworden. Für die Polizei sind die Hells Angels Teil der organisierten Kriminalität. Die Geschäftsfelder: Prostitution, Drogenhandel, Schutzgeld. Immer wieder fallen sie auch durch Gewaltverbrechen auf, vor allem gegen verfeindete Motorradclubs.
Die Hells Angels selbst bezeichnen sich als »1%er« - als das eine Prozent unter den Motorradclubs, die sich nicht an staatliche, sondern nur an ihre eigenen Regeln halten.
➳ Im ZEITmagazin taucht der Reporter Hannes Heine in die Welt der Berliner Hells Angels ein. Er besucht einen ihrer Bosse und beobachtet, wie die Rocker den Polizisten das Leben schwermachen.
Fotos: Kania