Gefährliche Liebschaften

Nichts schadet einer Politikerkarriere mehr als eine außereheliche Affäre. Heißt es. Aber stimmt das eigentlich?

Wenn in etwa 93 Jahren das Nachschlagewerk »Große Politiker des 21. Jahrhunderts« erscheint, dann wird zwischen »Schröder, Gerhard« und »Söder, Markus« womöglich folgender Eintrag zu lesen sein: »Seehofer, Horst, geb. am 4. Juli 1949 in Ingolstadt, unter Kanzler Kohl Bundesminister für Gesundheit (1992–1998), bei Kanzlerin Merkel Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (2005–2007). Ab 2007 CSU-Vorsitzender und bayerischer Ministerpräsident. Nach Bruch der Großen Koalition in Berlin im Herbst 2007 kehrte S. zurück in sein Heimatland Bayern. Dort gelang es dem beliebten Sozialpolitiker, die nach dem Abtritt Edmund Stoibers zerstrittene CSU zu übernehmen und zu einen. Gerüchte über private Affären stärkten seinen Ruf als ›bayerischer Kennedy‹ und konnten der Popularität des Familienvaters nicht schaden.«

Auch beim schlitzohrigen Seehofer hätte dann jenes ungeschriebene Gesetz gegolten, das bei vielen Machtmenschen zuvor schon verlässlich funktionierte. Im Moment, da der Politiker beim Seitensprung erwischt wird, ist es peinlich. Alle Welt tratscht eine Weile über die Details und ist froh, nicht selbst ertappt worden zu sein. Eine ernsthafte Moraldebatte bleibt aus. Je weiter der Fehltritt dann in die Ferne rückt, desto mehr trägt er zur Mythenbildung bei. So war es bei Napoleon, John F. Kennedy und Willy Brandt: Rasch wird neidvoll beschmunzelt, was beim Fehltritt von letzter Woche noch halbherzig verurteilt wurde. Die Politik und das Zwischengeschlechtliche, das ist das surrealste aller großen Themen. Immer wieder wird eine Affäre mit kunstvoller Empörung breitgetreten, ohne dass irgendjemand eine zuverlässige Information darüber besitzt, was wirklich geschah oder was geschehen wird. Es handelt sich einfach nur um Klatsch, der allerdings spannender ist als bei Prinz Foffi und bei Kaiser Franz, weil die moralischen Ansprüche an die Volksvertreter höher liegen.

Die Politikeraffäre eignet sich perfekt auch für die gehobene mediale Verwertung. Unter dem Vorwand, es sei irgendwie gesellschaftsdemokratisch relevant, ist jeder Politikredakteur tief dankbar für ein bisschen süffig Buntes auf seinen ansonsten vielfach grauen Seiten. Wann geht es zwischen Gesundheitsfonds und Föderalismusreform schon mal um die wichtigen Themen des Lebens, um Liebe und Hass, Vertrauen und Enttäuschung, Lust und Peinlichkeit, um Aufstieg und Fall? In unserer nanogenauen Welt bietet der lüsterne Volksvertreter im faktenarmen Halbdunkel der Vermutung und des Raunens der Fantasie ein wunderbares Refugium.

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Dabei ist es völlig fraglich und vielleicht auch egal, ob der Regierungssitz wirklich so ein Sündenpfuhl ist, in dem sich lüsterne Abgeordnete und willfährige Politgroupies ununterbrochen suhlen. Klatsch über den ausdauernden Minnedienst des verliebten Joschka Fischer, über jenen Hoffnungsträger der CDU, der mit seiner Mitarbeiterin in eindeutiger Stellung am Schreibtisch erwischt wurde, über Schröders Glück auf einer Bohrinsel oder den geheimnisvollen Eisenbahnwaggon des Altkanzlers Brandt erzählt sich gut.

Aber kein Mensch weiß, ob es im vermeintlichen Treibhaus Berlin in Wirklichkeit nicht genauso fade zugeht wie in einer Bielefelder Reihenhaussiedlung. Wer morgens früh schon in zähe Sitzungen taucht und spätabends nach drei rotweinschweren Veranstaltungen in sein graues Ein-Zimmer-Apartment stapft, dem steht der Sinn vielleicht einfach nur nach Schlaf. Am Ende sind es vielleicht nur die eigenen Fantasien, an denen sich das Publikum freudig erhitzt.

Fakt ist: Nie fand ein investigativer Reporter ein belastbares Briefchen, nie schoss ein Paparazzo das Foto, das alles bewiesen hätte. Und nie ist wissenschaftlich untersucht worden, ob ein Kausalzusammenhang besteht zwischen Affäre und Karriere. Nicht mal der gemeine Seitensprung ist erforscht: Die in Umfragen ermittelte Täterschaft oszilliert zwischen zehn und 70 Prozent der formal gebundenen Herrschaften. Niemand also weiß etwas Genaueres, weil kaum jemand darüber spricht. Es lebe die Spekulation.

Wenn ein hoher CSU-Politiker in den Tagen nach Seehofers Schlagzeilen in einer Mischung aus Mitleid, Furcht und Schadenfreude weissagt, dass »es den armen Horst ja besonders hart trifft, weil er immer so auf Werte und Familie gemacht hat«, dann ist das nur mehr eine These. Die Gegenthese lautet: Es ist der Mehrheit völlig schnuppe, vielleicht bewundert sie den umtriebigen Staatsmann gar insgeheim und findet das Breittreten eher widerlich. Zehn Tage nach den Berichten über die mutmaßliche Affäre Seehofers ermittelte Forsa, dass nur 18 Prozent der Befragten seine Laufbahn gefährdet sähen. Und das sind vermutlich die gleichen 18 Prozent, die ihm schon vorher nichts Gutes gewünscht haben.

Sex als Waffe funktioniert allenfalls insofern, als dass man den politischen Gegner für eine Weile kommunikativ blockiert. Wer sich mit einem Affären-Vorwurf konfrontiert sieht, kann am selben Tag nicht gut Interviews über demografische Probleme geben oder Parteivorsitze fordern. Abtauchen in Demut ist gefordert. Für wenige Tage öffnete sich für die Rivalen Seehofers dann das magische window of opportunity. Die Füchse Huber und Beckstein nutzten es umgehend, vertrugen sich eilig und schufen somit Fakten.

Sollte aber Edmund Stoiber darauf spekuliert haben, den einzigen ernst zu nehmenden Rivalen mit einer Seitensprung-Geschichte aus dem Weg räumen zu können, dann hätte er sich verkalkuliert. Das Gegenteil erwies sich als richtig: Die öffentlich gewordene Nebenbeschäftigung des Ministers hat die Destabilisierung Stoibers nicht gebremst, sondern womöglich beschleunigt. Obschon nicht erwiesen ist, dass die Information über Seehofers Affäre aus dem Machtssystem Stoibers gestreut wurde, hielten es viele Menschen offenbar für nahe liegend. Das Muster erinnerte schließlich an die ähnlich gelagerten Fälle von Theo Waigel und Barbara Stamm, in denen es ebenfalls darum ging, parteiinterne Machtkämpfe durch gestreute Indiskretionen zu entscheiden.

Jedoch: Nicht Seehofers Karriere litt durch die Veröffentlichung, sondern die desjenigen, dem man zutraute, die Affäre in diskreditierender Absicht ans Licht gezerrt zu haben. Was nebenbei belegt, dass man sich um das Volksempfinden nicht immer Sorgen machen muss. Zwei Wochen danach jedenfalls ist Seehofer wieder da, Stoiber aber weg für immer.

Kann es also sein, dass Medien und Politik einem völlig wirklichkeitsfremden Wertekanon aufsitzen, der mit dem Denken und Fühlen draußen im Lande überhaupt nichts zu tun hat, sondern vor allem mit den eigenen Projektionen? Entsprechen Prognosen über die katastrophalen Folgen einer privaten Affäre nicht den Erwartungen, Hoffnungen und Verklemmungen der Prognostizierenden?

Geht man von der wissenschaftlich ge-sicherten Annahme aus, dass regelmäßige Ausübung legaler sexueller Handlungen für Wohlbefinden und inneres Gleichgewicht so wichtig ist wie eine funktionierende Verdauung, dann erklärt sich die öffentliche Unaufgeregtheit ganz einfach. Wenn ein Politiker kurz vor dem Rentenalter noch physisch rege ist, dann scheint sein inneres Gleichgewicht in Ordnung zu sein. Und man vertraut ihm instinktiv vielleicht sogar mehr als seinen chronisch verspannten Kollegen.

Der amerikanische Psychologe David Buss hat in Studien an 37 Kulturen übereinstimmend herausgefunden: Für mächtige Männchen ist es vor allem wichtig, möglichst viele attraktive Weibchen zu finden, während Frauen eher nach einem Partner mit Status und Intelligenz fahnden. Von einem angesehenen Machthaber erwartet das Publikum also eine überdurchschnittliche sexuelle Aktivität geradezu.

Seitensprünge können die politische Attraktivität demnach sogar erhöhen. Ein Mann, der viele Frauen zu schwängern trachtet, ist nach evolutionären Maßstäben eben ein Sieger. Er will seine Gene und damit sich in möglichst vielen Nachkommen verewigen. Immer nur an den eigenen Eintrag im Geschichtsbuch denken, ist auf die Dauer ja auch langweilig und widerspricht dem seit der Steinzeit bekannten Fakt, dass Untreue eine der wenigen universellen Konstanten der Menschheit darstellt.

Körpereigene Antreibersubstanzen wie Adrenalin, Testosteron und Phenylethylamin haben noch immer über die Treuehormone Vasopressin und Oxytocin gesiegt. Die amerikanische Präriewühlmaus gehört zu den raren Lebewesen, für die Treue mehr als ein Piepen bedeutet. Bei fast allen anderen ist über einem brodelnden Vulkan der Triebe nur eine dünne Folie von Moral, Anstand oder Mangel an Möglichkeiten gespannt. Der CSU-Politiker etwa lässt das Heimspiel lieber aus, er fürchtet sich vor sozialer oder kollegialer Kontrolle. Auswärts, etwa in der Hauptstadt, reißt die Folie ganz schnell mal.

Nicht auszuschließen, dass es diese archaischen Muster sind, die auch beim zivilisierten Bürger der Demokratie angesprochen werden, wenn er vom Seitensprung eines Politikers erfährt. Umgehend wird eine schlichte unterbewusste emotionale Kettenreaktion ausgelöst: Testosteron = Charisma = Vertrauen. Oder andersherum: Machtmenschen, die sich nicht dauernd vermehren wollen, sind gar keine richtigen Machtmenschen.

Das würde erklären, dass ausgerechnet sexuell umtriebige Politiker als besonders charismatisch wahrgenommen wurden. Ob Willy Brandt oder Franz Josef Strauß, François Mitterrand oder Bill Clinton, viele verehrte politische Anführer folgten ohne Rücksicht auf den Image-Berater ihren Jagd- und Sammeltrieben. Selbst die beiden Anführer von Rot-Grün, Schröder und Fischer, waren recht aktiv, auch wenn sie politisch korrekt ihre Affären gleich mit der Ehe beendeten. Bis heute jedenfalls werden die Umtriebigen deutlich mehr bewundert als ihre Kollegen, die Lust nur beim Anblick eines Leitz-Ordners verspüren.

Befällt den Wähler gar instinktiv Misstrauen, wenn ein Volksvertreter Desinteresse am Zwischenmenschlichen zelebriert? Dokumentiert einer wie Edmund Stoiber, dem man auf erotischem Gebiet eine gewisse Hüftsteife wohl unterstellen darf, eben auch deswegen Ferne zu Volk und Basis? Niemals jedenfalls wird seine Ausstrahlung an den umtriebigen Franz Josef Strauß heranreichen, den zu übertreffen er sich zur unlösbaren Lebensaufgabe gemacht hat.

Vielleicht müssen gute glaubhafte Politiker sogar triebhaftere Menschen sein. Ist das Ausüben von Macht in den Schlüsselmomenten der Politik nicht ein brutales Spiel, in dem nur ganz oder gar nicht zählt? Wünschen wir uns in knallharten Brüsseler, Berliner oder Bamberger Nachtsitzungen nicht Volksvertreter, die bis zum Äußersten, mit geradezu animalischer Schläue und Entschlossenheit darum kämpfen, die Steuern niedrig und das Gemeinwohl hochzuhalten? Wer fightet wohl länger, härter, entschlossener? Der Herr mit über- oder jener mit unterdurchschnittlichem Hormonspiegel?

Dabei kommt es bei manchen Exemplaren zu widerlichen Ausfällen. Der israelische Staatspräsident Katzav musste sein Amt ruhen lassen, weil er wegen des Vorwurfs, er habe Untergebene vergewaltigt, angeklagt werden soll. Was einen Kollegen Putin nicht hinderte, Respekt zu zollen: »Was für ein starker Kerl! Zehn Frauen hat er vergewaltigt.« Solcherlei ist selbst im Tierreich selten.

Der Kampf der Alpha-Männchen um die Weibchen hat ja nicht primär mit Gewalt zu tun. Erst die Entscheidungsfreiheit der Damen macht den Wettbewerb spannend. Dass dabei nicht immer die Schönsten und Frischesten gewinnen, wurde auf dem Pavianfelsen von Politik und Prominenz vielfach bewiesen. Anders wären die Techtelmechtel von Rudolf Scharping oder Franz Josef Strauß nicht zu erklären.

Abschließend bleibt die gesellschaftswissenschaftlich nicht unbedeutende Frage, ob es eine linke und rechte Spielart des Seitensprungs gibt, analog zur Theorie vom rechten und linken Fußball, die einst der argentinische Fußballlehrer César Luis Menotti formulierte. Schwer zu belegen. Die Trennlinie verläuft wohl eher zwischen den Generationen. Während die Gründerväter der Bundesrepublik sich parteiübergrei-fend und medienverschont in der relativen Heimlichkeit vergnügten und die Gattin duldsam daheim darbte, wird von der Nachfolge-Generation das Leben groß-koalitionär neu geordnet. Ob Schröder oder Fischer, Pflüger oder Christian Wulff – sie alle machten ihr Hobby umgehend zur neuen Ehefrau.

Es sind eben am Ende ohnehin die Weibchen, mit denen die Macht ist. Denn sie hetzt nicht der tumbe Trieb, sondern Vernunft. Sie wollen sich verbessern. Und obendrein entscheiden meistens sie, ob sie dem Balzen nachgeben. Wie viel Einfluss mit geschickt eingesetztem Beischlaf zu gewinnen ist, bewies Madame Pompadour, die Mutter aller Mätressen. Sie war hoch respektiert, förderte die Künste und tat den legendären Ausspruch: »Nach uns die Sintflut.«

Ähnlich dachte und handelte Katharina die Große. Zwanzig ihrer Liebhaber sind offiziell bekannt; sie galt als machtgierig, kriegslüstern und sexbesessen, aber auch als Förderin der Künste. Ihre Gespielen ließ sie nicht köpfen, sondern beschenkte sie großzügig. Als Zarin baute sie Russlands Einfluss aus wie kein Herrscher vor ihr. Kanzlerin Angela Merkel hat ein Bild von Katharina auf dem Schreibtisch stehen. Was hat das nun wieder zu bedeuten?

Foto: Galerie Reinhard Hauff