Schräge Idee

Neue Firmen wollen uns die Suche nach den Namen unserer Kinder abnehmen, uns beim Besuch am Grab der Eltern vertreten oder erklären, was wir vom Leben wirklich erhoffen. Wie weit sollen wir unser Ich eigentlich auslagern?

Woher soll man wissen, ob man als Vater ein Hauptgewinn oder eine Niete ist? Die Menschen, die man befragen könnte, sind alles andere als objektiv. Und wer glaubt, dass es ausreicht, sich auf die eigenen Impulse zu verlassen, hat noch nie etwas von Betriebsblindheit gehört. Gegen sie kennt die Arbeitswelt ein probates Mittel: Man holt sich externe Berater ins Haus. Sie nehmen den Laden nach betriebswissenschaftlichen Kriterien auseinander, schauen sich unbefangen Prozesse und Hierarchien, Leerläufe und Verschleißerscheinungen an und sprechen so einleuchtende Optimierungsempfehlungen aus, dass man sie auf der Stelle implementiert. Warum gibt es so etwas nicht auch fürs eigene Heim? Der Ort immerhin, an dem Glück, Liebe, Lebenssinn wohnen.

Gibt es. Family360, ein Dienstleister mit Sitz in Monument, Colorado, überträgt die Prinzipien der Unternehmensbewertung auf die Familie: Ein Berater quartiert sich für ein paar Tage zu Hause mit ein, erkundet mittels eines 55 Punkte umfassenden Fragebogens bei Ehefrau, Großeltern und Kindern, wie sie die väterliche Performance einschätzen, beobachtet, wie Daddy Konflikte mit den Kids regelt und wie die Teamsitzungen mit Mom verlaufen und erstellt schließlich einen Bericht. Der ist nicht selten ernüchternd. Daddy »sagt oft genug, ich liebe dich«, heißt es etwa, aber »hört den Kindern nicht aufmerksam zu«. Oder: Daddy verzeiht großzügig Fehler, doch »er tut sich schwer damit, andere Ansichten gelten zu lassen«. Keine Sorge, alles halb so schlimm, der Umstand, dass jemand den Mut aufbringt, sich dem Urteil eines externen Beraters auszusetzen, beweist, dass er am Gelingen des Unternehmens Familie interessiert ist und möglichen Fehlentwicklungen nicht erst gegensteuern will, wenn die Stimmung zu Hause schon Permafrost ist. Family360 betreibt ja nicht bloß Mängelanalyse, sondern auch Optimierungsberatung. »Wenn Sie nach einem harten Tag nach Hause fahren«, erfährt der Klient beispielsweise, »stellen Sie sich im Auto den allerschlimmsten aller Fälle vor: Sie machen die Tür auf, und Ihre Familie ist ausgezogen. Schon wird Ihnen der Stress, der Sie erwartet, paradiesisch vorkommen«. Oder: »Sorgen Sie dafür, dass Sie in Zukunft Ihren Liebsten häufiger angenehme Familienerinnerungen verschaffen, das ist es, was Sie zusammenhält« – nicht, dass Sie sich für die Ausbildung Ihrer Kinder halbtot schuften. Falls man beherzigt, was man von den Family360-Experten beigebogen bekommt, wird sicher alles gut.

Family360 ist ein schönes Beispiel für einen gesellschaftlichen Trend, den die amerikanische Soziologin Arlie Russell Hochschild die »Auslagerung des Selbst« nennt. In unseren hoch arbeitsteilig organisierten Gesellschaften wird immer mehr »emotionale Arbeit« an spezialisierte Dienstleister übertragen – Persönlichkeitsentwicklung und Erziehung etwa, Selbstdarstellung bei der Partnersuche oder Kommunikation mit älteren Menschen. Bis vor zwei, drei Jahrzehnten zum Beispiel wurden Hochzeiten in den USA in der Regel von den Brautleuten selbst organisiert, nicht nur, weil es Spaß machte, zu zweit über den glücklichsten Tag im Leben nachzudenken, sondern vor allem weil der Gedanke, dass ein völlig Fremder für Honorar damit befasst werden könnte, dem Geist der Liebe zuwiderzulaufen schien. Heute sind »wedding planner« in der Mittelschicht fast schon zum Standard geworden und eine Branche, die jährlich 161 Milliarden Dollar umsetzt.

Meistgelesen diese Woche:

In ihrer im Mai erschienenen Studie The Outsourced Self beschäftigt sich Hochschild mit einer Service-Ökonomie, bei der man sich gelegentlich fragt, ob sie erfindungsreich oder bloß bescheuert ist. Da gibt es »namologists«, die werdende Eltern bei der Namenswahl für ihre Babys beraten – und ihnen klar machen, dass »Jeffs, Brandons, Mikes und Mary Anns immer Probleme mit Ungeduld, Rastlosigkeit und fehlender Disziplin haben«. Sogenannte »Grabstein-Butler« besuchen die Friedhöfe, auf die man es selbst nicht schafft, kümmern sich nicht nur um die Blumen, sondern sprechen auch Gebete für die Toten, selbstverständlich in der gewünschten Konfession. Der Tote wird die Schummelei aller Voraussicht nach nicht bemerken, aber der Auftraggeber des Grabstein-Butlers hat ein besseres Gewissen, wenn jemand mal am Grab vorbeigeht.

Eine Agentur namens Rent A Grandma verspricht, nur Leih-Omas zu vermitteln, die den höchsten professionellen Ansprüchen genügen und garantiert keine Tweets und SMS versenden, während sie die Kinder beaufsichtigen. Und wer nicht so genau weiß, wohin die Lebensreise gehen soll, könnte sich an Esther James wenden, eine Frau, die etwas anbietet, das sie »wantology« nennt. Sie hilft ihren Klienten herauszufinden, was sie wirklich wollen, während sie sich einbilden, etwas anderes zu wollen, und wie sie es erreichen können. Schließlich lässt sich nicht leugnen, dass das Wünschen eine undurchsichtige Angelegenheit ist, gespeist aus Erlösungsfantasien, Lebensverdruss und romantischem Kitsch; da kommt es durchaus gelegen, wenn jemand Struktur ins seelische Kuddelmuddel bringt und am Ende der Konsultation zu bedenken gibt, dass man von einem Traumhaus mit Meerblick nichts hat, weil man so viel arbeiten müsste, um sich die Hypothek leisten zu können, dass man ohnehin bis in die Puppen im Büro säße. Die Wantologin schlägt in so einem Fall vor: Wie wäre es mit einem Meditationsraum anstelle des Wohnzimmers?

Was die von Arlie Russell Hochschild beschriebenen Dienstleister gemeinsam haben: Sie kümmern sich um Bedürfnisse, um die sich bis vor Kurzem niemand anders gekümmert hat als bloß der Mensch, der sie verspürte – schon gar nicht Unternehmer, die für ihre Leistungen Geld verlangen. Falls man sich nicht ganz sicher war, ob Maximilian ein hübscher Name für ein Baby ist, fragte man im Freundeskreis, und wenn die Fantasie, ans Meer zu ziehen, keine Ruhe gab, besprach man sie bei einem Glas Wein, statt eine professionelle Entscheidungsberaterin mit irgendeiner zertifizierten Lebenstraumbeurteilungs-Methode aufzusuchen. Wieso sollte man das Allerwichtigste im Leben, emotionale Entscheidungen und höchst private Überlegungen, anderen überlassen?

Weil die Welt sich geändert hat, lautet die Antwort Hochschilds, die selbst noch in einer Zeit aufgewachsen ist, in der man ein funktionierendes Umfeld hatte und sich vor Lebensratschlägen nicht retten konnte. Mittlerweile ist die Gesellschaft so mobil und arbeitssüchtig geworden, dass kaum noch Zeit und Gelegenheit bleibt, private Netzwerke zu pflegen. Einfach im Haus nebenan klingeln und die Nachbarin um ihre Meinung bitten geht nicht mehr, und die Großeltern, die einen bei Bedarf an die Tradition erinnern könnten, leben ein paar hundert Kilometer entfernt. Also suchen viele Menschen nach anderen Arten der Beratung. Und kommerzielle Dienstleister haben erkannt, dass da ein Geschäft zu machen ist.

Noch sind es vor allem Frauen, die sich damit arrangieren können, ihre emotionalen Arbeiten outzusourcen. Männer verstehen sich bekanntlich gut darauf, das Emotionale, für das sie keine Zeit erübrigen, einfach wegzudrücken und unerledigt zu lassen. Frauen dagegen wissen: Manche Jobs müssen getan werden; wenn man zu wenig Zeit hat, bezahlt man eben dafür, dass jemand anders ein Grab pflegt, Willkommenspäckchen an Neugeborene verschickt oder mit Oma spazierengeht.

Selbstverständlich steigt die Bereitschaft sich einzubilden, man könnte von professioneller Unterstützung profitieren, je mehr gutes Gewissen man für sein Honorar geboten bekommt. So gibt es mittlerweile auf dem Feld der Kindererziehung jede Menge Helfer, die traditioneller gestrickten Gemütern ein wenig übertrieben erscheinen mögen: Experten für das Zusammenstellen schöner Kinderfoto-Alben zum Beispiel; Sicherheitsberater, die Häuser darauf abgehen, wie gefährlich sie Kleinkindern werden könnten; »Playdate«-Vermittlungsagenturen, bei denen man passende Spielkameraden für sein Kind findet; oder eine Töpfchentrainerin, die es einem abnimmt, das Kleine von den Windeln zu entwöhnen, bei Bedarf auch mit Telefon-Coaching (die Minute zwischen 75 Cents und 1,25 Doller). In Deutschland schickt man dafür seine Kinder noch in Kitas und kann es sich nicht leisten, bei deren Auswahl allzu wählerisch zu sein, doch irgendwann werden die Frühförderungsmarotten junger Eltern dafür sorgen, dass es auch hierzulande pädagogische Nischenservices wie für die Mittelschichten amerikanischer Großstädte gibt.

Einkaufen fürs Kennenlern-Date

Bricklebrit könnte so etwas werden, Finanzerziehung für Kinder, seit einigen Monaten von Berlin aus am Start. Kirstin Wulf und Andreas Roeske haben das kleine Unternehmen gegründet, um einem verbreiteten Erziehungsdefizit abzuhelfen: Eltern tun sich oft schwer damit, mit ihren Kindern vernünftig über Geld zu reden, weder über das Gehalt von Mama und Papa noch darüber, warum eine neue Playstation nicht drin ist. Ökonomie verträgt sich nach herkömmlichen Auffassungen schlecht mit unschuldigen Kinderseelen, das kommt noch früh genug auf sie zu, doch dann ist es vielleicht schon zu spät. Deswegen veranstalten Wulf und Roeske erstaunlich gut besuchte Seminare für Mittelschichteltern, die sich fragen, ob sie in ihrer Pädagogik etwas Wichtiges übersehen haben, und betreiben auch Einzelfallberatung. Neulich war eine Frau da, die sich Sorgen machte, ob ihr achtjähriger Sohn beim Geldausgeben zu verspannt erwachsen ist, er hatte ein Eis ausgeschlagen, »wir haben es doch gerade nicht so dicke«, sagte er. Die Antwort auf die Frage, wie der Junge bloß auf so etwas kommt, war schnell gefunden: Die Familie hatte lange im Ausland gelebt, mit demselben Gehalt, aber einem deutlich luxuriöseren Lifestyle inklusive Kindermädchen, nun war nur noch eine Babysitterin einmal die Woche drin. Immer wieder erstaunlich, sagt Roeske, »wie sehr Eltern glauben, dass Kinder so etwas nicht mitbekommen«. Bricklebrit will ihnen beibringen, ökonomische Fragen offensiv anzugehen, schließlich kann sich in Zeiten wie diesen jeder ausrechnen, dass ein smarter Umgang mit Geld in Zukunft zu den unverzichtbaren Überlebensqualifikationen gehört.

Die Bereitschaft, sich auf die Kompetenzen von Dienstleistern statt aufs eigene Urteil zu verlassen, wird auch von der Erfahrung begünstigt, dass man sich im eigenen Leben viel zu häufig nicht als Experte erweist. Was man fürs Geldverdienen braucht, hat man studiert; doch niemand hat einem beigebracht, wie man sich eine positive Ausstrahlung zulegt, die richtigen von den falschen Männern unterscheidet, beim Smalltalk nicht immer wieder jäh verstummt. Lauter soft skills, die in der Schule nicht unterrichtet werden und in denen man oft genug scheitert. Bis man für den Gedanken empfänglich wird, dass all die guten Tipps aus den Frauenzeitschriften und Lebenshilfebüchern nicht maßgeschneidert genug für den eigenen Ernstfall sind und man sich jemanden suchen könnte, der einem beibringt, wie man seine Potenziale endlich nützen kann. Wenn in der freien Wirtschaft Führungskräfte so lange gecoacht werden, bis es ihnen nicht mehr schwer fällt, Mitarbeiter menschlich zu kündigen oder verbindliche Benchmarks einzuführen, muss das im Privaten doch auch möglich sein.

Daniela Vogeley ist jemand, der es versucht. Falls man im Liebesleben nirgendwo ankommt, kann man sie als Love Coach buchen, sie hilft dann bei allem, was beim Daten so anfällt. Formuliert die Selbstdarstellung für die Internet-Portale so um, dass sie nicht mehr wie alle anderen klingen, sucht ein effektives Foto aus, geht mit ihren Klientinnen das Outfit fürs Kennenlern-Date einkaufen.

Neulich, erzählt sie, habe sie einer ihrer Kundinnen begreiflich machen müssen, dass man emotional kompetente Männer nicht findet, »wenn man sich mit einem Bewerbungsfoto im grauen Business-Kostüm präsentiert«. Das Schlimmste aber sei, dass viele der Frauen, die sich von ihr coachen lassen, aufgrund ihrer häufigen Niederlagen davon überzeugt seien, dass es auch beim nächsten Mal wieder nicht klappen wird, weil die Männer, an die sie geraten, beziehungsunfähig sind oder sie nicht interessant genug finden, um sie ein zweites Mal treffen zu wollen – nicht die günstigste Geisteshaltung, um bei der Partnersuche Erfolg zu haben. »Mit
denen trainiere ich dann erst einmal eine fröhlichere Ausstrahlung.«

Was sie noch tut: unter den Männern, die sich auf die Profile melden, bei denen sie assistiert hat, die offenkundigen Nieten zügig aussortieren; ihre Klientinnen ermuntern, sich nicht mit Männern zu begnügen, die ihnen nicht liegen, bloß weil sie auf Teufel komm raus endlich eine Beziehung haben wollen; hinterher Manöverkritik betreiben. Sind das alles nicht Dienste, für die man auch eine beste Freundin konsultieren könnte, statt zu einer Psychologin zu gehen? »Ach, Freundinnen«, sagt sie, »die kriegen vielleicht auch nichts auf die Reihe. Oder sind nicht ehrlich genug, weil sie nicht verletzen wollen. Oder sie sollen nicht erfahren, wie unglaublich überfordert man sich emotional fühlt.« Ihre Ausführungen sind so schlüssig, dass man sich jederzeit vorstellen kann, sie im Bedarfsfall zu buchen, sie hat diesen zupackenden Das-schaffen-wir-schon-Ton, der in Selbstgesprächen nicht gelingt. Vielleicht ist es doch keine verkehrte Idee, sich gegen die eigenen Insuffizienzen jemanden anzuheuern, der sie, schon weil es das Geschäftsmodell verlangt, als durchaus bewältigbare Herausforderungen entdramatisiert.

Doch genau das könnte einem auch Unbehagen verursachen. Bei ihren Erkundigungen in der neuen Dienstleistungsökonomie hat Arlie Hochschild immer wieder festgestellt, wie sehr die Sprech- und Sichtweisen des Marktes plötzlich auf Lebensbereiche angewandt werden, die bisher von ökonomischer Denkungsart verschont geblieben sind. Ist es wirklich nötig, die eigene Person wie eine Marke zu behandeln, für ein wiedererkennbares »Image« und ein sympathisches »Branding« zu sorgen? Kann man Kinderziehung, Partnersuche, Familienleben betreiben, als wäre man ein Manager, der Quartalsziele verfolgt und die Implementierung von Strategien betreibt? Und wenn man sich von einem Hochzeitsplaner als Ritual einen Kirschbaum pflanzen lässt, hat das noch viel mit dem eigenen Ich zu tun – oder handelt es sich um eine Art Ware, deren Produktdesign Authentizität simuliert? Vielleicht ist auch die Fantasie, dass man sein Leben bis in den letzten Winkel nach Maßstäben der Sozialverträglichkeit und Psycho-Effizienz optimieren kann, bescheuert: Warum sollte es nicht Menschen geben, die völlig versöhnt damit sind, muffige, in sich vergrabene Schlampsäcke zu sein, die ihre Probleme mit sich selbst ausmachen?

Beruhigenderweise stößt der Trend zum Outsourcing emotionaler Arbeit noch immer wieder an Grenzen, wenn auch vielleicht nur vorläufige. In Deutschland scheinen sie dort zu liegen, wo Freundschaft beginnt. Das US-Unternehmen Rent-A-Friend wirbt damit, man könne bei ihm weltweit 417 000 Freunde mieten – zu Stundensätzen, die ihre Klienten selbst vereinbaren müssen. Auch in Berlin bietet Rent-A-Friend ein gutes Dutzend Miet-Freunde an, sympathisch aussehende Menschen, mit denen man laut ihren Selbstdarstellungen durch Bars ziehen, joggen, im Park abhängen oder shoppen gehen könnte. Als ich Martin anrufe, hat er lange keine Ahnung, worum es geht. Ich sei seit zwei Jahren der Erste, der sich bei ihm melde, sagt er, aber gut, dass ich es getan hätte, es erinnere ihn daran, sich da endlich wieder löschen zu lassen.

Fotos: Paul Octavious