Sibylle

Champagner, bitte!

Die Generation 50 plus kennt nur Best Ager, fit for fun, Golf spielen, Fernreisen, warum nicht in den Himalaja oder wenigstens zum Senioren-Tanztee ins Wellness-Hotel, ins Fitness-Studio, weil man mit 60 noch alles kann, was man will. Zumindest Nordic Walking.

Großmutter trägt Jeans und chattet im Internet auf der Suche nach dem Gleichgesinnten, mit dem sie getrennt leben, aber gemeinsam erleben will, Oper – Kunst – Bach. Und Bett, denn schließlich ist man mit 70 noch durchaus bereit für eine Beziehung mit Lust und Leidenschaft, Glas Rotwein bei Kerzenlicht, guten Gesprächen. Was ist falsch daran? Nichts. Und alles.

Die Frau von dreißig Jahren bei Balzac ist heute zu datieren auf zirka sechzig, kein Gammelfleisch dank Kosmetik und anderen Künsten, durchaus noch jedem Event gewachsen. Da stehen die Ladys in Designer-Klamotten, Konsum-Hedonistinnen auf hohen Absätzen, geliftet, geblondet, perfekt geföhnt die fürs Alter etwas zu lange Mähne. Habe ich Alter gesagt? Das ist nicht erlaubt. Wer würde an so etwas denken angesichts heißen Bemühens, jung zu sein, dieser immer noch freigelegten Dekolletees mit teurem Schmuck auf faltig gefleckter Haut, vom vielleicht nicht immer ganz treuen Gatten darübergebreitet in Liebe.

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Man ist so jung, wie man sich fühlt, und jung, jung sind wir geblieben, eine Win-win-Situation, die anstrengt, wenn die Uhren langsamer ticken. Die Marktforschung mit ihren Zielgruppen-Analysten hat errechnet, dass es schon 28,93 Millionen von Best Agern gibt, eine Galaxie von Grauköpfen, die nach der Arbeit das Leben genießen wollen. Zäh wie Efeu überwuchern sie alles und werden noch weiterwuchern, wenn wir hundert werden. 120 sogar, wie es die Wissenschaft für möglich hält. Ein Heer von künstlichen Gebissen, Knien, Hüftgelenken wird rollstuhlgerechte Straßen fordern und ein vereinfachtes Knopfdrucksystem für Küchengeräte und Computer. Wohl dem, der noch ein paar Freunde hat, um mit ihnen die Alters-WG zu teilen. Nur Mut, und vor allem Humor.

Dann fegt da ein Schwall wirklich Junger herein, lachend mit hundert weißen Zähnen, die Turnschuhgeneration, langbeinig, leichtfüßig, lässig. Nichts scheint wichtig zu sein außer dem Spaß, den sie haben. Aber ein paar Probleme plagen sie auch: den richtigen Job finden, den Mann, die Frau fürs Leben, vor allem sich selbst. »Die Leidenschaft flieht / die Liebe muss bleiben / drum prüfe, wer sich ewig bindet, / ob sich das Herz zum Herzen findet.«Ach ja, Schiller müsste man mal wieder lesen. Erinnere dich, du hast auch gelitten in den gepriesenen jungen Jahren: Irrungen, Wirrungen, Eifersucht, Ehrgeiz, Enttäuschung – darüber ist hingegangen, was man so Leben nennt.

»Was waren Sie für eine Schöne!«, sagt der lang nicht gesehene Freund. »Jetzt hätte ich Sie fast nicht wiedererkannt.« Dabei lebe ich mit lauter Befehlen an mich selbst: Halte dich aufrecht! Schultern nach unten und Pobacken zusammen, aus der Hüfte heraus gehen und auf die Füße aufpassen! Erst neulich nachts, Regen, bin ich fünf Marmorstufen hinuntergefallen – die Haut hing in Fetzen vom Schienbein. Unachtsamkeit kann man sich nicht mehr erlauben. »Nicht mehr« und »noch« bestimmen jetzt die Tage. Noch kannst du Berge hinaufwandern, aber hinunterrasen durch zischen-den Pulverschnee nicht mehr. Langlauf, meine Liebe, ist gesünder.

Du hast das alles genossen zu seiner Zeit, deiner Zeit. Genieße es, manchmal Nein zu sagen, wenn dir etwas nicht gefällt am turbulenten Geschehen draußen. Aber bleibe neugierig auf alles, was um dich herum geschieht. Eigentlich müsste der Blick sich jetzt schärfen für Missstände, Umstände, Zustände, die zu lindern man helfen könnte. Nach Afrika als Entwicklungshelfer wird man nicht mehr gehen. Aber um einen herum ist noch manches zu tun. Es muss ja nicht gleich in die Wohltätigkeitsdinners der Gesellschaftsladys ausarten, die sich so gern dafür rühmen lassen.

Neulich an Allerheiligen vor der Kirche auf dem Dorfplatz gingen die alten Frauen zum Friedhof, manche gebeugt, aber alle stattlich in ihren Lodenmänteln, Trachtenhüte auf Grauhaar. Gelassen im Bewusstsein gut gelebter Jahre voll Arbeit und Sorge um die Familie und den kranken Nachbarn auch. Wie schön sie waren.
Was ist eigentlich so schwer am Altwerden, diesem geruhsamen Prozess, dem grausamen auch, diesem fortschreitenden Leiden, an dem man stirbt? Eines noch fernen Tages.

Noch gibt es Abende wie diesen. Wir sitzen in unserem Lieblingsrestaurant, du legst deine Hand auf meine und sagst: Heute siehst du keinen Tag älter aus als achtundsiebzigeinhalb. Im Frühling bin ich 80 geworden. Champagner, bitte!
Ich bin ein Glückskind.

Anneliese Friedmann schrieb in den Sechzigerjahren unter dem Pseudonym »Sibylle« für den »Stern« über alles, was Menschen bewegt. Sie war die bekannteste Kolumnistin Deutschlands.