Es war das Geschäft seines Lebens: »Am Freitag explodierte die Bombe, am Samstag war die Innenstadt gesperrt, am Sonntag habe ich geöffnet und alle Blumen verkauft, Rosen, Tulpen, Geranien, sogar Stiefmütterchen, wirklich alle, dabei verkauft man nie alle Blumen, das ist wie mit dem Bier im Restaurant, das darf auch niemals ausgehen.« Aber dieser Sonntag war anders. Der Blumenhändler Sezar Kayri hat seinen Stand auf dem Platz vor der Domkirche in Oslo. In der Woche nach dem 22. Juli 2011 hat er so viel verdient wie sonst in einem ganzen Jahr.
2009 und 2010 wurden in Norwegen insgesamt 64 Menschen ermordet, Anders Behring Breivik hat an einem einzigen Tag 77 umgebracht.
Um zu spüren, wie heftig das Leid war, das er den Norwegern angetan hat, ruft man sich nur die Bilder von der Domkirche in Erinnerung: Die Blumen lagen meterdick, umrankten die 400 Jahre alten Steinmauern wie ein Kranz. Dieses Blumenmeer wurde zum Symbol der nationalen Trauer, denn Breivik hat mit seiner Bombe und den Kugeln nicht nur 77 Menschen getötet, er hat alle 4,9 Millionen Norweger getroffen. Jeder hat eine Geschichte zu erzählen. Dreimal haben wir für diese Reportage das Land besucht: Im August, als der Schock noch zu tief saß, als dass jemand lange hätte reden können; im November, als die meisten nur vergessen wollten; und im Mai, als der Prozess gegen Breivik bereits lief und viele ihre Stimme wiedergefunden hatten. In einer Woche jährt sich die Tragödie: Wie haben die Anschläge das Land und die Menschen verändert?
Mehr Kerzen, weniger Heroin
Die ersten zehn Rosen hat Olav Dag Hauge vor die Domkirche gelegt, am Samstagmorgen, einen Tag nach der Explosion. In der Nacht war er aus seinem Ferienhaus in den Bergen zurück nach Oslo gefahren, hatte mit Polizisten diskutiert, dass sie ihn zur Domkirche durchlassen. Hauge ist dort Pfarrer und Propst, er hat die kollektive Trauer also wie kaum ein anderer miterlebt. »Wir mussten Sicherheitspersonal einstellen, damit nicht zu viele Menschen gleichzeitig in die Kirche gehen«, erzählt er, und dass sie extra noch ein paar Feuerlöscher gekauft haben, wegen der Hunderttausenden von Kerzen, die für die Opfer entzündet worden sind. Mehr als 1,3 Millionen Menschen haben die Domkirche in den ersten drei Monaten nach dem 22. Juli besucht, normalerweise sind es 500 000 im ganzen Jahr.
Hauge ist die Reihen zwischen den Holzbänken auf- und abgeschritten und hat weinenden Menschen die Hand auf die Schulter gelegt. Er hat die Gebete gelesen, die die Besucher für die Opfer geschrieben haben. »Und was mir dabei aufgefallen ist: Viel mehr Menschen als üblich haben von einem Leben nach dem Tod geschrieben. Es ist wohl schwer, mit so einer Tragödie umzugehen, wenn man daran glaubt, dass mit dem Tod alles zu Ende ist.«
Die Anschläge haben die Menschen verändert, im Glauben, in ihren Einstellungen, zumindest kurzfristig. In einer Umfrage im August beispielsweise stimmten 82 Prozent der Norweger folgender Aussage zu: »Einwanderer bereichern unser kulturelles Leben.« Vor dem 22. Juli sagten das nur 72 Prozent. Dem Psychiater und Trauma-Experten Lars Weisaeth ist in Gesprächen mit Polizisten und Feuerwehrmännern, die auf Utøya dabei waren, aufgefallen, dass niemand versucht hat, mit schwarzem Humor die Tragödie zu überspielen. »Das habe ich noch nie erlebt«, sagt er. Und der 34-jährige Ole André Bottegaard hat sich weniger Heroin gespritzt.
Keine dreißig Meter von der Domkirche entfernt steht er in der Osloer Fußgängerzone und verkauft Straßenmagazine. Die Drogen haben seinem Gesicht die Farbe entzogen, zwischen all den gesunden, gebräunten Gesichtern wirkt er wie ein kahler Baum in einem grünen Wald. Als die Bombe explodierte, war er mit seiner Freundin in der
gemeinsamen Wohnung, doch am nächsten Tag ist er mit ihr in die Stadt gefahren. »Wir waren nüchtern«, sagt er, »bei so einem Ereignis wollten wir einen klaren Kopf haben.«
In diesen Tagen nach den Anschlägen hat er vier-, fünf-, sechsmal so viele Straßenmagazine verkauft wie sonst. »Ich glaube, die Menschen wollten zeigen, dass wir eine Gemeinschaft sind«, sagt er und schiebt sich den Träger seines Unterhemds zurück auf die dürre Schulter. »Sie wollten uns Schwachen helfen in dem Moment.«
Auch Bottegaard hat Rosen vor die Domkirche gelegt. »Ich habe sie geklaut«, sagt er und lacht. Die meterdicke Blumenschicht wurde jede Woche vom städtischen Gartenbauamt eingesammelt, aber nicht weggeworfen, sondern kompostiert. Aus den Blumen ist Erde geworden, und in diese Erde soll das Mahnmal gesetzt werden, das an die Opfer des 22. Juli erinnern wird.
Das wunderbarste Land der Welt
Das wunderbarste Land der Welt
Norwegen hat mit 3,6 Prozent die geringste Arbeitslosenquote in Europa und nach Luxemburg und Katar das höchste Pro-Kopf-Einkommen der Welt. Die Norweger produzieren mehr Strom aus erneuerbaren Energien, als sie verbrauchen, und haben bereits 1913, als zweites Land in Europa, das allgemeine Frauenwahlrecht eingeführt. Nach Schweden zahlen sie weltweit am meisten Entwicklungshilfe, und selbst in der Fairplay-Rangliste des europäischen Fußballverbandes UEFA standen sie 2011 auf Platz eins. Die Einnahmen aus dem Ölgeschäft fließen in einen Pensionsfonds, mit zurzeit etwa 450 Milliarden Euro gehört er zu den größten staatlichen Fonds der Welt, für jeden Norweger liegen darin theoretisch mehr als 90 000 Euro. Erst vergangenes Jahr, im Jahr der Anschläge, entdeckte der staatliche Ölkonzern Statoil in der Nordsee die größten Ölvorkommen seit den Achtzigerjahren.
Norwegen ist das Land der Segelboote und Jogger, ab fünf Uhr nachmittags sieht man in Oslo mehr Menschen in Sportkleidung als in Kostümen oder Anzügen. Der Bahnhof in der Hauptstadt wirkt extrem modern, und die weltberühmte Osloer Oper ist kein exklusiver Ort, sondern man kann ihr sprichwörtlich aufs Dach steigen. Die Norweger haben einen Ministerpräsidenten, der mit dem Fahrrad zum Parlament fährt, zumindest hat er das vor den Anschlägen getan. Danach hat er einen Satz gesagt, der vielleicht wie Kennedys Bekenntnis »Ich bin ein Berliner« in die Geschichtsbücher eingehen wird: »Unsere Antwort ist mehr Demokratie, mehr Offenheit, mehr Menschlichkeit.« Einen Tag später versammelten sich mehr als 100 000 Menschen in Oslo, um der Opfer Breiviks zu gedenken.
Thomas Hylland Eriksen ist Sozialanthropologe an der Universität in Oslo, sein Forschungsschwerpunkt: die norwegische Identität. Er spricht in Talkshows, schreibt für Zeitungen, ein intellektueller Outlaw mit braunen Zähnen und Dreitagebart. Wenn er über die kollektive Trauer seiner Mitmenschen nachdenkt, muss er sich erst mal eine Zigarette anzünden, um die Provokation, die dann kommt, richtig zu genießen.
»Wir wollen der Welt anscheinend zeigen, dass wir auch die Weltmeister des Friedens sind«, sagt er: »Schaut alle her, wie toll und perfekt wir mit unserem Trauma umgehen. Wir halten uns für die Größten, schon wieder, das hat auch Breivik getan. Und wie er meinen wir mit ›wir‹ vor allem uns Norweger, die schon immer hier leben.«
Bis in die Siebzigerjahre war Norwegen ein sehr homogenes Land: weiß und christlich. Vor zwanzig Jahren noch, 1992, hatten nur 4,3 Prozent der Bevölkerung ausländische Wurzeln, heute sind es 13,1. Im Vergleich zu Deutschland, wo jeder fünfte eine zweite Heimat hat, ist das immer noch wenig, aber die Tendenz in Norwegen ist klar: Die Einwanderer werden immer mehr.
Und nicht alle sind so gut integriert wie der Blumenverkäufer Sezar Kayri zum Beispiel, der 1980 aus der Türkei gekommen ist, mittlerweile zwei Töchter mit einer Norwegerin hat, einen Porsche Cayenne fährt und im teuren Osloer Westen wohnt. Läuft man durch den Ostteil der Stadt, durch Tøyen und Grønland, dann sieht man geteerte Fußballplätze, auf denen Kinder spielen, von denen kein einziges blonde Haare hat. In den Schaufenstern der Bäckereien glänzen mit arabischem Honig überzogene Baklavas und in den Cafés sitzen fast ausschließlich Männer im Neonlicht. Eine Parallelwelt wie in Berlin-Neukölln, nur ohne die vielen Graffiti.
»Und ich würde mir wünschen«, sagt der Sozialanthropologe Eriksen, »dass wir diese Vielfalt akzeptieren. Warum nicht ein kleines Stück Kalkutta in Oslo? Wir werden daran nichts ändern können. Die Welt ist nicht perfekt, wir sind nicht perfekt. Aber das macht uns Angst, weil wir Kontrollfreaks sind.« Eriksen meint damit: Kontrollfreaks wie Breivik. »Als dessen Mutter mal eine Grippe hatte, hat er sich einen Mundschutz aufgesetzt, um sich nicht anzustecken«, sagt Eriksen und zieht zufrieden an seiner Zigarette.
1994 haben die Norweger in einem Volksentscheid abgestimmt, dass sie der Europäischen Union nicht beitreten wollen - nicht die Kontrolle verlieren wollen, könnte man auch sagen. Ihr Nein zur EU gilt bis heute.
Das Böse hat keinen Namen verdient
»Das Arschloch«, so nennt ihn der Fotograf Frode Johansen, der für die Lokalzeitung Ringerikes Blad arbeitet. Er war als einer der ersten Journalisten am Tatort, weil seine
Redaktion keine 25 Kilometer von Utøya entfernt ist. Johansen hat die Leichen der Jugendlichen gesehen, brachte es aber nicht fertig, auf den Auslöser drücken.
»Der Verrückte«, so nennt ihn Frode Larsen, Marketingchef bei Norma, einem norwegischen Unternehmen, das Waffen und Munition importiert und vertreibt. Larsen und seine Branche stehen seit den Anschlägen mal wieder verschärft in der Kritik.
»Der Amokläufer«, so nennt ihn Eskil Pedersen, der Vorsitzende der AUF, der Jugendorganisation der Arbeiterpartei, die das Ferienlager auf Utøya ausgerichtet hat. Er hat es überlebt.
Kaum jemand will Anders Behring Breiviks Namen aussprechen, als könnte man ihn mit dieser Missachtung bestrafen. Ansonsten ist wenig Wut auf den Massenmörder zu spüren. Den einzigen Eklat während des Prozesses gab es, als der Bruder eines Opfers seinen Schuh auf Breivik warf. Der Mann war aus dem Irak nach Norwegen gereist, um dem Verfahren beizuwohnen. Wo aber ist die Wut der Norweger?
Unni Espeland hat drei Töchter, Andrine, 16, war ihre jüngste und auf Utøya dabei.
»Um 17.31 Uhr rief Andrine bei mir an. Sie weinte und schrie: ›Mami, Mami, hier ist ein Mann, der schießt auf uns.‹ Dann nahm ein Junge das Telefon und sagte, dass sie vereinbart hätten, die Handys nun auszuschalten, damit sie nicht entdeckt werden, falls ein Handy klingelt. Er versprach mir noch, auf Andrine aufzupassen.«
Unni Espeland muss nicht mehr weinen, während sie die Geschichte ihrer Tochter erzählt. Es ist Mai, zehn Monate sind seit den Anschlägen vergangen.
»Um 18.30 Uhr kam dann die Nachricht, dass sie den Mann gefangen genommen hätten. Dann habe ich angefangen zu telefonieren, aber Andrines Handy war aus, und in den Krankenhäusern und bei der Polizei wusste auch niemand was. Irgendwann haben wir gehört, dass ihre Freundin Cecilie gefunden wurde, wir konnten aber nicht mit ihr sprechen, weil sie so schwer verwundet war, angeschossen, drei oder vier Mal, ihr Arm musste amputiert werden. Wir sind dann in Richtung Utøya gefahren, in das
Hotel, wo die anderen Opferfamilien waren. Wir ahnten, dass Andrine tot ist.«
Erst am 29. Juli, eine Woche später, erhält Unni Espeland die Nachricht, dass man ihre Tochter nun identifiziert und obduziert hat.
»Ich war erleichtert, weil es noch vor ihrem Geburtstag war. Der ist einen Tag später, am 30. Juli, sie wäre 17 geworden. Wir haben dann eine Zeremonie in der Kirche gefeiert. Andrine lag in einem offenen Sarg. Man konnte sehen, dass sie verletzt ist, sie hatte einen Verband am Kopf, er hat ihr in den Nacken geschossen und die Kugel ist ihr an der Wange wieder ausgetreten. Die anderen Einschüsse hat man nicht gesehen. Nach dem Gottesdienst sind wir in ein Restaurant gegangen und haben gut gegessen. Andrine hat gerade eine Ausbildung in einer Bäckerei gemacht, sie liebte gutes Essen. Wir wollten an ihrem Geburtstag das machen, was auch ihr gefallen hätte.«
Breivik hat Andrine erschossen, als schon Polizisten auf der Insel waren. Sie war sein letztes Opfer. Im Gericht saß Andrines Mutter dem Mörder ihrer Tochter gegenüber.
»Ich habe große Probleme, mir vorzustellen, dass er ein Mensch ist. Er wirkt so leer, er zeigt keine Gefühle, nichts. Daher kann ich auch nicht wütend auf ihn sein. Ich würde gern sein Gesicht in meine Hände nehmen und ihn schütteln, dass er endlich aufwacht.«
Was Mörder über Breivik sagen
Was Mörder über Breivik sagen
Das Gefängnis mit dem bestausgebauten Hochsicherheitstrakt in der Region Oslo ist das Ringerike Fengsel. Hier sitzen Mörder, Vergewaltiger. Rolf Martin Synnes spricht mit ihnen sechs Tage die Woche. Er ist Gefängnispriester, ein Mann wie ein Elch: groß und gemütlich. Nach dem 22. Juli hat er mit den Häftlingen für die Opfer gebetet. »Sie waren geschockt wie jeder in Norwegen. Viele haben geweint. Dann ist das Interesse aber schnell von den Opfern auf den Typen gekippt, der es gemacht hat. Ich glaube, das ging hier schneller als draußen. Die Leute reden eher aus dem Bauch heraus: ›Für den sollte man die Todesstrafe wieder einführen‹, so was halt.«
Einer der Häftlinge ist verwandt mit einem Mädchen, das auf Utøya gestorben ist. »Der hat gehofft, dass Breivik nach Ringerike kommt«, sagt Synnes. Eigentlich sollte er das auch, aber wie der Zufall es will, schaut man von den betongrauen Gefängnismauern auf den Tyrifjord, in dessen tiefblauem Wasser die Insel Utøya liegt. Breivik saß während der Untersuchungshaft in einem anderen Gefängnis.
Gewinner und Verlierer
Ein gutes Jahr war es für die Medien: »Unsere Auflage ist nach dem 22. Juli um zwanzig, dreißig Prozent gestiegen, sagt John Arne Marcussen, Chefredakteur des Dagbladet, eine der größten norwegischen Tageszeitungen. »Die Menschen konnten nicht genug Informationen bekommen.«
Mehr als sechzig Mal war ein Foto von Breivik auf dem Dagbladet-Titel, einige
Kioskbesitzer haben die Zeitungen umgedreht, damit die Kunden nicht jeden Tag den Massenmörder ansehen müssen. Der Chefredakteur hat reagiert, zumindest online: Auf der Startseite der Homepage seiner Zeitung gibt es einen großen schwarzen Button. Drückt man ihn, werden keine Artikel über den 22. Juli angezeigt. Acht Prozent der Leser würden diese Option wählen, sagt er.
Ein schlechtes Jahr war es für die französische Modemarke Lacoste. Breivik hatte in seinem Manifest geschrieben, dass er gern »teure Marken« trägt, Lacoste zum Beispiel. Das tat er dann auch nach seiner Verhaftung, auf den Fahrten zum Gericht, einen roten Strickpulli mit dem Lacoste-Krokodil. Die Franzosen haben die norwegische Polizei gebeten, ihm das Tragen ihrer Marke zu untersagen. Auf Fragen zu möglichen
Umsatzeinbrüchen in Norwegen antworten sie nicht.
Ein schlechtes Jahr war es auch für Frode Larsen, den Marketingchef der Waffen- und Munitionsfirma Norma, der Breivik nur den »Verrückten« nennt, wie gesagt. Ende Mai 2012 sitzt Larsen in der Lobby des »Opera Hotels« in Oslo und versucht seine Branche zu verteidigen.
Die Munition zum Beispiel: Breivik hat Patronen benutzt, die einen weichen Kern haben, die also aufgehen, größer werden, wenn sie in einen Körper eindringen. Darüber hätten sich viele Menschen aufgeregt, sagt Larsen: Warum darf solche Munition überhaupt verkauft werden? »Aber das ist norwegisches Jagdgesetz. Wir müssen solche Kugeln benutzen, weil sie größere Wunden reißen und das Tier so schneller stirbt.«
Jagen ist in Norwegen Volkssport, jeder Zehnte hat einen Jagdschein. »Und viele von denen haben seit dem 22. Juli Angst, dass man sie für Verrückte hält, wenn sie ihr Gewehr vom Haus ins Auto tragen, das haben mir unsere Kunden immer wieder erzählt«, sagt Larsen, der vom Elch bis zum Elefanten selbst schon alles geschossen hat. In seiner Freizeit organisiert er Safaris nach Simbabwe, er war früher Sportschütze und arbeitet seit dreißig Jahren in der Waffenindustrie, er kennt die Diskussionen, wenn irgendwo irgendwer Amok läuft, aber so einen Gegenwind wie nach dem 22. Juli hat er noch nie gespürt. Deshalb wollen er und seine Branche in die Offensive gehen, ein Zeichen setzen, »wir haben gerade eine Verschärfung des Waffengesetzes diskutiert«, sagt er. Ihr Vorschlag: Die Kapazität von Magazinen für halbautomatische Gewehre, wie auch Breivik eins benutzt hat, soll limitiert werden, auf maximal zehn Kugeln, bisher gibt es keine Beschränkung. Warum eigentlich nicht, man braucht doch keine dreißig Schuss zum Jagen? Larsen antwortet mit einer Gegenfrage: »Warum haben manche Autos 300 PS?«
Die Nachbarn von Utøya
Wie ein großer, grüner Wal liegt die Insel im Wasser, etwa 500 Meter von der steinigen Küste entfernt, von ihrer Veranda aus hat Brid Edvarsen einen fantastischen Blick. Sie lebt mit ihrem Mann in einem Haus am Hang des Tyrifjords: 200 Quadratmeter, dunkles Holz, vier Hektar Land, Traumlage. Als auf der Insel geschossen wurde, dachte sie erst, es seien Silvesterknaller. Vier Wochen später, Ende August, steht sie in ihrem Garten und pflückt Pflaumen, die noch etwas sauer schmecken. Sie sagt, dass ihr Mann und sie sich langsam zu alt fühlen für das große Haus und dass sie es eigentlich verkaufen wollten. »Aber wer kauft das denn jetzt?«
Unterhalb ihres Grundstückes schlängelt sich die Küstenstraße um den Granitfels. Nach einem Kilometer Richtung Norden kommt auf der linken Seite der Campingplatz Utvika. Von hier aus sind am 22. Juli ein paar Gäste mit Motorbooten losgefahren, um den Jugendlichen, die auf ihrer Flucht vor Breivik ins Wasser gesprungen sind, zu helfen. Auf dem steinernen Steg, wo die Boote liegen, dreht ein Fernsehteam aus Japan gerade einen Beitrag für die Abendnachrichten, eigentlich wollten sie auch den Campingplatzbesitzer interviewen, doch Brede Johbraaten möchte nichts mehr zu den Anschlägen sagen. Fast alle seine dreißig Stellplätze für Wohnwagen und Zelte sind leer, auch die 14 Hütten. Seine Tochter Anita erzählt später, dass ihre Familie seit vier Generationen auf diesem Grundstück lebt, ihre Großeltern waren Landwirte, hatten eine Schweinezucht. 1990 haben ihr Vater und ihre Mutter dann den Campingplatz aufgemacht. »Wir wollen hier nicht weggehen«, sagt Anita Johbraaten, »niemals.«
Die Wellen schwappen gegen den Steg: schwapp, schwapp, schwapp, immer weiter, als wäre nichts geschehen.
Noch ein paar Kilometer die Straße Richtung Norden entlang, vorbei am Tyrifjord Golfclub und dem Hotel »Sundvollen«, in dem die Familien der Opfer untergebracht waren, verkauft eine Tankstelle weiße Grabkerzen für 21 Kronen das Stück, etwa drei Euro.
Krimischreiben nach dem 22. Juli
Anne Holt hat in ihren Büchern schon einige Kinder sterben lassen, sie ist eine der erfolgreichsten Krimiautorinnen Norwegens. »Aber hätte ich mir so etwas wie Breiviks Anschläge ausgedacht«, sagt sie, »hätte mein Verleger nur den Kopf geschüttelt: Das sei viel zu unglaubwürdig.« Am 22. Juli hat die Realität die Fiktion überholt.
Holt schrieb gerade an einem neuen Roman: Ein Junge ist tot, die Eltern behaupten, er sei von der Leiter gefallen, aber es kann auch Mord gewesen sein. Holt hat das Buch vor dem 22. Juli begonnen. Es spielt in Oslo, im Sommer 2011. »Und da kann ich natürlich nicht so tun, als wäre es nicht passiert.« Also hat sie den Plot umgeschrieben. Der Unfall, oder der Mord, geschieht nun am 22. Juli um 15.25, also genau zu der Zeit, zu der die Bombe explodiert. »Und alle Polizisten sind mit dem Chaos in der Stadt beschäftigt«, sagt Holt. »Tod im Schatten« wird das Buch heißen, weil es von einem Verbrechen handelt, das von der nationalen Katastrophe verschluckt worden ist.
Das erfolgreichste Buch seit dem 22. Juli in Norwegen ist kein Krimi, sondern ein launiges Sachbuch: Hel Ved von Lars Mytting. Darin geht es um Feuerholz: wie man es trocknet, wie man es stückelt, wie man es stapelt.
Wer hat Angst vorm weißen Mann?
Wer hat Angst vorm weißen Mann?
Der Pausenhof der Osloer Tøyen-Schule liegt im Schatten zehnstöckiger Sozialbauten, 99 Prozent der Schüler hier haben ausländische Wurzeln, die meisten kommen aus Pakistan und Somalia.
Breivik ist auf dem Pausenhof ein Schimpfwort, erzählt der Lehrer Torgeir Stueng. »Scheiß Breivik« oder »Scheiß ABB«, so würden sich die älteren Jungs gegenseitig anmachen. »Aber das kaschiert nur ihre Angst«, glaubt Stueng. In seiner Klasse stellen ihm die Schüler fast jede Woche die gleiche Frage: Wird Breivik irgendwann wieder freikommen? Das beschäftigt sie. »Viele meiner Schüler haben Krieg erlebt«, sagt Stueng, »und dann flüchten sie nach Norwegen, ins Land, wo Milch und Honig fließen, wo sie endlich sicher sind – und plötzlich explodieren hier auch Bomben. Das war ein doppelter Schock für sie.«
Angst machte vielen Menschen in Oslo auch diese Meldung: 2011 wurden in der Stadt mehr als doppelt so viele Frauen auf der Straße angegriffen und vergewaltigt wie im Jahr zuvor: 55 Frauen insgesamt, bei 22 blieb es beim Versuch.
Der Gewaltforscher Peter Gill von der Universität Oslo hat in einem Zeitungsinterview diese gestiegene Zahl mit Breiviks Anschlägen in Verbindung gebracht: »Es ist falsch, Breivik nur als einen einsamen Verrückten zu sehen. Es wird Männer geben, denen Breivik imponiert – seine Taten können ein Reiz für andere sein, ebenfalls Grenzen zu übertreten.«
Sjur Mikalsen versucht das zu verhindern. Jedes Wochenende, wenn es Nacht wird, spaziert er in neongrüner Warnweste und mit wachsamem Blick durch die Osloer Innenstadt. Er ist ein Nachtrabe, so nennt sich die Bürgerinitiative, Mikalsen macht seine Kontrollgänge ehrenamtlich. Seine Exfreundin wurde vor ein paar Jahren vergewaltigt, deshalb hat er sich den Nachtraben angeschlossen. Meistens bleibt es so ruhig wie an diesem Freitagabend Ende Mai: ein paar Touristen, die nach dem Weg fragen, ein paar Betrunkene, die grölen und mit dem Nachtraben abklatschen wollen, ein paar Bierflaschen, die Mikalsen vom Gehweg in eine Mülltonne räumt. Aber gerade in den Parks der Stadt habe er mit seiner Taschenlampe schon die ein oder andere zwielichtige Gestalt verjagt, sagt er.
Wer die Täter sind? Vor allem Einwanderer, antwortet Mikalsen, aber dann fällt ihm auf, was er da gerade gesagt hat, wie man das verstehen könnte, nach Breivik, und er schiebt nach: »Die meisten Vergewaltigungen finden nicht auf der Straße, sondern zu Hause statt, in der Familie, und da sind viele Täter auch Norweger.«
Breiviks Macht
An einem Prozesstag im April ergreift Breivik vor Gericht das Wort, um gegen den linken Liedermacher Lillebjørn Nilsen zu hetzen. Sein Lied Kinder des Regenbogens sei ein gutes Beispiel für die »kultur-marxistische Indoktrination« der Norweger. Am nächsten Tag treffen sich rund 40 000 Menschen in Oslo, um ein Zeichen gegen den Hass des Massenmörders zu setzen: Gemeinsam singen sie eben jenes Lied Kinder des Regenbogens.
»Man kann das auch kritisch sehen«, sagt der Psychiater und Trauma-Experte Lars
Weisaeth: »Breivik hat die Macht, 40 000 Menschen singen zu lassen. Dabei ist es für die Opfer das Wichtigste zu sehen, dass sie nun die Regeln bestimmen, nicht er.«
Eskil Pedersen versucht genau das: selber die Regeln zu bestimmen. Zum Beispiel hat er die Kontakte seiner toten Freunde in seinem Smartphone nicht gelöscht, er will sich der Erinnerung aussetzen, denn »wenn es dein Ziel ist, nicht an den 22. Juli zu denken, nicht traurig zu sein, dann wirst du jeden Tag enttäuscht«, sagt er. Pedersen ist der Vorsitzende der AUF, der Jugendorganisation der Arbeiterpartei, der Breiviks Menschenjagd auf Utøya überlebt hat.
Es ist Ende Mai, 28 Grad, Oslo riecht nach Sonnencreme. Die Frauen tragen sehr knapp abgeschnittene Jeans und der 28-jährige Berufspolitiker Pedersen eine Shorts zum aufgeknöpften karierten Hemd, norwegische Leichtigkeit wie das allgegenwärtige Duzen, doch aus seinem Büro im achten Stock blickt Pedersen auf das Regierungsgebäude, vor dem die Bombe explodiert ist. Wie viele Interviews er schon zu den Anschlägen gegeben hat, weiß er nicht, irgendwann hat er aufgehört zu zählen. Der 22. Juli hat alles andere in seinem Beruf, in seinem Leben klein gemacht. Sein Vater ist einen Monat vor den Anschlägen gestorben, er war schwer krank. Eskil Pedersen sagt: »Es klingt merkwürdig, aber ich muss nicht oft an ihn denken. Ich glaube, jeder Mensch hat nur einen bestimmten Platz, eine bestimmte Kapazität für seine Trauer, und wenn die voll ist, muss man warten, bis der eine Schmerz vergangen ist, um den anderen wahrzunehmen.« Der Schmerz um den 22. Juli hat den Schmerz um seinen Vater verdrängt. Auch das ist Breiviks Macht.
Wie geht es weiter mit Norwegen?
Die Krimiautorin Anne Holt beantwortet die Frage mit einer Geschichte aus ihrer Kindheit: »Als ich fünf war, habe ich mit meinen Eltern in den USA, in Dallas gelebt, als dort John F. Kennedy getötet wurde. Ich war mit meinem Vater am Tatort, kann mich genau an das Fenster erinnern, aus dem geschossen worden sein soll, die Polizei hatte es mit einem roten Punkt markiert. Ich glaube, dieses Ereignis hat meinem ganzen Leben eine bestimmte Farbe gegeben. Und das gibt mir Hoffnung, dass unsere Kinder, die nun mit dem 22. Juli groß geworden sind, tatsächlich offener und toleranter durchs Leben gehen werden als wir.«
Unni Espeland, die Mutter von Andrine, hat vor Kurzem begonnen, die Kleider aus dem Schrank ihrer Tochter auszuräumen. Sie will einen Flohmarkt veranstalten. »Ich habe das Gefühl, wir sollten ihre Sachen benutzen und nicht liegen lassen«, sagt sie und verabschiedet sich, sie hat noch einen Termin, mit Jens Stoltenberg, dem Ministerpräsidenten, er hat sie eingeladen, zu sich nach Hause.
Fotos: Andrea Gjestvang