Warum miteinander reden, wenn man jederzeit jeden erreichen kann?
SZ-Magazin: Mrs. Turkle, Sie galten lange als großer Freund jeder neuen Technologie – mittlerweile kritisieren Sie die Vereinsamung, die permanentes Starren auf das Smartphone mit sich bringt. Sind Sie zur Konvertitin geworden?
Sherry Turkle: Nein. Technologie begeistert mich immer noch. Aber ich glaube, dass sie uns zu etwas führt, wo wir nicht hinwollen. Beispielsweise Geselligkeit als das zu definieren, was uns ein soziales Netzwerk machen lässt. Mit meinem Buch Alone Together tue ich Buße für meinen Fehler, etwas übersehen zu haben.
Was denn?
Als ich das Internet als einen Ort pries, an dem Leute mit ihrer Identität experimentieren können, dachte ich, man sitzt an seinem Computer, verbringt ein bisschen Zeit damit und lebt dann sein Leben weiter. Ich sah nicht voraus, dass Sie und ich hier zusammensitzen würden, Ihr Telefon vibriert und Sie sagen: »Entschuldigen Sie bitte, ich habe jetzt Besseres zu tun.«
Es leidet also die Wichtigkeit des Gesprächs von Mensch zu Mensch?
Wenn etwas funktioniert hat und nützlich war für Eltern, Lehrer und Kinder, sollten wir es schätzen und fördern. Smartphones, Computer und das Internet sind nicht schlecht. Es geht um den Platz, den wir ihnen in unserem Leben geben.
Aber man hat doch mehr Kontakte denn je dank Internet.
Man zeigt einander seine Fotos, gut. Das ist gesellig, aber wenn man die Geselligkeit von Leuten danach bemisst, wie fleißig sie so etwas tun, vergisst man, dass es sehr viel wichtigere und wertvollere Aspekte von Geselligkeit gibt. Etwa die Fähigkeit, ruhig dazusitzen und jemandem geduldig zuzuhören.
Warum können wir das nicht mehr?
Weil diese kleinen Dinger in unseren Taschen psychologisch so mächtig sind, dass sie nicht nur verändern, was wir tun, sondern auch, wer wir sind. Sie bestimmen, wie wir miteinander und mit uns selber umgehen. Wir gewöhnen uns daran, zusammen allein zu sein.
Was heißt das?
Man will miteinander sein, aber gleichzeitig auch woanders, an Orten, die man nach Belieben besuchen und verlassen kann. Was zählt, ist die Kontrolle darüber, wem und welchen Dingen man sich zuwendet. Wollen wir, dass unsere Kinder soziale Fähigkeiten haben, einander ins Gesicht sehen, sich unterhalten, miteinander verhandeln, sich in einer Gruppe wohlfühlen können? Wenn ja, dann ein bisschen weniger Zeit im Internet, s’il vous plaît.
Was ist denn falsch daran, wenn Jugendliche ihre Kontakte übers Internet pflegen?
Dass sie glauben, sie seien niemand, wenn sie es nicht tun. Die Devise lautet: »Ich teile mich mit, also bin ich.« Die digitale Kommunikation braucht keinen Inhalt, keine Botschaft. Vom »Ich habe ein Gefühl, ich möchte jemanden anrufen« geht es zum »Ich möchte ein Gefühl haben, also schicke ich eine SMS«. Teenager spüren ihr Gefühl nicht, wenn sie das nicht tun. Was einst als pathologisch gegolten hätte, ist heute der Stil einer Generation.
Zu der wir beide nicht gehören. Ist das vielleicht das Problem?
Es betrifft die ältere Generation genauso. Wenn wir nicht in ständigem Kontakt miteinander stehen, spüren wir uns selbst nicht mehr. Was also tun wir? Wir suchen noch mehr Kontakt. Was schließlich in die Isolation führt.
Warum denn das?
Weil man damit die Fähigkeit zum Alleinsein verliert. Erst das Alleinsein ermöglicht, sich selber zu finden und mit anderen eine Bindung einzugehen. Können wir das nicht, wenden wir uns den anderen zu, um uns nicht zu ängstigen, ja um uns überhaupt erst lebendig zu fühlen. Die anderen werden zu einer Art Ersatzteillager für das, was uns fehlt. Einer Generation, die Alleinsein als Vereinsamung erfährt, mangelt es an Autonomie. Diese zu entwickeln ist für Heranwachsende aber lebenswichtig.
Also weg mit dem Smartphone?
Jugendliche geraten in Panik, wenn sie es nicht dabeihaben. Sie sagen Sachen wie: »Ich habe mein iPhone verloren, es fühlt sich an, wie wenn jemand gestorben wäre, ich meinen Kopf verloren hätte.« Oder: »Auch wenn ich es nicht bei mir habe, spüre ich es vibrieren. Ich denke daran, wenn es im Schließfach ist.« Die Technik ist bereits ein Teil von ihnen selbst geworden.
Wie schafft so ein Ding das?
Smartphones befriedigen drei Fantasien: dass wir uns immer sofort an jemanden wenden können, dass wir immer angehört werden und dass wir nie allein sind. Die Möglichkeit, nie allein sein zu müssen, verändert unsere Psyche. In dem Augenblick, in dem man allein ist, beginnt man sich zu ängstigen und greift nach dem Handy. Alleinsein ist zu einem Problem geworden, das behoben werden muss.
Es geht um Kontrolle.
Die amerikanische Kulturwissenschaftlerin Sherry Turkle (Foto: Peter Urban)
Waren Sie oft allein als Kind?
Ja, und es war großartig. Was wir Langeweile nennen, ist wichtig für unsere Entwicklung. Es ist die Zeit der Imagination, in der man an nichts Bestimmtes denkt, seine Vorstellung wandern lässt.
Ohne dreitausend SMS pro Monat zu verschicken wie der durchschnittliche Teenager heute. Erwachsene, die nicht mit diesem Kommunikationsmittel aufgewachsen sind, sind aber auch nicht faul.
Ja, sie machen es in Geschäftssitzungen, während des Unterrichts und Vorträgen, eigentlich ständig. Und gesimst wird selbst bei Begräbnisfeierlichkeiten.
Haben Sie das erlebt?
Ja, bei der Beerdigung eines engen Freundes. Mehrere taten das, während der Musik, der Gedenkreden. Eine ältere Frau sagte mir danach, sie habe es nicht ausgehalten, ihr Handy so lange nicht zu benutzen.
Ahmt die ältere Generation die junge nach?
Viele Kinder, die ich interviewt habe, klagen darüber, dass das Smartphone der Eltern zum Konkurrenten geworden ist. Mütter und Väter, die Harry Potter vorlesen und gleichzeitig unter der Bettdecke SMS schreiben. Nicht von ihrem Smartphone aufblicken, wenn ihre Sprösslinge aus der Schule kommen.
Die Jungen sind doch nicht besser. Sie vermeiden sogar das Telefonieren - weshalb eigentlich?
Sie bevorzugen SMS, weil es weniger riskant ist. Sie sagen: »Ich kann die Info rausschicken, bin nicht involviert in den ganzen Rest.« Sie brauchen dem anderen nicht gegenüberzutreten. Wer telefoniert, riskiert ein Gespräch.
Geht es um Kontrolle?
Ja. Und um den Auftritt. Einen Text kann ich nach meinem Belieben formulieren, den Facebook-Status nach meinem Gutdünken aktualisieren. Diese Generation ist daran gewöhnt, sich zu präsentieren. SMS, E-Mails, Posts – man kann sich so zeigen, wie man sein und gesehen werden möchte. Man kann redigieren, retuschieren, nicht nur die Messages, sondern auch sein Gesicht, seinen Körper.
Das ist doch gut. Warum soll man sich mit Minderwertigkeitsgefühlen quälen?
Was Freundschaft und Intimität von einem fordern, ist kompliziert. Beziehungen sind schwierig, chaotisch und verlangen einem etwas ab, gerade in der Adoleszenz. Die Technologie wird genutzt, das zu umgehen, um sich mit den Problemen nicht auseinandersetzen zu müssen. Die Jungen schätzen ein Kommunikationsmedium, in dem man Verlegenheit und Unbeholfenheit ausblenden kann. Man zieht sich zurück, bevor man abgelehnt wird.
Aber sie haben doch auch reale Beziehungen, lieben einander, haben Sex.
Natürlich ist es nicht so, dass niemand mehr Freunde hat, man einander nicht mehr persönlich sieht. Die vielen Schüler und Studenten, die ich interviewt habe, treffen sich gern, suchen die körperliche Nähe. Aber sie reden nicht mehr so viel miteinander. Sie spielen Videospiele, simsen, kaufen online ein.
Und Liebespaare?
Sie erzählen, sie würden viel Zeit miteinander verbringen, allerdings auf Facebook. Und auch, dass sie nicht so viel miteinander reden. Sie rechtfertigen es damit, dass Reden nicht so wichtig sei.
Wenn es ihnen hilft, warum nicht? Sind denn die vielen Schnipsel von Kontakten und Kommunikation zusammengenommen nicht ein Gespräch?
Es reicht nicht aus, um einander kennen- und verstehen zu lernen. Im Gespräch mit anderen lernen wir auch das Gespräch mit uns selber. Wenn wir nicht miteinander reden, kompromittieren wir unsere Fähigkeit zur Selbstreflexion. Für Heranwachsende ist diese aber das Fundament ihrer Entwicklung.
Wie sieht es denn in Ihrer Branche aus, in der Universität?
Bei Fakultätssitzungen holt jeder seinen Laptop hervor und erledigt seine E-Mails. Sagt jemand etwas, was einen interessiert, schaut man auf.
Viele leiden unter der Flut von E-Mails. Hat sie ernsthaftere Folgen als die höhere Arbeitsbelastung?
Wenn man nicht sogleich auf eine E-Mail antwortet, wird einem das übelgenommen.
Wie ist das an der Universität?
Niemand, der wie ich dreißig Jahre gelehrt hat, übersieht, dass die heutigen Studenten in einem Maße stimuliert werden müssen, wie das früher nicht nötig war. PowerPoint bestimmt die Art des Lehrens, und Studenten lernen, dass eine gute Präsentation eine PowerPoint-Präsentation ist, peng, peng, peng! Die Stille des Denkens fehlt ihnen, wo eines zum anderen führt, sich das Ganze langsam aufbaut. Das intellektuelle Vergnügen, komplexe Themen in einem Gedicht, einem Roman oder Theaterstück zu verfolgen, geht verloren, weil man nicht mehr die Fähigkeiten erwirbt, sie zu erfassen. Ein Roman von Jane Austen verlangt Aufmerksamkeit für Dinge, die langfädig, ineinander verwoben und kompliziert sind. Zu sagen: »Wir sind die Generation, die es kurz und süß und haiku will«, heißt, dass man sich die Ästhetik von der Technik diktieren lässt. Bloß weil sie einem alles leicht macht, was kurz und süß und haiku ist.
Was bedeutet das für die Zukunft?
Wenn die Technik verlangt, dass unsere Geschichten kurz und simpel sind, hinterlassen wir unseren Kindern eine Welt kurzer und simpler Geschichten. Wie sollen wir sie überzeugen, dass die Probleme der Welt komplexer sind als je zuvor? Die Umwelt, die Politik?
Verbringen Ihre besten Studenten auch so viel Zeit mit SMS, mit Facebook?
Ja. Auch sie können sich kaum auf eine Sache konzentrieren. Sie schreiben schlechter als früher, und es fällt ihnen schwer, eine komplexe Idee bis zum Ende durchzudenken. Sie machen immer Multitasking.
Eine Fähigkeit, für die diese Generation gepriesen wurde, oder?
Heute nicht mehr. Die neuen Studien zeigen eindeutig, dass sich beim Multitasking alles ein bisschen verschlechtert. Fatal ist, dass der Multitasker glaubt, er sei besser und besser, weil er immer mehr auf einmal tut. Das Gegenteil ist der Fall.
Was halten Sie eigentlich von Siri, dem digitalen Assistenten von Apples iPhone?
Viele sagen, sie wünschten sich eine fortgeschrittenere Version von Siri als Freund, als jemanden, der ihnen zuhört. Dieses Gefühl, niemand höre einem zu, ist sehr verbreitet, und Facebook oder Twitter sind deshalb so attraktiv, weil man so viele automatische Zuhörer hat. Schauen Sie sich die Werbung von Apple an – alle diese Filmstars, die über ihre Gespräche mit Siri reden, Leute wie Samuel Jackson oder John Malkovich. Sie demonstrieren, wie man mit Robotern über ziemlich intime Sachen spricht. Jackson will einen Rat für ein Rendezvous und Malkovich einen Witz erzählt bekommen. Man kann ein ernsthaftes Gespräch mit Siri führen, das ist die Botschaft – Prominente tun es! Aber Siri hat in Wahrheit von nichts eine Ahnung. Es findet eine Pizzeria, hat eine gute Sprachverarbeitung, dies und das, aber damit hat es sich. Die Leute sind so sehr daran gewöhnt, kein wirkliches Gespräch mehr zu haben, dass sie nahezu willens sind, sich von Menschen ganz zu verabschieden.
Wir verändern uns eben. Maschinen werden gesellschaftsfähig. Und was wir einmal für privat hielten, wird heutzutage ungeniert veröffentlicht.
Wir haben unseren Kindern Facebook gegeben und gesagt: Habt Spaß damit. Und jetzt ist es, wie wenn wir ihnen eine Art Mini-Stasi gegeben hätten. Wo alles, was sie denken und tun, auf alle Ewigkeit im Besitz von Facebook ist und für welche Zwecke auch immer von Facebook genutzt werden kann. Google, eine Suchmaschine? Nein, eigentlich nicht, es verleibt sich alles ein, was je geschrieben wurde, und speichert die Spuren meiner Suche. Das ist nicht illegal – dass ich die Vereinbarung nicht gelesen habe, mein Fehler. Wie ein Magier unseren Blick vom Ort des Geschehens ablenkt, damit wir den Trick nicht sehen. Nicht merken, was wirklich passiert.
Junge Leute werden sich bewusst, dass Arbeitgeber ihre Facebook-Seite anschauen.
Nicht nur das. Sie fragen heute nach dem Passwort bei einer Stellenbewerbung, dem Zugang zum Facebookkonto und damit zu allem, jeder Message, jeder privaten E-Mail. Es ist wie: »Kann ich Ihre Liebesbriefe lesen, Ihren Schreibtisch durchsuchen, die Schublade mit Ihrer Unterwäsche?«
»Verzehrt wird von dem, was einen ernährt«?
Die Privatsphäre, wie wir sie kennen, ist geschichtlich etwas Neues. Kann es nicht einfach sein, dass die junge Generation wieder davon abkommt?
Wir gaben den Jungen eine aggressive Applikation, deren Erfinder und CEO Mark Zuckerberg sagte, Privatsphäre sei irrelevant. Was ist Intimität ohne Privatsphäre? Was Demokratie? Privatsphäre ist ein soziales Gut. Eric Schmidt von Google ist für den Ratschlag bekannt: »Seid bloß gut.« Ich bitte Sie.
Sind wir nicht einfach süchtig? Und Zuckerberg & Co. die Dealer?
Nein, das glaube ich nicht. Wenn man süchtig ist, gibt es nur eine Lösung: Abstinenz. Wir werden uns aber nicht unserer Smartphones entledigen wollen. Es ist wie mit dem Essen: Man muss das gesunde Maß finden.
Aber das Verhalten ist doch ein Suchtverhalten - man kann sich nicht ausklinken, hat nie genug, braucht immer mehr.
Wenn man SMS schreibt, E-Mails verschickt, Informationen aus dem Netz sammelt, verschafft einem das ein gutes Gefühl. Ein High, man ist der Herr des Universums. Am Ende des Tages merkt man, dass man ununterbrochen beschäftigt war und über nichts Ernsthaftes nachgedacht hat. Dass man, wie es bei Shakespeare heißt, »verzehrt wird von dem, was einen ernährt«.
Was hat Sie am meisten überrascht bei Ihrer Untersuchung?
Die Tatsache, dass die Eltern das Vorbild sind für das Verhalten, das sie dann an ihren Kindern kritisieren. Sie haben sich in die ganze Sache vergafft, und die Jungen sind es, die unter Mangel an Zuwendung leiden. Sie sind es auch, die uns eher helfen können, den Kurs zu korrigieren. Es sind Teenager, die möchten, dass ihre Eltern sich nicht so von Technologie verführen lassen. Sie haben Bedürfnisse, die nicht befriedigt werden, und sie sagen das klar und deutlich.
Und wie denken die Jungen über ihr eigenes Verhalten?
Manche wünschen sich eine Pause. Ich habe einen 16-Jährigen interviewt, es ging etwa eine Stunde, und als er sein Smartphone wieder einschaltete, hatte er hundert SMS.
Wie gehen Jugendliche denn mit diesem Übermaß an Kommunikation um?
Ein Junge sorgte sich, dass alle denken, er habe keine Freunde, weil sein letztes Post in Facebook eine Woche her war. Manche nehmen aus solchen Gründen Ferien von Facebook. Sie halten den Druck nicht aus, ihr Profil ständig zu aktualisieren, alles konsistent zu halten, darauf zu achten, dass sie in den Fotos schlank aussehen, und sich den Kopf zu zerbrechen, ob sie diese Band nun gut oder schlecht finden sollen. Manche erkennen, wie Facebook ihre Persönlichkeit reduziert auf eine Serie von »Gefällt mir«.
Sie berichten von der 14-jährigen Pattie, die ihr Handy abgestellt hat und es genießt, nicht erreichbar zu sein. Ein Einzelfall?
Nein, der Umgang ändert sich. Ein anderer Teilnehmer, der 25-jährige Hugh, sagt, dass er mehr braucht, als E-Mails und soziale Netzwerke liefern können. Er fühlt sich abgelehnt, wenn er mit einem Freund telefoniert und merkt, dass dieser gleichzeitig auf Facebook ist. Jugendliche, selbst Aficionados von SMS, reden über ihre Schwierigkeit, die ungeteilte Aufmerksamkeit von jemandem zu bekommen. Das wird zunehmen. Es gibt ein paar, die führen wieder ein altmodisches Tagebuch und schicken einander Briefe, um sich ihre Wertschätzung zu zeigen.
Und die Erwachsenen?
Die Leute, mit denen ich spreche, ob persönlich oder geschäftlich, sind nicht glücklich. Sie spüren, dass sie zu viel kommunizieren, um noch nachdenken, kreativ sein zu können. Ja, zu viel, um noch in Kontakt treten zu können mit den Leuten, die ihnen am wichtigsten sind.
Wie ist das bei Ihnen selber?
Ich kriege fünfhundert Mails pro Tag. Vor dem Zubettgehen erledige ich sie. Wenn ich aufwache, sind wieder dreihundert da. Viele haben einen legitimen Anspruch an mich. Es ist ja schön, auch Zeichen meines Erfolgs.
Was raten Sie uns, als Fazit Ihrer Untersuchungen?
Darüber zu reden, wohin dies alles führt. Wir ängstigen uns wie junge Liebende, dass zu viel reden die Romantik verdirbt. Wir denken, das Internet sei erwachsen, bloß weil wir damit aufgewachsen sind. Aber es ist nicht erwachsen, es ist erst in seinen Anfängen. Wir haben eine Menge Zeit, uns zu überlegen, wie wir es nutzen, modifizieren und ausbauen.
Was könnten die ersten Schritte sein?
Die Erkenntnis, dass allein sein zu können eine gute Sache ist. Den Kindern zeigen, dass es ein Wert ist. Zu Hause geschützte Räume schaffen, die Küche, das Esszimmer, die für das Gespräch reserviert sind. Nach dem Abendessen eine Weile zusammenbleiben und reden und dafür sorgen, dass nicht jeder mit seinem Smartphone in sein Zimmer verschwindet.
Wie machen Sie es mit Ihren Studenten?
Jeder Professor steht heute im Hörsaal Studenten gegenüber, die mailen, in Wikipedia stöbern, den Professor googeln, sich googeln, ihren Wohnnachbarn googeln. Ich beginne meinen Unterricht damit, dass ich sage: Hier geht es nicht um noch mehr Information, sondern darum, zusammen zu denken, und dazu brauche ich eure ungeteilte Aufmerksamkeit. Ich möchte, dass Sie mich unterbrechen, dass Sie mit Ideen kommen und nicht mit irgendeinem Schnipsel, den Sie gerade aus dem Netz gefischt haben. Also: keine Laptops, keine iPads, keine Smartphones. Wenn Sie etwas notieren wollen, dann auf einem Stück Papier.
Und sie schlucken das?
Sie sagen: Dann werden wir eben kritzeln und Männchen malen.
Und Sie?
Ich habe nichts dagegen. Wer kritzelt, kann zuhören – ja ich glaube sogar, das Gekritzel spiegelt irgendwie, was man aufnimmt.
Sherry Turkle: Die Cyber-Diva
Die amerikanische Wissenschaftlerin hat die Auswirkungen der Digitalkultur schon untersucht, als die meisten Menschen noch mit der Schreibmaschine getippt haben: Ihr Buch Die Wunschmaschine: Vom Entstehen der Computerkultur erschien 1984. Turkle hat in Harvard studiert, ist Professorin am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und war auf dem Cover des Magazins Wired abgebildet. In ihrem aktuellen Buch Alone Together (auf Deutsch: Verloren unter 100 Freunden) hat sie untersucht, wie Smartphones und Online-Netzwerke das Zusammenleben verändern. Im Gespräch versprüht die Soziologin Geist und Witz, denkt manchmal lange nach, ehe sie antwortet, lässt bisweilen ein paar Worte in akzentfreiem Französisch fallen – und wenn sie etwas erzürnt, haucht sie: »What the fuck …«
Foto: Linus Bill