Werner Jung (links) und Stefan Meier
SZ-Magazin: Herr Jung, Herr Meier, Sie haben beide neue Herzen. Wie haben Sie Ihre alten verloren?
Werner Jung: Ich erfuhr vor 15 Jahren, dass ich mir in Südamerika offenbar einen unbekannten Virus eingefangen habe, der den Herzmuskel immer mehr schwächt. Die Ärzte haben sehr schnell gesagt: Herr Jung, Sie werden irgendwann ein neues Herz brauchen, lassen Sie sich eher heute als morgen auf die Warteliste setzen. Aber ich habe mich sechs Jahre lang geweigert.
Stefan Meier: Das verstehe ich nicht. Warum?
Jung: Ich wollte mein Herz nicht hergeben. Es hat geliebt, gelebt, gelitten – davon sollte ich mich verabschieden? Von wem kommt das neue Herz? Kann ich es überhaupt annehmen? Das ist doch ein Fremdkörper!
Aber dann haben Sie sich doch für eine Transplantation entschieden.
Jung: Vor drei Jahren lag ich im Krankenhaus und mir ging es sehr schlecht. Ich hatte 96 Herzstillstände in drei Wochen! 96 Mal durchknallte mich ein Elektroschlag des Defibrillators, den die Ärzte mir eingebaut hatten. Das heißt: Ohne diese unerträglichen Stromschläge, die den Körper wie Blitze durchzucken, wäre ich 96 Mal gestorben. Und da wusste ich: Entweder ich lasse mich operieren – oder ich sterbe, und zwar vermutlich sehr bald. Will ich jetzt sterben? Nein, ich wollte es nicht. Ich habe dann allerdings noch ein Jahr auf mein Spenderherz warten müssen.
Wie war das bei Ihnen, Herr Meier?
Meier: Bei mir ging alles ganz schnell: verschleppte Grippe, Herzmuskelentzündung, Herzversagen. Wenn nicht so schnell transplantiert worden wäre – innerhalb von drei Wochen –, dann wäre ich heute tot.
Vor dieser Krise hatten Sie keine Herzprobleme?
Meier: Nicht direkt. Ich habe mir allerdings bald nach der Transplantation die Frage gestellt: Warum ich? Warum brauche gerade ich ein neues Herz? Was habe ich getan? Heute denke ich: Mein altes Herz ist krank geworden über die Jahre, vielleicht wurde es zu oft gebrochen, von Frauen, die mich verlassen haben, und ich habe zu wenig auf mein Herz gehört. Ich habe Schindluder getrieben.
Jung: So siehst du das?
Meier: Herzpatienten sind oft Menschen, die immer auf der Überholspur sind, immer Gas geben, voll im Leben stehen – meistens Männer übrigens. Genauso bin ich auch. Ich habe immer voll Power gegeben, mit Fieber gearbeitet, ist doch kein Problem, schmeiße ich ein paar Medikamente ein, dann bin ich wieder fit. Ich fühlte mich jung und stark.
Jung: Stimmt schon, ich habe auch niemals Rücksicht auf mich genommen, nur die Arbeit gesehen. Ich habe in Brasilien und Mexiko als Ingenieur je ein Werk aufgebaut, da kam ich mit drei, vier Stunden Schlaf aus. Warnsignale, Müdigkeit, Schlappheit – das habe ich alles ignoriert. Aber irgendwann holt sich der Körper sein Recht.
Nun schlagen Herzen in Ihren Körpern, die einmal ganz anderen Menschen gehört haben.
Meier: Es ist ein schönes Gefühl, dieses Herz einer jungen Frau zu spüren, dieses gleichmäßige Klopfen.
Jung: Stefan, du sagt, du hast ein Frauenherz. Vermutest du das oder weißt du es genau?
Meier: Das weiß ich. Mein Herz stammt von einer 21-jährigen Frau.
Jung: Tatsächlich, du kennst sogar das Alter. Ich weiß weder das eine noch das andere.
Meier: Die Spender müssen ja in Deutschland anonym bleiben. Aber mir hat ein Arzt durch die Blume gesagt, woher mein Herz kommt.
Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie sich Eigenschaften der Spender auf die Empfänger des Organs übertragen haben.
Mediziner berichten vom Phänomen des »Zell-Gedächtnisses«: Durch die Transplantation würden Eigenschaften des Spenders auf den Empfänger des Organs übertragen. Herr Jung, Herr Meier: Wie sehr hat das fremde Herz Ihren Charakter verändert?
Meier: Ich habe jetzt einen Schuhtick!
Jung: Nicht dein Ernst!
Meier: Doch. Vorher besaß ich drei Paar, jetzt stehen 15 Paar bei mir im Schrank. Vor allem Turnschuhe, in allen Farben. Meine Freunde ziehen mich ständig damit auf.
Haben Sie ebenfalls Veränderungen an sich beobachtet, Herr Jung?
Jung: Ja, ich habe jetzt näher am Wasser gebaut, ich fühle mehr. Ich lebe aber auch viel bewusster. Ich nehme die Natur besser wahr, ich erlebe und schätze alles neu.
Meier: Ich fange ebenfalls sehr viel schneller zu weinen an als früher. Wenn ich mit meiner Freundin einen sentimentalen Film anschaue, reichen wir uns gegenseitig die Taschentücher. Sie findet das schön: endlich mal ein Mann, der auch dahinfließt. Und dann ist da manchmal diese Traurigkeit. Noch heute, fast drei Jahre nach der Operation, überfällt mich von Zeit zu Zeit eine ungeheuer tiefe Traurigkeit, dass es mich fast entsetzt. Ich kann es nicht verstehen. Ich bin aber nicht nur empfindlicher, sondern auch ungerechter, ungehaltener geworden. Gegenüber meiner Familie, meiner Freundin. Mein Leben wird vermutlich kürzer sein, Herztransplantierte leben ja im Durchschnitt nur 15 Jahre nach dem Eingriff weiter. Deshalb sage ich oft: Erst komme ich, dann ihr.
Jung: Die meisten, die ich kenne, sind nach einer Transplantation ungehaltener geworden. Auch ich gerate schneller als früher in Rage, wenn ich mit meiner Frau diskutiere. Und mein Essverhalten hat sich verändert. Vorher mochte ich deutsche Hausmannskost, Wurst, Fleisch − darauf habe ich überhaupt keinen Appetit mehr. Ich denke aber, das alles hängt mit den Medikamenten zusammen.
Damit der Organismus das neue Herz nicht als Fremdkörper abstößt, müssen Sie beide Ihr Leben lang Medikamente nehmen, die das Immunsystem beeinflussen.
Jung: Morgens und abends jeweils elf Tabletten. Ich nenne sie meine Smarties.
Herr Meier, denken Sie auch, dass es an den Medikamenten liegt, wenn Sie nun trauriger, ungehaltener, empfindlicher sind?
Meier: Zum Teil bestimmt, aber es ist doch auch so: Was wir erlebt haben, Werner, ist traumatisch. Einmal gab es bei einer älteren Mitpatientin einen Notfall, sie musste mitten in der Nacht am Herzen operiert werden – in unserem Zimmer, weil gerade kein OP frei war. Sie haben nur notdürftig einen Vorhang zugezogen. Ich höre alles, ein Arzt kommt heraus, voller Blut, und sagt lakonisch: »Entschuldigung, dass wir so laut sind.« Mein Vater ist noch mit 17 in den Krieg eingezogen worden, und eine meiner Kindheitserinnerungen ist, wie er nachts schreit, weil er vom Krieg träumt. Diese Operation direkt neben mir, dieses Blut überall, das ständige Geräusch der Beatmungsmaschine − das ist für mich wie ein Kriegserlebnis.
Jung: Das Warten auf ein Herz ist auch sehr belastend. Wird ein Spenderherz für mich gefunden? Und wann? Da es zu wenige Spender gibt, ist es ein Wettlauf mit dem Tod. In Deutschland sterben jeden Tag drei Menschen, die auf ein Organ warten. Während meines Krankenhausaufenthalts hat ein Mitpatient, der wie ich auf der Warteliste stand, es nicht mehr geschafft. Ich schaue zum Nachbarbett, sage: »Hans, was ist mit dir?« Und höre nur noch ein Röcheln.
Meier: Werner, du bist Rentner, hast ein gesichertes Leben. Aber ich frage mich oft: Wie geht es bei mir weiter? Finde ich Arbeit? Ich bestehe ja keinen Gesundheitscheck. Ich lebe gern, ich habe noch viel vor, möchte eine Familie gründen. Aber manchmal empfinde ich mein neues Leben als so hart, ja – dass kurz der Gedanke kommt: Vielleicht wäre es einfacher gewesen, wenn ich gestorben wäre. Das möchte man nicht hören, ich weiß, nicht von einem Transplantierten, der hat dankbar zu sein. Häufig kommt es mir so vor, dass die Öffentlichkeit von uns erwartet, uns ständig schuldig zu fühlen, denn es ist ja ein Mensch für uns gestorben. Aber das ist nicht wahr, er wäre ja auch so gestorben. Und manchmal denke ich auch, dass wir für einige Ärzte Trophäen sind. Der Beweis ihrer Machbarkeitsfantasien. Die Seele interessiert sie nicht.
Lesen Sie auf der nächsten Seite: Wie halten die beiden Organempfänger das Dilemma aus, dass jemand sterben musste, damit sie weiterleben können.
In Deutschland werden pro Jahr rund 400 Herzen verpflanzt – so gesehen ist es ein medizinischer Routineeingriff.
Meier: Ich klage hier nicht die hervorragende Leistung der Chirurgen an. Aber ein Chirurg ist nun mal kein Psychologe. Ein Arzt hat einmal zu mir gesagt: »Stefan, ich bin doch nur ein besserer Kfz-Mechaniker. Wir bauen dir einen neuen Motor ein, kurze Starthilfe, dann läuft alles.« Wenn sie bei den Nachuntersuchungen fragen, wie es einem geht, wollen sie nicht wissen, wie man sich fühlt. Sondern ob das Herz funktioniert. Alles klar, sage ich dann, schlägt im Takt. Dennoch habe ich ein halbes Jahr nach meiner Operation psychologische Hilfe gebraucht. Mein Vater ist gestorben, ich bin mit meinen ganzen Ängsten, meinen Gefühlen nicht mehr allein klargekommen. Ich glaube inzwischen, jeder Transplantierte bräuchte psychologische Betreuung.
Jung: Ich hatte keine. Was nicht bedeutet, dass ich nicht vielleicht noch eine in Anspruch nehmen werde. Ich denke aber, ich habe mich schon während meiner langen Leidenszeit mit vielen Fragen auseinandergesetzt, die dem Stefan erst nach der Operation gekommen sind.
Damit Sie weiterleben können, musste jemand sterben. Wie halten Sie dieses Dilemma aus, Herr Jung?
Jung: Ich erzähle Ihnen dazu eine Geschichte. Ich lag schon seit Monaten im Krankenhaus, guckte raus, blauer Himmel, weiße Wolken. Morgens in den Frühnachrichten hatten sie gemeldet, dass in der Nähe ein Motorradfahrer schwer verunglückt sei. Und plötzlich höre ich draußen die Rotoren eines Hubschraubers, und mich durchfährt ein Gedanke: Vielleicht ist das der Motorradfahrer, vielleicht ist das mein Herz! Und im gleichen Moment erschrecke ich: Was denkst du da! Ich habe mich so geschämt, ich habe bitterlich geheult und zu Gott gebetet: Lieber Gott, lass diesen Menschen weiterleben. Ich war am Ende. Wieso habe ich diesen schlimmen Gedanken gehabt? Ich frage mich das heute noch.
Meier: Was ist daran so schlimm? Man will überleben!
Jung: Ich habe mir den Tod eines Menschen gewünscht! Eines jungen Mannes, 21 Jahre, der noch alles in seinem Leben vorhat!
Meier: Aber wenn er stirbt, dann ist das doch nicht deine Schuld. Es sind Zufälle, die bei dem einen das Leben beenden und einen anderen weiterleben lassen. Werner, wirklich, ich finde das keinen schlimmen Gedanken.
Sie kennen solche Schuldgefühle nicht, Herr Meier?
Meier: An dem Tag, an dem ich mein neues Herz bekommen habe, ist eine junge Frau gestorben, das weiß ich. Meine Familie hat sich gefreut, eine andere getrauert. Ich bin unendlich dankbar, dass ich durch die Organspende überlebt habe, fühle mich aber nicht schuldig und habe mir auch erst viele Wochen nach der Operation Gedanken über die Spenderin gemacht. Man kann ja von der Deutschen Stiftung für Organspende einen Dankesbrief an die Hinterbliebenen weiterleiten lassen. Soll ich das tun? Wollen die das überhaupt? Habe ich das Recht, sie in ihrer Trauer zu stören? Ich war hin- und hergerissen, habe etwas aufgeschrieben, aber nie weggeschickt. Ich weiß aber, dass die Angehörigen der Spenderin die Organe aus Nächstenliebe freigegeben haben.
Jung: Ich denke jeden Tag an meinen Spender. Er ist mein Held. Er hat mir eine Kraft gegeben, von der ich beinahe vergessen hatte, sie je besessen zu haben. Ich rede manchmal mit ihm und empfinde eine tiefe Verbundenheit. Was mir manchmal zu schaffen macht: die Vorstellung, dass mein Herz von einer jungen Frau oder einem jungen Mann stammt, die Kinder hinterlassen haben. Aber ich lasse diese Gedanken nicht zu weit gehen, sonst kommt man in ein Tief hinein und dort nicht mehr heraus.
Haben Sie Ihr Herz nach der Operation eigentlich noch einmal gesehen? Sich verabschiedet?
Jung: Ich habe es der Wissenschaft zur Verfügung gestellt, weil ich ja eine unbekannte Krankheit hatte. Ich weiß, wo es sich befindet, und werde es wahrscheinlich sogar einmal in die Hand nehmen können.
Meier: Ich habe meine Operation filmen lassen, ich wollte sehen: Was kommt da raus und was hinein? Mein Herz war ein riesiger Fleischberg, wegen der Entzündung, groß wie eine Honigmelone, und da kam ein gesundes, kleines, kompaktes Herz hinein. Irre! Es dauerte einige Zeit, bis sich der Hohlraum in der Brust zurückgebildet hat. Am Anfang, wenn ich mich auf die Seite legte, rutschte das kleine Herz im Hohlraum mit.
Jung: Das war bei mir genauso. Sehr unangenehm. Ich konnte das erste halbe Jahr lang nur auf der rechten Seite liegen. Aber jetzt ist alles in Ordnung. Mein Körper hat das Herz angenommen und hält es fest umschlossen.
Stefan Meier, 38, erkrankte vor viereinhalb Jahren an einer Grippe, die sich zur Herzmuskelentzündung ausweitete. Nach einem Zusammenbruch im Frühjahr 2005 konnte ihm nur noch eine schnelle Transplantation das Leben retten – innerhalb von drei Wochen bekam er ein neues Herz. Er arbeitet als selbstständiger Handelsvertreter für Raucherkabinen und lebt mit seiner Freundin in Kiel.
Werner Jung, 64, Ingenieur, hat sich in den Siebzigerjahren in Südamerika vermutlich mit einem Virus infiziert, der seinen Herzmuskel nachhaltig schwächte. 2006, nach 15-jähriger Leidenszeit, bekam er schließlich ein neues Herz. Er ist verheiratet, hat drei erwachsene Kinder und lebt in der Nähe von Heidelberg. Stefan Meier traf er erstmals auf einem Symposium zum Thema Herzverpflanzung in Berlin.