Was mich am meisten beunruhigt, ist, wie wenig ich davon mitbekam. Zum einen Teil liegt das an meiner Großmutter. Sie hat alles verschwiegen. Zum anderen Teil liegt es an mir, dem Hunderte Kilometer entfernten Gelegenheitsenkel. Vielleicht muss ich mir keine Vorwürfe machen. Auch meine Brüder, die viel näher bei Oma wohnen, hatten geschwiegen, nie etwas von ihrem Verdacht erzählt. Sie wussten wohl einfach nicht, was man dazu sagen könnte.
Eigentlich war meine Oma Hilde immer ziemlich vital. Eine einfache, stämmige Frau vom Lande, mit kurzen grauen Haaren und einer heimlichen, aber bekannten Vorliebe für Süßes. Sie rauchte nicht, trank nicht. Drogensüchtige? Für Oma waren das komische Spritzgiftler aus dem Fernsehen.
Im Frühjahr 2011 merkte ich, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Zusammengesunken saß meine Großmutter auf der Couch im Wohnzimmer, die Gardinen schufen ein mürbes Halblicht, es war überheizt, roch süßlich, der Fernseher lief. Draußen war es sonnig, ich schob die Gardinen zur Seite:
»Omi, es ist so schönes Wetter, soll ich dir nicht einen Stuhl auf den Balkon stellen?«
»Nein«, murmelte sie, »ich mag nicht raus.«
Damals vermutete ich, dass sie einfach abbaut, sie war ja fast achtzig. Heute verstehe ich: Unsere Familie war nur eine von Millionen Familien, die glauben, die Großeltern seien einfach senil.
Die glauben, dass Opas und Omas Tabletten die Lösung seien und nicht das Problem. Dann kam der 8. Mai 2011, Muttertag. Wir treffen uns wie jedes Jahr im Garten meiner Eltern zu Kaffee und Kuchen.Auf der Terrasse sitzt Oma und starrt ins Leere. »Großmutter, schau mal, Blumen für dich.« Keine Reaktion. Mein Stiefvater packt den Strauß in eine Vase auf den weiß gedeckten Tisch. Eigentlich liebt meine Großmutter Blumen. Einmal habe ich ihr Orchideen im Topf geschenkt, seitdem zeigte sie mir oft, wie diese immer wieder aufblühten. Sie ist auf einem Bauernhof aufgewachsen, früher ging sie täglich mit ihrer Schürze in das Gärtchen ihres Reihenhauses, jätete und zupfte hier und da. Bis es ihr der Arzt verbot wegen der morschen Knochen, der Osteoporose. Großmutter ist vergesslicher, stiller, blasser, ungeschickter. Sie, die immer Wert auf Ordnung legte, wirkt nun etwas ungepflegt.
An diesen Muttertag erinnern wir uns alle, die ganze Familie, obwohl gar nichts ausgesprochen wurde. Niemand wagte, ihren Zustand anzusprechen. Und Oma Hilde verriet mit keinem Wort, dass sie es sich an diesem Morgen eingestanden hatte. Sie war süchtig. Großmutter will keinen Tee trinken, nicht spazieren gehen, sie starrt nur vor sich hin. Mit traurigem Blick beobachtet meine Mutter, wie langsam sie reagiert. »Ich will keine Blumen«, wispert Großmutter. »Ich kann sie doch nicht pflegen.«
Ich glaube mich in diesem Moment gefragt zu haben, ob sie meine Orchideen noch hat. Dann musste ich los. Viel zu tun. Kurz danach fuhr mein Onkel meine Großmutter heim. Um Punkt vier muss sie ja immer ihre Medikamente nehmen.
»Ich hab niemand mehr sehen wollen«, erzählt sie mir später über diesen Tag. »Ich hab nicht mehr schwätzen wollen, mich nicht bewegen wollen. Ich bin im Garten gehockt und war ganz stur. Ich wollte nur die Tabletten.«
Großmutter hatte schon morgens Schmerztabletten genommen. Sie hatte sich nicht gut gefühlt, hatte gewusst, die Pillen würden nicht mehr gegen Angst und Schmerzen helfen, würden sie nur wieder blöde machen. Dennoch hatte sie wieder zugegriffen.
Am Muttertagsabend jagen sie Furcht und Schmerzen. Wieder einmal. Immer wieder. Endlos. Sie sieht keinen Ausweg mehr. Weinend rennt sie durch die Wohnung, doch alles fühlt sich so fremd an: die Menschen, ihr eigener Körper, ihre unkontrollierbare Angst. Es treibt sie, sie ist überzeugt, sterben zu müssen, sie schleppt sich zum Balkon, sie will springen.
Nein. Nein. Meine Großmutter hält sich am Geländer fest, blickt hinunter auf das Gärtchen mit dem Apfelbaum. Der Tod macht ihr genauso Angst wie dieses Leben. Es gibt keine Lösung, denn ohne die Tabletten sind auch überall Panik und Schmerzen. Niemand könne ihr helfen, auch nicht sie selber, das schien sicher. An diesem Muttertag verlor sie die Hoffnung, dass es mit ihr jemals wieder bergauf gehen könne. Sie gab sich auf.
»Ich glaube, deine Oma hat ein Suchtproblem.«
»Ich bin am Boden zerstört gewesen durch die Tabletten.« Als sie mir das erzählt, und sie sagt, ich sei der Erste, dem sie alles sage, hab ich ihre Hand gestreichelt, weil ich das alles nicht erwartet hatte. Du wolltest dich umbringen? Wieso hast du uns das nicht gesagt? Oder dem Doktor? Sie hat den Kopf geschüttelt und ihre Augenlider haben sich traurig zusammengezogen, sie musste schlucken. »Das sagt man nicht. Das sagst du niemandem.«
Ich hatte weder mitbekommen, wann Großmutters Problem begann, noch wie es sich verschlimmerte. Tablettenschachteln, diese langen Plastikschieber, kannte ich ja. Ganz normal. Sogar lustig. Wochentage drauf. Rasselt.
In den ein, zwei Jahren vor jenem Muttertag bekam ich manchmal Mails von meiner Mutter. Oma hat sich wieder verletzt, sich ungeschickt bewegt und einen Bruch gehoben. Gegen die Schmerzen gab es Tabletten. Weil meine Mutter Naturwissenschaftlerin ist und überall Kausalketten sieht, war sie die Erste der Familie, der ein Zusammenhang zwischen den Tabletten und Großmutters Problemen aufgefallen war. Mein Telefon klingelt kurz nach dem Muttertag, und meine Mutter, die meist sachlich ist, klingt besorgt.
»Oma geht es schlecht.«
Was ist los?
»Sie ist so abwesend.«
Was hat sie?
»Ich glaube, deine Oma hat ein Suchtproblem.«
Wie bitte?
»Und ich glaube, das Problem haben viele alte Leute.«
Meine Mutter ahnte nicht, wie recht sie hatte. Etwa fünf bis zehn Prozent der gut 20 Millionen Senioren in Deutschland leiden an einer Demenz, schätzt Professor Siegfried Weyerer, der an der Uni Mannheim über die Häufigkeit psychischer Krankheiten forscht. Doch »wahrscheinlich gibt es mehr Tablettenabhängige als Demente«.
Auch Gerd Glaeske, Professor für Arzneimittelanwendung an der Universität Bremen und seit Jahren spezialisiert auf Sucht im Alter, sieht die Lage ähnlich: Tablettensucht sei nach Zigaretten inzwischen die zweithäufigste Suchterkrankung, liege nun knapp vor Alkohol in der Reihenfolge der Suchtkrankheiten. Und zwei Drittel der 1,4 bis 1,9 Millionen Medikamentensüchtigen seien Senioren. Bis zu 14 Prozent seien betroffen, je nach Altersklasse. Auch wenn es besonders schwierig einzuschätzen sei, wo diese Suchtform beginne, sagt Glaeske, »mindestens eine Million Menschen im Rentenalter sind tablettenabhängig in Deutschland.« Zusammen mit den gar nicht so wenigen alkoholabhängigen Senioren habe die Altersklasse über 65 wohl die höchste Suchtquote. Zum Vergleich: Nur 50 000 bis 150 000 Amphetaminabhängige und ebenso viele Kokainsüchtige gibt es in Deutschland.
Das große Suchtproblem der Alten wird immer größer. Erstens nimmt der Bevölkerungsanteil der Alten zu, 2030 werden 30 von knapp 80 Millionen über 60 Jahre alt sein, das sind 50 Prozent mehr als heute. Zweitens kommen die drogenaffinen Babyboomer in die Jahre: »Die Zahl der suchtkranken Senioren dürfte sich innerhalb der nächsten 25 bis 30 Jahre verdoppeln«, befürchtet der Arzt Dirk Wolter, der ein Buch über Sucht im Alter geschrieben hat.
Meine Großmutter hatte in den letzten Monaten immer häufiger angerufen bei Mutter, nachts, morgens, tagsüber, zu Hause, in der Arbeit. Und auch bei meinem Stiefvater. Oft heule sie, habe Angst. Man brauche Stunden, um Oma zu beruhigen, es sei sehr belastend, klagt meine Mutter.
Irgendwann habe sie genug gehabt und sei zu Großmutters Hausarzt gegangen und habe gefragt, was denn die vielen Schmerztabletten, Schlaftabletten und Beruhigungsmittel eigentlich gegen ihre echten gesundheitlichen Probleme brächten.
Der Arzt habe ganz ungerührt erklärt, die Oma sei schlaftablettensüchtig. Ja, die ganze Generation sei es. Meine Mutter forderte, Großmutter zu entwöhnen. Doch der Arzt hatte sie schon abgeschrieben. Sie sei ein hoffungsloser Fall. So sei das Alter. »Das hat der mir genau so ins Gesicht gesagt!«Der Arzt sei eine Katastrophe, verschreibe seit Jahrzehnten einfach Tabletten gegen Symptome, statt zu heilen, das Rezept legten die Helferinnen nach Anruf auf dem Empfangstisch parat.
Bei meiner Großmutter schlichen sich die Tabletten beinahe unbemerkt irgendwann in ihrer zweiten Lebenshälfte ein. Es war die Zeit, als man Probleme wegmedikamentierte. Pillen als technische Lösung für eine Kriegsgeneration, die funk-
tionieren wollte und so manches einfach herunterschluckte.
Abends halfen ihr die Schlaftabletten pünktlich ins Bett. Ein echtes Wundermittel, »Dal-ma-dorm«, sagt sie ganz sanft. Hatte sie Schmerzen oder Angst, gab es Lexotanil. In einem sogenannten Schmerzzentrum spritzte man ihr hin und wieder Diazepam. Ihre Ängste verschwanden, die Muskeln entspannten sich, eine angenehme Müdigkeit stellte sich ein.
Omas Einstiegsdrogen waren allesamt Benzodiazepine, der Wirkstoff hinter Valium. Mother’s Little Helpers, so nannten die Rolling Stones diese Wundermittel in einem Lied aus dem Jahr 1966. Kurzfristig dämpfen die Helpers. Nebenbei machen sie körperlich unsicher, kurzatmig, schränken die Reaktionszeit ein. Benzodiazepin-Dauerkonsumenten zeigen Symptome, die wie Demenz erscheinen. Sie werden depressiv, teilnahmslos, apathisch. Wie oft hatte ich schon über die Stürze der Alten, ihre komplizierten Brüche, die Autounfälle der Senioren diskutiert? Stets vermuten alle Demenz. Doch im Blut von fast jedem vierten verkehrsauffällig gewordenen Fahrer fanden Forscher der Universität Frankfurt bei einer Stichprobe Benzodiazepine.
Länger als vier Wochen sollte man den Stoff nicht einnehmen. Nach etwa vier Monaten ist man im Regelfall süchtig. Großmutter bekam die Medikamente über drei Jahrzehnte. Als ich sie für dement hielt, hatte ich einfach die Symptome ihrer Krankheit nicht mit der Ursache verknüpft.
Die typische Tablettenabhängige kommt aus der breiten Mitte
Ein Benzodiazepin-Entzug soll ein dunkles Spiegelbild dessen sein, wogegen die Mittel verschrieben werden. Schlaflosigkeit, Albträume, Panikattacken, Krämpfe, sogar Halluzinationen. Der Ausstieg ist schwer. Meine Oma blieb dabei, auch aus Angst vor dem Entzug. Manche Experten, wie die Frankfurter Suchtforscherin Irmgard Vogt, erklären mir, der große Unterschied zum Junkie sei, dass meine Großmutter ja wisse, was sie vom Arzt bekomme, dass sie die Wirkungen der Medikamente kenne. Doch wie so viele Senioren nimmt meine Großmutter ein gutes Dutzend Medikamente. Niemand kennt die Wechselwirkungen.
Die Hauptdroge der süchtigen Alten – Benzodiazepin – ist ein globales Problem, wie Studien aus Finnland, der Schweiz, den USA zeigen. Trotzdem wird weiter konsumiert. Vielleicht weil der Stoff kurzfristig so wirksam ist, so günstig zudem, sagt Raphael Gaßmann, Geschäftsführer der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen. Forschung zu den Langzeitfolgen von Benzo-diazepin ist Mangelware. Wer hat schon Interesse, das zu finanzieren? Wegen der Unterdrückung von Informationen zu den Langzeitwirkungen des Benzodiazepinkonsums verklagten Anfang der 1990er in England 14 000 Patienten eine Reihe von Pharmaunternehmen. Es war die größte Sammelklage der englischen Geschichte. Die Klage implodierte, zu komplex waren die Verflechtungen zwischen Patienten, Ärzten, Industrie, Forschung und Behörden. Im Anschluss aber wurden Sammelklagen in England rechtlich erschwert.
Dass man wenig von der Abhängigkeit der Millionen hört, hat einfache Gründe: Die typische Tablettenabhängige kommt aus der breiten Mitte, ist integriert, rutscht in der zweiten Lebenshälfte über ein paar Schlaftabletten in die Sucht – und bemerkt es lange nicht.
Weil sich meine Großmutter beim Laufen zunehmend unsicher fühlt, fährt mein Onkel sie immer öfter zum Arzt. Er sieht, wie sie dort immer »ihren kleinen Kollaps« bekommt; wie sie weint, klagt. Der Arzt kommt ihr entgegen. »Ein netter Doktor. Er hat mir immer alles gegeben, was ich gewollt hab«, erinnert sie sich an den Mann, der wohl die Hauptverantwortung für ihren Absturz trägt.
Es scheint, als hätten viele Hausärzte mit ihren fordernden Patienten einen stillen Pakt geschlossen. Die Absatzmengen der Benzodiazepine nehmen seit Jahren trotz bekannter Nebenwirkungen kaum ab.
Kurz vor dem Kollaps begann Großmutter Dämonen zu jagen. Eines Nachts poltert es in ihrer Wohnung und mein Onkel ertappt sie im Schlafrock herumtorkelnd, bewaffnet mit dem Besen, im verzweifelten Kampf gegen ein Monster. Sie meint den Marder, der seit Jahren gelegentlich im Dachstuhl rappelt.
Verzweifelt ruft mein Onkel tags drauf das psychiatrische Krankenhaus in seiner Kreisstadt an. Dort heißt es, Großmutter solle es doch mit einer Psychotherapie versuchen. Solange sie noch allein zurechtkomme, gebe es keinen Platz. Doch wo bitte gibt es einen Therapeuten, der auf Suchtprobleme alter Leute spezialisiert ist und Hausbesuche macht, fragt sich mein Onkel. Verlegen erkundigt er sich bei Freunden. Einige Familien haben die gleichen Probleme. Niemand hat Lösungen. Keiner will offen drüber reden.
Nur wenige Wochen später hört mein Onkel nachts einen dumpfen Schlag. Wieder rennt er in die Wohnung meiner Großmutter, findet sie halb bewusstlos auf dem Boden des Badezimmers. Er ist sich sicher, es geht zu Ende.
Eine Notoperation wird anberaumt. Großmutter hat einen Wirbelbruch, schon länger wohl, niemand hat das erkannt. Doch die Ärzte im Kreiskrankenhaus schieben die Operation auf und lassen sie ausnüchtern, wie die Spritzgiftler aus dem Fernsehen. Zu groß ist wohl die Sorge der Mediziner vor den Wechselwirkungen der Schmerzmittel und Tranquilizer mit den Narkosemitteln. Bei manchen der Tablettensüchtigen schlagen die Anästhetika kaum an, bei anderen wirken sie zu lange, manchmal rufen sie paradoxerweise Angst und Panik hervor. Es ist unkalkulierbar.
Ein paar Tage liegt meine Oma im Krankenhaus. Sie fühlt sich beschützt. Sie beschließt, nie wieder in ihren Albtraum zurückzukehren, sondern in ein Altersheim zu ziehen, ich sah das als vorletzten Schritt ins Grab.
Stattdessen wagte Großmutter den Entzug – im Altersheim, in der behüteten Umgebung mit dem Notknopf über dem Bett. Wochenlang zog sie sich nach jedem Essen in ihr Bett zurück, versuchte die Hitzewallungen zu ignorieren, diesen unstillbaren Durst. Natürlich erzählte sie niemandem von ihrem Kampf, auch nicht ihrem neuen Arzt. Der aber kürzte stillschweigend ihre Dosis. Ganz runtergekommen ist Großmutter nicht, aber sie glaubt es. Als ich sie besuche, steht die Tür zu ihrer Veranda offen. Die Gardinen sind aufgezogen. Die Sonne scheint auf ihren kleinen Indoor-Blumengarten. In der Mitte blüht die lila Orchidee, die ich ihr geschenkt habe.
Sie trägt ihre Lieblingskette mit dem hellblauen Kristall zu einem weinroten Rolli. Nach Rommé und Chorsingen hat sie das Malen nach Zahlen angefangen. Ihr neuestes Gemälde zeigt eine kleine Küstenstadt, Balkons mit Blumen in der Abendsonne.
Illustrationen: Alessandro Gottardo