Schweigen auf Eis

Eiswürfel können viel mehr als nur ein Getränk kühlen. Ihr Klirren füllt unangenehme Stille – und ihre Kälte kann manchmal sogar die Stimmung aufheizen. 

Foto: Erli Grünzweil

Der Weißwein verträgt welche, ganz klar. Der Sommer drum herum ist viel zu heiß. Also Eiswürfel. Das ist ja ihr ganzer Sinn und Zweck. Oder?

Nein, und jedes Liebespaar weiß das. Manchmal vertragen auch Paare ein paar Eiswürfel. Sie sind das perfekte Utensil für Abende zu zweit. Für Abende der Stille, der Uneinigkeit, der schweren Entscheidungen, sie helfen innezuhalten, sie können Missmut wegklimpern und Melancholie umwandeln, sie können abrunden, aufwerten, abkühlen. Und an besonders schönen Abenden können sie auch aufheizen.

Eiswürfel machen aus einem Getränk eine Aktivität, sie fügen dem geräuschlosen Trinken einen Ton hinzu, dieses Klackern, dieses kristallene Scheppern, dieses rotierende Klirren. Jackie Thomae schreibt in ­ihrem Roman Brüder von dem besonderen Trinken. Ihr Protagonist erinnert sich an das Kindheitserlebnis Cola mit Eiswürfeln und daran, wie das Dran-vorbei-Trinken an den kalten Brocken zu einem Spiel wurde. Wie Jump and Run im Glas.

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Wer Durst hat, der bestellt eine Schorle. Wer etwas mit Eiswürfeln wählt, der erhebt das pure Trinken zum Erlebnis. Eis­würfel sagen auch: »Ich habe jetzt Zeit für dich, ich muss nicht gleich weiter.« Ein Getränk mit Eiswürfeln ist ein ­All-in für den Abend.

Wer Eiswürfel im Glas hat, der sitzt nicht wortlos beieinander, der schweigt – und genießt

Es gibt Tage, da sind sie eine Entlastung. Da kühlen sie nicht nur das Getränk, sondern auch die Sorge herunter, man müsse die ­Stille ganz allein durchbrechen. Wenn es ruhig bleibt, versichern sie, dass hier nur deshalb niemand was sagt, weil man dem wohligen Klirren nachsinnt, und nicht, weil man sich nichts mehr zu sagen hätte. Wer Eiswürfel im Glas hat, der sitzt nicht wortlos beieinander, der schweigt – und genießt.

Manchmal sind sie Spannungsabfuhr. Eis­würfel kreisen lassen, wenn es gerade sinnlos ist, etwas zu erwidern. Weil die Antwort jetzt eh nicht gehört wird. Weil man wieder an diesem Punkt steht, an dem sich die Wünsche trennen. An dem es nichts mehr zu besprechen gibt. An dem es für das gemeinsame Problem keine gemeinsame Lösung gibt. An dem Zusammensein heißt, es zusammen auszuhalten. An dem die einzige Verbesserung darin bestehen kann, es besser auszuhalten. Und ja, es gelingt mit Eiswürfeln. Keine weint, keiner trotzt, kein Gebrüll, kein Wortlos-ins-Bett-Verschwinden. Das Glas auf­nehmen, ein bisschen schwenken, ein bisschen klirren lassen, dazu Mond, Sterne und einvernehmliche Uneinigkeit mit Augenkontakt. Immerhin.

Und noch etwas können Eiswürfel: Sie verschaffen Zeit, sie ermöglichen Pausen. Ich musste einmal ein unangenehmes Gespräch führen, eines von der Sorte, die man aus Liebe für nicht anwesende Dritte führt. Ein Gespräch, das gar keine Klärung erreichen wollte und auch nicht konnte. Bestenfalls eine Simulation von Klärung. Ein »Wir können vermelden, wir haben noch mal darüber ge­sprochen«-Gespräch. Wir ­saßen uns gegenüber und das Erste, was ich auf der Karte suchte, war ein Getränk, das todsicher mit Eiswürfeln kommen würde.

Ihr Klirren füllt die Stille, die vergeht, während man überlegt, während man die Schärfe der Frage erst einmal verzischen lässt, zum Durchatmen. Wer ein Glas ohne Eiswürfel in den Händen rotieren lässt, wirkt nervös, er muss es nach dem Trinken wohl oder übel wieder abstellen. Aber wer Eiswürfel hat, kann sich festhalten.

Den allerschönsten Auftritt haben Eiswürfel natürlich in einem leeren Glas, am Ende eines gemeinsamen Abends. Wenn sie nun klirren und kreisen, wird klar, dass nicht alles beschwiegen werden kann und nicht alles besprochen werden muss. Manches sollte man einfach tun.