Wer offenen Gaumens durchs Leben schreitet, trifft auf so manche kulinarische Kuriosität. Für die durchschnittliche deutsche Zunge ist ja alles kurios, was mehr als zwei Geschmacksnoten hat. Würde man aber niemals so sagen, sondern mit einem nachdenklichen »interessant« kommentieren. Wenn es nicht nur »interessant« ist, auch mal mit der höchsten Ehrbezeichnung: »Kann man essen.«
Interessant ist besonders alles aus Asien. Hier teilt sich das Publikum. Die einen rühren unter dem Wort »asiatisch« alles unter, was seinen Ursprung irgendwo hinter Russland hat und mit Reis serviert wird. Gerichte werden prinzipiell per Nummer bestellt, und den kläglichen Versuch, einzelne Reisklümpchen mit den Stäbchen aufzulesen, bricht man mit dem Ausruf ab: »Da verhungert man doch!« Daneben gibt es den weitgereisten, kulturoffenen Gourmet, der die »asiatische« von der »chinesischen« Küche und die chinesische sogar grob in ihre Geschmacksinseln unterscheiden kann: Westen (scharf), Süden (süß), Norden (irgendwas mit Nudeln).
Mit so einem Mann war ich vor einiger Zeit verabredet. M. ist Bayer und Schnapsmacher, der eine Weile in China gelebt und dort ein Nationalgut entdeckt hat: Baijiu. Bedeutet erst mal nur »weißer Alkohol« und ist, wie der Name vermuten lässt, klarer Schnaps. So einfach können die Dinge sein. Und so ist auch der chinesische Baijiu-Trinker eher ein Mann (es sind meistens ältere Männer) einfachen Gemüts. An Sommertagen sitzt er im weißen Unterhemd breitbeinig auf einem Hocker und spielt mit drei identischen Unterhemd-Männern Mahjong. Ist es besonders heiß, wird das Unterhemd auch mal hochgezogen und das nackte Bäuchlein entblößt, um die Zirkulation der wohltuenden Brise optimal aufzunehmen.
Von Unterhemden-Männern abgesehen, interessieren sich so wenige junge Chinesen für Baijiu wie U60-Deutsche für Korn. Es ist aber ein historisches Getränk: Zu Bürgerkriegszeiten reinigten Mao Tse-tungs Truppen Wunden und Geist mit Baijiu. Später tischte man es bei Staatsbanketten auf. Richard Nixon soll mit von seiner China-Reise mitgebrachtem Baijiu fast einen Tisch im Weißen Haus abgefackelt haben. Obwohl Baijiu außerhalb der Volksrepublik kaum ein Schwein kennt, ist es der meistgetrunkene Schnaps der Welt. Gut, fast alles aus einem Land mit 1,4 Milliarden Leuten nimmt automatisch diesen Superlativ ein. 2018 wurde Baijiu laut International Wine and Spirit Record mehr getrunken als Wodka, Rum und Whiskey zusammen.
Ich trinke, und mein Bauch nörgelt auch
Deshalb möchte M. Baijiu im Westen vermarkten. »Hier, probier mal«, sagt er und schenkt mir einen Fingerhut ein. Während ich schnuppere, referiert M. über die besonderen Geschmacksnoten seines Baijiu: Anis, Ananas, rosa Pfeffer und – nachdem er meinen leicht würgenden Blick bemerkt hat – Pferdestall. Auf den ist er besonders stolz. Kommt von der Fermentierung! Er spricht so begeistert von dem Zeug, als würde er am liebsten chinesische Touristen auf dem Marienplatz mit einem Gläschen verführen, so wie die Dame von der Fleischtheke nörgelnde Blagen mit einer Scheibe Mortadella.
Ich trinke, und mein Bauch nörgelt auch. Der Bauch gilt als Zentrum des Qi, gerade möchte ich mein Qi nur in eine Kloschüssel kübeln. Ist es nicht eigenartig, dass ein Bayer chinesischen Schnaps verkauft? Ich war mal in einem Dim-Sum-Laden in Hamburg, der mit einer angeblich legendären Rezeptur warb, ausgetüftelt von einem »Onkel He«. Ich wurde gleich skeptisch, als die Dumplings kamen: Sie waren bunt. Später erfuhr ich, dass die Geschichte vom Onkel ausgedacht und der Besitzer dahinter ein Deutscher war, der – man ahnt es – »viel durch Asien gereist« ist. Schon kurios.
»Und, was meinste?«, fragt M. »Kann man trinken«, sage ich, bedanke mich für die »interessante« Erfahrung und wanke durch den Laden, auf der Suche nach einer Toilette und meinem Qi.