Es lohnt sich immer, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen, um zu sehen, wie genau was entstanden ist und wie wir eigentlich hierher gekommen sind, damit wir uns dann, mit einem besseren Verständnis der aktuellen Lage, in die Zukunft entwerfen können. Eine zutiefst menschliche Kulturfähigkeit, auf die es gerade in Krisenzeiten ankommt. Ich zeige das mal anhand eines spezifischen Trinkverhaltens: Es begab sich, dass ich im Spätsommer im Rheinland war, in einer Zeit großer persönlicher Umbrüche. An einem Samstagabend kam ich von einem hochkultivierten Treffen mit Freunden am Düsseldorfer Hafen, und als gute Touristin nahm ich den öffentlichen Nahverkehr zurück zu meiner Bleibe auf der anderen Seite des Rheins, ein kurzer Fußweg noch durch die laue Nacht, dachte ich, dann wäre ich auch schon da. Doch in einer kleinen Straße geriet ich in eine Menschenmenge, vor einer Kneipe kam ich endgültig zum Stehen. Ich registrierte, dass die anwesenden Männer wirre Fantasieuniformen trugen, konnte mich aber nicht damit auseinandersetzen, weil ich sofort in ein Gespräch verwickelt wurde – ein langer Typ um die fünfzig hatte sich aus dem offenen Fenster gelehnt.
»Komm mal rein, kannste rausschauen.«
»Äh, ich will eigentlich nur …«
»Komm rein, ich bin der Alex.«
Was soll man da sagen, ich sagte »okay« und drückte mich durch all die Uniformen ins Innere der Kneipe. Alex riss die Hände zur Decke vor Freude, bugsierte mich an einen Stehtisch, sagte »warte kurz« und kam mit zwei Schnapsgläsern zurück, gefüllt mit dunkler Flüssigkeit und Sprühsahne oben drauf. »Äh«, sagte ich, »ich will wirklich nur …«
»Sahnebällchen«, sagte er.
Er nahm sein Schnapsglas komplett in den Mund und kippte Kopf samt Oberkörper nach hinten. »Mach das mal nach.« Ich machte es nach, es war wie Alkoholtorte trinken.
»Sahnebällchen«, sagte er noch mal. »Tia Maria, Baileys, Cointreau und Sahne.«
»Meine Güte, warum trinkt ihr das?«
»Königsehrenabend«, sagte Alex, »wir sind Schützen.«
»Ah!«, sagte ich. »Schützenfest!«
»Königsehrenabend, Schützenfest ist in zwei Wochen, da musst du dabei sein.«
»Da bin ich schon längst wieder in Hamburg«, sagte ich.
»Du musst! Lass dich krankschreiben und komm wieder her! Da brennt die Stadt!«
»Wegen Schießen?«, fragte ich.
»Nee, weil wir marschieren.«
»Wie, marschieren?«
»Durch die Stadt.«
»Aber warum?«
»Zu Ehren der Stadt.«
»Kannst du auch schießen?«
Er machte ein Was-soll-die-Frage-Gesicht, und ein Tablett mit weiteren Sahnebällchen kam vorbei, Alex fischte zwei davon ab, wir tranken, es schmeckte besser.
»Kann ich als Frau auch Mitglied in eurem Laden sein?«
»Nee, das geht nicht, das ist nur für Typen.«
»Ihr seid ja schlimmer als die katholische Kirche.«
Strenger Blick. »Wir sind katholisch.«
Ich sagte lieber nichts, ich wollte es mir ja nicht direkt wieder verscheißen mit meinem neuen Kollegen. Er schaute verträumt. »Und morgen ist Sonntag, und meine Frau ist nicht da, herrlich, schön Netflix und Arschlecken.«
So richtig begriff ich das alles erst ein paar Tage später, als mir eine Freundin erzählte, dass kaum jemand in Neusser Schützenvereinen die Absicht hat zu schießen. Dass die Clubs hauptsächlich dem organisierten Saufen dienen. Dass die meisten Stadtbewohner während des alljährlichen großen Taumels vier Tage frei haben, die Kinder müssen montags nicht zur Schule. Dass die Trinkvereine nach der napoleonischen Besatzung entstanden sind, um die Freiheit der Stadt zu feiern – ich liebe die Freiheit, aber mein Entwurf in die Zukunft angesichts persönlicher Krisen war, die Tage der von vermutlich angezündeten Sahnebällchen brennenden Stadt lieber nicht mitzuerleben.