Blütenglück

Was kann man tun, wenn man sich nach der Natur sehnt, sie aber kaum in Reichweite hat? Man füllt sie sich in Flaschen ab. Eine Liebeserklärung an Holundersirup (inkl. Rezept!)

Foto: Maurizio Di Iorio

Ich habe die Leute nie verstanden, die raus aus der Stadt wollen. Ich fühle mich am wohlsten, wenn es laut und grau ist, wenn ich Häuserschluchten sehe und an mancher Straßenecke nicht weiß, was mich an der nächsten erwartet. Vermutlich liegt es daran, dass ich in der Großstadt aufgewachsen bin und immer in Großstädten gelebt habe. Das Unvorhersehbare, das manche mit großen Städten verbinden, das Verlorensein in etwas Größerem löst bei mir ein Gefühl der Geborgenheit aus.

Aber es gibt Dinge, die ich in der Stadt niemals haben werde, und dazu gehört die Möglichkeit, einfach irgendwohin hinauszurennen, und um einen herum blüht und wuchert es. Von einer Natur umgeben zu sein, in der man ständig Dinge pflücken, sammeln, ernten kann, weil es so viel von allem gibt. Immerhin einmal im Jahr erlebe ich das auch in der Großstadt. Dann nämlich, wenn der Holunder blüht. Das ist sowieso eine tolle Zeit, Ende Mai, Anfang Juni, wenn alles schon satt und grün ist, der Sommer aber noch vor einem liegt. Und dann sind da eben die Holundersträucher. Sie blühen in Parks, in Hinterhöfen oder am Straßenrand, selbst hinter dem S-Bahnhof habe ich schon welche gesehen. Ich ziehe immer frühmorgens los, weil da die Blüten am stärksten duften. Wenn ich die Omas aus der Nachbarschaft mit ihren Stoffbeuteln sehe, die jeden Baum in der Gegend kennen und an den abgelegensten Orten irgendetwas ernten, weiß ich, hier bin ich richtig. Und pflücke so viel, wie ich von den Zweigen bekomme.

Holunderblütensirup zu kochen hat etwas unglaublich Befriedigendes.  Fast so, als hätte man ein Häuschen auf dem Land

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Aus Holunderblüten lässt sich vieles machen, Kuchen, Cremes oder Tees, man kann sie frittieren. Am besten aber ist Sirup. Dafür schüttle ich den Holunder erst einmal so aus, dass ich die Insekten loswerde, der Blütenstaub aber nicht verloren geht, denn der ist das Wichtigste für den Geschmack. Für einen Liter Sirup nehme ich einen Liter kaltes Wasser und lasse darin zwei Handvoll Holunderblüten ein, zwei Tage lang bei geschlossenem Deckel ziehen. Danach filtere ich das Holunderwasser und koche es mit einem Kilo Zucker und einem Esslöffel Zitronensäure auf. Den heißen Sirup fülle ich in gut verschließbare Marmeladengläser oder Flaschen ab.

Holunderblütensirup zu kochen hat etwas unglaublich Befriedigendes. Es ist einfach und gibt einem das Gefühl, verarbeiten und einlagern zu können, was man selbst geerntet hat. Fast so, als hätte man ein Häuschen auf dem Land. Vor allem aber muss man dabei nichts anderes tun, keine Nachrichten hören, sich nicht mit der Welt draußen beschäftigen. Man steht einfach am Herd, rührt und guckt dem blubbernden Sirup zu. Ich kenne dieses Gefühl noch aus der Pandemie, als viele Leute Bananenbrot gebacken, ihre Keller aufgeräumt und sich in ihre Häuslichkeit zurückgezogen haben, weil das einer der wenigen Bereiche war, über den man noch die Kontrolle hatte. Sirupkochen findet in meiner eigenen kleinen Welt statt, die ich beherrschen und in der ich die Zukunft vorbereiten kann, den Moment nämlich, in dem ich meinen Sirup trinken werde, mit Sprudel, Eiswürfeln, einer Zitronenscheibe oder auch mal einem Schuss Wodka. Und ich werde mich nicht mehr über Leute wundern, die sich irgendwohin zurückziehen. Zum Beispiel raus aufs Land.