An Heiligabend werde ich wie jedes Jahr mit meiner Familie in die Kirche gehen, denn so ist es Tradition. Meine Kinder werden rummaulen, weil der Kirchgang in ihren Augen die Bescherung unnötig verzögert und sterbenslangweilig ist. Ich dagegen werde mich erst darauf freuen und hinterher ein schales Gefühl haben, weil ich wahrscheinlich nicht bekommen haben werde, wonach ich mich eigentlich sehne.
Ich bin nach wie vor Mitglied einer Kirche, aus der meine Eltern längst ausgetreten sind und gehe ab und zu auch zu Gottesdiensten. Ich habe meine Kinder taufen lassen, auch wenn schon sehr früh klar war, dass aus ihnen keine gläubigen Menschen werden würden, zum einen, weil wir Eltern es ihnen nicht vorleben, zum anderen, weil es ihrem Wesen nicht entspricht. Trotzdem würde ich ihnen gerne die Möglichkeit geben, etwas zu spüren, was mich, aller Skandale und aller Kritik an der Institution Kirche zum Trotz, irgendwie bei der Stange hält. Nämlich die Kraft von Ritualen, die Ahnung, dass es etwas geben könnte, was größer ist, als man selbst, das Staunen darüber, dass in einer Sammlung von Jahrtausende alten Geschichten ein paar universelle Themen stecken, die uns immer noch berühren.
Heiligabend sollte genau der Zeitpunkt sein, an dem sich all das auch noch dem rationalsten und glaubensfernsten Menschen am ehesten erschließt. Weil an diesem Abend die Kirche den ganzen rituellen Werkzeugkasten öffnen könnte, um genau das zu erreichen: ein Meer aus Kerzen, Weihrauchschwaden, Lieder, die jeder mitsingen kann, ein Evangeliumstext, den jeder kennt, ein Narrativ, das von allen christlichen Narrativen das simpelste und nachvollziehbarste ist: Wir feiern die Geburt eines Kindes.
Und trotzdem ist es oft ausgerechnet dieser Gottesdienst, den die Gemeinden nutzen, um sich mal ganz furchtbar modern zu geben. Vielleicht, weil da ja auch die kommen, die sonst nie dabei sind. Die will man »abholen«, unterhalten, denen möchte man was bieten, damit sie vielleicht wiederkommen. Deshalb werden dann lieber nicht zu viele traditionelle Lieder zu Orgelklängen gesungen, sondern ein paar schmissige, von Keyboard und Gitarre begleitete Songs, die außer dem Gemeinde-Kinderchor aber leider niemand kennt. Dann gibt es ein Krippenspiel mit möglichst vielen aktuellen Bezügen und launigen Gags: aus dem Stall wird ein Bushaltestellenhäuschen in einer Plattenbausiedlung, aus dem Wirt, der keinen Platz in seiner Herberge hat, wird ein Immobilienspekulant, Maria und Josef sind selbstredend syrische Flüchtlinge, in diesem Jahr böte sich noch ein Seitenhieb auf die Abtreibungsdebatte an (»Was, wenn Maria auf die verführerische Werbung einer skrupellosen Abtreibungsärztin hereingefallen wäre und das Jesuskind aus einer Laune heraus abgetrieben hätte?«). Die Hirten sind coole Kids mit Handys, aber ohne Akku, denen dann aber doch noch der Engel mit dem Ladekabel erscheint, so dass sie seine frohe Botschaft empfangen können.
Man muss die Weihnachtsgeschichte nach Lukas nicht zwanghaft ins heute übersetzen, sie funktioniert auch so
Das ist alles gut gemeint und es ist natürlich ein bisschen wohlfeil, sich einerseits nicht selbst in der Gemeinde »zu engagieren« und sich dann andererseits zu beschweren. Aber kann es nicht sein, dass bei der Ausgestaltung von Weihnachtsgottesdiensten weniger mehr sein könnte? Dass es vollkommen ausreichend wäre, der Kraft der Weihnachtsgeschichte zu vertrauen, so wie sie schon immer erzählt wird? Denn es gibt auch in den zwanghaft auf modern getrimmten Krippenspielen die eine Stelle, um die man nicht herum kommt, ein kurzes Stück Originaltext aus dem Lukasevangelium, in dem den Hirten ein Engel erscheint und sagt: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volke widerfahren wird. Denn euch ist heute der Heiland geboren. Und man spürt förmlich, wie die bis hierhin noch nicht wirklich in feierliche Stimmung versetzte Gemeinde aufatmet, denn um diese Sätze zu hören und vielleicht Trost in ihnen zu finden, ist man ja gekommen – für alles andere kann man auch in die Vorstellung der Laientheaterspielgruppe gehen.
Man muss die Weihnachtsgeschichte nach Lukas nicht zwanghaft ins heute übersetzen, die Geschichte funktioniert doch seit Jahrhunderten auch so und jeder, der zwei Minuten nachdenkt, erkennt die universelle Sozialkritik, die in ihr steckt. Die Kinder holt man auf diese Weise sicher auch nicht ab, für coole Musik und lustige Sketche gibt es Youtube, diese Art von Unterhaltung bekommen sie woanders besser und authentischer geliefert. Was sie aber vielleicht wirklich nur in der Kirche bekommen könnten, wäre eine mystische Erfahrung, die Ahnung von etwas Geheimnisvollem, von Feierlichkeit und der Schönheit eines alten, sich immer wiederholenden Rituals. Wie einem Orgelmusik buchstäblich in die Knochen fährt und wie anrührend es ist, wenn eine ganze Gemeinde zusammen singt, weil alle den Text kennen.
Es gibt so viele Bereiche, in denen die Kirche, insbesondere die katholische, dringenden Modernisierungsbedarf hätte: Die Aufarbeitung von Missbrauchsfällen, die überkommene Sexualmoral, die patriarchalen Strukturen, die Ausgrenzung aller Menschen außerhalb des cis-hetero-Spektrums, die kritische Auseinandersetzung mit ihrer Missions- und Kolonialgeschichte, um nur ein paar Punkte zu nennen. Der einzige Punkt, in dem die Kirche an Traditionen festhalten sollte, ist der Ritus. Das ist doch ihr »unique selling point«, ihr Alleinstellungsmerkmal, das, was ich nicht so ähnlich oder gar besser auf Netflix bekommen kann. Erst recht nicht zu Weihnachten, ein Fest das wie kein Zweites an Rituale und Kindheitserinnerungen geknüpft ist.
Der Fußballverein, für den meine Kinder schwärmen, veranstaltet seit vielen Jahren jedes Jahr ein »Weihnachtssingen« im Stadion: Die Ränge sind voll, jeder hat eine Kerze in der Hand, alle singen zusammen mit großer Ernsthaftigkeit traditionelle Weihnachtslieder. Die Nachfrage ist so groß, dass die Karten schon Wochen im Voraus ausverkauft sind. Auch meine Kinder, die jedes Jahr versuchen, um den weihnachtlichen Kirchgang herum zu kommen, möchten da unbedingt mal hin. Sie sind nämlich durchaus empfänglich für feierliche Rituale und die trostspendende Kraft einer Gemeinschaft, die zusammen an etwas glaubt. Auch wenn es in diesem Fall mehr der Fußball als der Gottessohn ist.