Als sich vor wenigen Wochen 19 chinesische und tibetische Bergsteiger aufmachten, um die Olympische Flamme zum Dach der Welt zu tragen, verhängte China eine Art Kriegsrecht: Der Mount Everest wurde für ausländische Bergsteiger und Touristen komplett gesperrt. Kein Alpinist und erst recht kein Tibet-Aktivist sollte die Zeremonie stören. Sogar Nepal beugte sich dem Wunsch des mächtigen Nachbarn und schirmte den höchsten Berg der Welt von seiner Seite aus ab. Soldaten bezogen im nepalesischen Basislager Stellung, ebenso im Lager 2 unterhalb des Khumbu-Eisbruchs. Ein Amerikaner wurde ins Tal geschickt, weil das Militär eine tibetische Fahne in seiner Ausrüstung entdeckt hatte. Einer anderen Expeditionsgruppe nahmen die Soldaten die Nahrungsmittel ab, um sie am weiteren Aufstieg zu hindern.
Die Empörung war groß unter den Bergsteigern, die sich über Monate und Jahre vorbereitet hatten, um in dieser Saison das Dach der Welt zu erobern – kein Wunder. Doch wer dieses Abenteuer schon hinter sich hat, sah die drakonischen Maßnahmen Chinas womöglich in einem anderen Licht: »Ich bin nicht gerade sehr zuversichtlich, was die Zukunft des Everest betrifft«, hatte Sir Edmund Hillary schon vor Jahren düster bemerkt, der 1953 mit seinem Sherpa Tenzing Norgay als erster Mensch der Welt auf dem höchsten Gipfel der Erde stand. »Im Basislager drängen sich tausend Menschen und 500 Zelte; es gibt allerorten Restaurants und Bars und andere Annehmlichkeiten, die den jungen Leuten von heute zusagen. Nur im Basislager zu hocken und ein Bier nach dem anderen zu kippen kann man meiner Ansicht nach nicht als Bergsteigen bezeichnen.« So sprudelte es aus Sir Hillary 2003 hervor, ausgerechnet auf einer Feier zu seinen Ehren, fünfzig Jahre nach der Erstbesteigung. Er schloss mit der wenig ritterlichen Bemerkung: »Am Mount Everest ist alles nur noch gequirlte Scheiße.«
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Eine Tragödie ohne Folgen
Wer erinnert sich nicht an die große Katastrophe auf dem Mount Everest vor zwölf Jahren, an den Sturm von 1996? Acht Bergsteiger starben in den dramatischen Tagen vom 10. bis 13. Mai, die Jon Krakauer eindringlich in seinem Bestseller In eisige Höhen beschrieb. Viele dachten damals, die Tragödie werde künftig unerfahrene Kletterer von einer Besteigung des Everest abschrecken. Ein Irrtum: 1996 bestiegen 98 Menschen den Everest, im Mai 2007 erreichten nicht weniger als 525 Bergsteiger den Gipfel. Im Schlepptau dieser Horden arbeiten Hunderte Menschen: als Träger, Köche, Tellerwäscher, Yakhirten und Bergführer. Die Basislager am Everest – speziell das auf tibetischer Seite – muten daher heute eher an wie Bergarbeiterstädte.
Bei meinem ersten Versuch, den Everest zu besteigen, erreichte ich Anfang Mai 2004 die Straße, die in Tibet zum Everest führt. Dort fand ich eine Ansammlung von etwa 80 chinesischen und tibetischen Zelten vor, die den Eingang zum Basislager auf 5200 Meter Höhe bilden. Auf der Gletschermoräne jenseits des chinesischen Feldlagers lag eine weitere Zeltkolonie. Überall waren Schilder aus Karton aufgestellt, beschriftet mit »Hotel California« oder »The Everest Bed and Breakfast«. Aus Gettoblastern röhrte amerikanische Popmusik und auch sonst ließ das Angebot kaum Wünsche offen: Es gab Essen, Alkohol, ein Bett für die Nacht und natürlich Prostituierte.
Ein Mann sprach mich an, deutete auf ein Zelt voller Chinesinnen und zählte Preise und Leistungen auf. Später erzählten mir mehrere Ärzte, dass sie neben traditionellen Bergsteigerleiden wie der Höhenkrankheit und Erfrierungen inzwischen auch Geschlechtskrankheiten behandelten. Ich erfuhr von Bergsteigern, die mehrere tausend Dollar für wohltätige Zwecke oder für Aufräumarbeiten am Berg gesammelt hatten – tatsächlich lagern dort mittlerweile Tonnen von Müll. Diese Bergsteiger jedoch finanzierten von dem Geld nur ihren eigenen Ausflug zum Everest. Je höher ich aufstieg, umso tiefer erschienen mir die Abgründe, die sich auftaten.
Diebe am Dach der Welt
Denn auch die hoch gelegenen Lager am Berg waren zu einem Ort der Gesetzlosigkeit verkommen. Viele Gruppen beklagten den Diebstahl lebenswichtiger Ausrüstungsgegenstände: Seile, Sauerstoff, Funktionskleidung, Stirnlampen und Zelte. Einige Bergsteiger berichteten, sie hätten bei der Rückkehr ins Lager fremde Bergsteiger in ihren Zelten und Schlafsäcken vorgefunden. Die Eindringlinge hätten sich ungeniert an ihrem Brennspiritus, ihren Nahrungsmitteln und sogar ihren Sauerstoffflaschen bedient, die für jeden Bergsteiger in dieser Höhe lebensnotwendig sind.
Als ich selbst aufstieg, wurde mir der gesamte Sauerstoffvorrat gestohlen, den ich für den Weg zum Gipfel vorgesehen hatte. Ebenso zehn der zwölf Zelte unserer Gruppe und sämtliche Seile, die wir am Berg anbringen wollten, um damit uns und allen anderen Kletterern auf der Nordseite des Everest einen sicheren Halt zu verschaffen. Schließlich nötigten uns die Sherpas, die wir selbst angeheuert hatten, Geld ab für Arbeiten, für die wir sie bereits bezahlt hatten. Einzelnen Mitgliedern der Gruppe, die sich widersetzten, wurden daraufhin Essen und Trinken vorenthalten.
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Der prügelnde Rumäne
Ursprünglich hatte mich der Rumäne George D. eingeladen, an seiner Expedition teilzunehmen und darüber zu berichten. Damals ahnte ich noch nicht, was für ein Mensch er ist: Im Basislager auf 5200 Meter Höhe schlug er nach einem Streit seine Ehefrau nieder und ließ sie bewusstlos vor dem Zelt liegen, bis sie von anderen weggetragen wurde. Mehrere Bergsteiger erzählten mir anschließend, dass D. seit Jahren den Everest besucht und für Gewaltausbrüche am Berg bekannt sei: In der Todeszone, also jenseits der 7000-Meter-Marke, hatte er einst das 15-jährige Sherpa-Mädchen verprügelt, das bis heute den Rekord als jüngste Bezwingerin des Everest hält. Er hatte auch einen Kletterpartner angegriffen und den Mann mit einer gebrochenen Rippe und Wasser in der Lunge auf dem Berg zurückgelassen.
Mir wurde klar, dass ich mit diesem Mann auf keinen Fall zum Gipfel aufsteigen wollte. Schon aus Selbstschutz: George D. hatte ganz offen gedroht, mich zu töten. Er werde meine Sauerstoffgeräte manipulieren, sagte er, oder mein Zelt anzünden, sollte ich meine Beobachtungen und die Aussagen anderer Bergsteiger über ihn publizieren.
»Ich brauche Ihre Hilfe!«
Nach der Rückkehr von meiner abgebrochenen Gipfelbesteigung fand ich auf meinem Laptop eine Nachricht vor. »Ich brauche Ihre Hilfe!«, schrieb eine Frau aus London mir und anderen Bergsteigern, die sich im Himalaja befanden. »Mein Vater wird am Everest vermisst.« Es handelte sich um Nils An-tezana, einen amerikanischen Arzt. Er hatte zwar den Gipfel erreicht, war aber beim Abstieg verschwunden. Sein Bergführer und die Sherpas berichteten später, ihn habe die Höhenkrankheit befallen. Er sei unfähig gewesen, sich ohne Hilfe zu bewegen, deshalb hätten sie ihn zurückgelassen. Der Bergführer, ein Argentinier namens Gustavo Lisi, vermerkte später auf seiner Webseite, dass er den Gipfel des Everest mit seinem Kunden erreicht habe. Die Schwierigkeiten beim Abstieg verschwieg er aber, auch gegenüber den anderen Bergsteigern im Höhenlager. Eine Gruppe, die gerade aufstieg, als ihnen Lisi vom Gipfel entgegenkam, hätte eine Rettungsaktion für Nils Antezana starten können. Sie ahnte jedoch nichts von seinem Schicksal. Es vergingen zwei weitere Tage, ehe der Bergführer Antezanas Frau die Nachricht überbrachte, ihr Mann werde vermisst und sei vermutlich tot.
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Die Lügen des Bergführers
Mit wie viel krimineller Energie manche Bergsteiger am Everest zu Werke gehen, erfuhr Fabiola Antezana, die Tochter des verunglückten Arztes, als sie Nachforschungen über den Bergführer Lisi anstellte. Lisi hatte ihrem Vater versichert, er habe den Everest bereits einmal bestiegen. Eine glatte Lüge, wie sich herausstellte: Er hatte seinen Kunden einfach das Gipfelfoto eines anderen Bergsteigers gezeigt. Die internationalen Ausweise und Bescheinigungen, die seine Fähigkeiten als Bergführer nachweisen sollten, waren ebenfalls Fälschungen.
Als Fabiola Antezana den Bergführer zur Rede stellte, gab er immerhin den Großteil der Ausrüstung ihres Vaters zurück. Darunter befand sich auch dessen Tagebuch, in dem er die Auflösungserscheinungen seiner Expedition beklagte und das launische Verhalten seines Bergführers. Gustavo Lisi »ist nicht sehr zuverlässig«, hatte Antezana geschrieben. »Ich würde ihn am liebsten entlassen.« Aber in 8000 Meter Höhe war er ihm ausgeliefert – bis zu seinem Tod.
Die Karawane zieht weiter
Während ich mich in Kathmandu aufhielt, der Hauptstadt von Nepal, um mehr über die zweifelhaften Bergkameraden bei meinem Aufstieg herauszufinden, erfuhr ich von zwei weiteren Expeditionen. Sie hatten zur gleichen Zeit stattgefunden wie meine eigene und waren auf tragische und geradezu kriminelle Weise fehlgeschlagen. In London hatte die Familie eines beteiligten Bergsteigers Klage eingereicht, gegen den Bergführer der Expedition und den Sauerstofflieferanten.
Den Gerichtsunterlagen lässt sich zum Beispiel entnehmen, dass der Mann, der den Sauerstoffhandel am Everest betreibt, wegen Drogenhandels zuvor sieben Jahre im Gefängnis verbracht hatte. Die Sauerstoffgeräte, die er anbot, stammten zwar von einem professionellen Hersteller, der auch Kampfpiloten belieferte. Aber befüllt hatte der Händler die Tanks selbst. Etliche davon versagten in der Höhe des Everest und brachten die Bergsteiger in Lebensgefahr.
Im März 2006 lernte ich in Kathmandu bei einigen Bierchen David Sharp kennen. Er sollte wenige Tage später tatsächlich den Gipfel erreichen. Doch beim Abstieg brach er in eine Höhle ein. Vierzig andere Alpinisten gingen sowohl bei ihrem Auf- als auch Abstieg vom Gipfel an Sharp vorbei. Er lebte noch, war aber zu erschöpft, um aus eigener Kraft abzusteigen. Zwar versuchten mehrere Bergsteiger, Sharp auf die Beine zu helfen, doch er konnte nicht mehr alleine stehen.
Sherpas machten sogar Aufnahmen von ihm für einen Dokumentarfilm, den der amerikanische Sender Discovery Channel drehen ließ. Doch niemand fand sich bereit, einen Hilfstrupp zusammenzustellen, um Sharps Leben zu retten. Discovery Channel bewies immerhin etwas Anstand und verzichtete später darauf, das Material von Sharp für seine Dokumentation zu verwenden.
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Ein Hoch auf die Blockade!
»Für mich hat die ganze Einstellung, was die Besteigung des Mount Everest angeht, etwas Ekelerregendes«, sagte Sir Edmund Hillary, als er von David Sharps Tod erfuhr. »Die Leute wollen nur noch hoch zum Gipfel. Es juckt sie nicht, wenn jemand in Not ist. Mich wundert es kein bisschen, dass die Leute andere Bergsteiger einfach verrecken lassen.«Hillary, der Anfang dieses Jahres starb, hatte sein Leben lang versucht, die wirtschaftliche Situation der Einheimischen am Fuße des Mount Everest zu verbessern. Er hatte aber auch vorgeschlagen, den Everest für Bergsteiger zu schließen. So sollte sich der Berg von den mehr als 3000 Gipfelbesteigungen erholen, die seit Hillarys Exkursion zum Everest geglückt sind.
Was hätte Edmund Hillary wohl gesagt, als Bergsteiger in aller Welt über die Olympiazeremonie auf dem Dach der Welt klagten? Gut möglich, dass er die Gipfelblockade der Chinesen begrüßt hätte.
Von Michael Kodas erschien kürzlich das Buch "Der Gipfel des Verbrechens" im Malik-Verlag.
(Fotos: AP, Reuters)