Schlecht geschlafen, weil Amsel, Drossel, Fink und Star draußen seit drei Uhr nachts herumgeschrien haben? Dann genervt ins Auto und schlapp in der Arbeit angekommen? Selber schuld.
Die Vögel können jedenfalls nichts dafür. Sie singen, um ihr Territorium zu verteidigen, Brutpartner anzulocken oder ihre Artgenossen zu warnen, wenn der Feind naht. Singen heißt für den Vogel: überleben. Aber genau das steht auf dem Spiel, zumindest für die Amseln, Kohlmeisen oder Rotkehlchen, die Wiesen und Wälder verlassen haben, um sich in die Nähe des Menschen zu begeben. Ihr Gesang geht zunehmend unter im Lärm der Stadt, verursacht vor allem durch den Autoverkehr. Deshalb singen einige Arten bereits nachts, wenn es leiser ist.
»Wenn man abends auf dem Heimweg von der Kneipe einen Vogel hört, ist es wahrscheinlich ein Rotkehlchen«, sagt der britische Ökologe Richard Fuller.
Nachtigallen haben eine andere Überlebensstrategie: Sie singen in der Nähe von Autobahnen um bis zu 14 Dezibel lauter, fand Henrik Brumm heraus, Biologe am Max-Planck-Institut für Ornithologie. Bis dahin herrschte unter Fachleuten die Meinung, dass »die Vögel immer so laut singen, wie sie können«. Aber so wie Menschen automatisch lauter sprechen, wenn der Geräuschpegel im Hintergrund steigt, halten es offensichtlich auch die Vögel. Von Amseln weiß man heute, dass sie einfach die Frequenzen erhöhen, um nicht unterzugehen. Stadtlärm spielt sich vor allem im Bereich von 1000 bis 3000 Hertz ab, das Konzert der städtischen Amsel setzt deshalb erst bei etwa 3500 Hertz ein.
Die Experten sind sich noch nicht im Klaren, wie sie die Entwicklung deuten sollen.
Einerseits birgt das Stadtleben für die Vögel Vorteile: ein reichhaltiges Nahrungsangebot, nicht zuletzt wegen der menschlichen Essensabfälle, ein wärmeres Klima, weniger natürliche Feinde. Andererseits zahlen sie für die Anpassung einen hohen Preis: Wer ständig schreit, ruiniert auf Dauer seine Stimmbänder. Außerdem lässt sich die Frequenz des Gesangs nicht beliebig variieren. Sonst läuft etwa das Amselmännchen Gefahr, dass ihn das Amselweibchen für eine Meise hält – und alles Werben wäre vergebens. Manche Forscher fürchten sogar, die Verhaltensänderungen könnten langfristig die ganze städtische Population schwächen.
Eine andere Theorie lautet, dass sich gerade ganz neue Arten von Stadtvögeln herausbilden, die mit ihrem Gesang nur noch untereinander kommunizieren und balzen können, während sie die Artgenossen im Wald nicht mehr verstehen.
Degenerierte Städter, die mit dem Landvolk nichts mehr anzufangen wissen? Irgendwie wird der Vogel immer menschlicher. Das ist keine gute Nachricht.
Illustration: Tina Berning