Keine Anerkennung für die Treue

Seit einem Jahrzehnt begleitet unser Leser einen erblindeten Freund zum Schwimmen, bei jedem Wetter, komme, was wolle. Dieser scheint die Geste für selbstverständlich zu nehmen.

Illustration: Serge Bloch 

»Ein guter Freund ist vor zehn Jahren nach einer Operation erblindet. Seitdem begleite ich ihn regelmäßig zum gemeinsamen Schwimmen, hole ihn dazu von der Bahn ab, was mit einem 20-minütigen Gang zum Bahnhof und von dort zur Schwimmhalle – auch bei Wind und Wetter – verbunden ist, geleite ihn durchs Bad und wieder zur Bahn. Als ich heute wieder mal durch den Regen stiefelte, dachte ich bei mir, ihm zu sagen: ›Ist doch eigentlich ganz schön nett von mir, dass ich dich ­immer abhole, oder?‹ Dahinter steckt ein gewisser Groll, dass er sich zu meinem ›Einsatz‹ nie anerkennend geäußert hat. Mir ist bewusst, dass die Erblindung ein schwerer Schlag war. Dennoch wurmt mich die Selbstverständlichkeit, mit der er meinen ­Beitrag in Anspruch nimmt.« Hans R., Berlin

Es ist wirklich unglaublich nett, was Sie für Ihren Freund tun. Dass Sie bei Wind und Wetter zehn Jahre durchgehalten haben, um ihm das Schwimmen zu ermöglichen. Und es ist tatsächlich nicht besonders sensibel von Ihrem Freund, offenbar nie daran gedacht zu haben, was für einen Aufwand das für Sie bedeutet. Wahrscheinlich haben Sie, freundlich wie Sie sind, darüber auch nie eine Andeutung verloren. Anfangs spürten Sie vielleicht noch den Schwung der Freude über die ­eigene gute Tat. So etwas wie Erleichterung, wenigstens etwas für Ihren frisch erblindeten Freund tun zu können. Inzwischen kommen Ihnen die 40 zusätzlichen Minuten, die Sie für Hin- und Rückweg brauchen, länger und länger vor.

Aber: Ihr Freund kann nicht wissen, dass sich da etwas in Ihrer inneren Haltung verändert hat. Von allein wird er nicht auf die Idee kommen, Ihnen auf einmal zu danken. Dafür hat sich das Ganze viel zu lange eingespielt. Ich meine, Sie machen das ja nun seit 2014. Sie sollten sich wirklich einmal darüber unterhalten, ob Sie dieses Arrangement überhaupt beide noch wollen. Rein theoretisch wäre immerhin denkbar, dass Ihr Freund überhaupt nur Ihnen zuliebe schwimmen geht. Soll es geben: dass zwei Menschen jahrelang in der irrigen Annahme feststecken, dem anderen mit irgendetwas einen Gefallen zu tun.

Zunächst aber sollten Sie sich darüber klar werden, ob es Ihnen nicht in Wahrheit zu viel ist, Ihren Freund abzuholen und wieder zur Bahn zu bringen. Falls ja, wird sich eine andere Lösung finden. Nach zehn Jahren Erfahrung kommt er bestimmt auch ohne Sie zum Schwimmbad. Falls Sie es weiter für ihn täten, fragen Sie Ihren Freund, ob er Ihre Dienste auch in Zukunft in Anspruch nehmen möchte. So geben Sie ihm die Chance, wahrzunehmen, was Sie für ihn tun. Und können anschließend immer noch darauf verzichten, irgendetwas zu ändern.