Warum konnte ich mich nicht wehren?

Bei einem Familienausflug begrapscht ein Mann unsere Leserin in der U-Bahn. Sie ist geschockt, und kann weder etwas sagen, noch handeln. Nun fürchtet sie, dass sie ihrer Tochter nicht gezeigt hat, wie man sich wehrt. 

Illustration: Serge Bloch

»Neulich waren wir mit unserem Sohn, 12, und unserer Tochter, 10, in Berlin. Wir fuhren abends U-Bahn, es war voll, die Leute standen dicht an dicht. Einige waren betrunken. Schon beim Einsteigen merkte ich, dass meine Tochter sich unwohl fühlte. Mein Mann und mein Sohn standen weiter weg. Ein Mann hinter mir drängte sich auf grenzüberschreitende Art an mich, beim Aussteigen grapschte er mir auch noch schnell an den Hintern. Ich habe nichts gesagt oder getan. Wohl, weil ich meiner Tochter nicht zeigen wollte, wie hilflos ich mich fühlte. Habe ich die Chance verpasst, meinen Kindern zu zeigen, dass man sich zur Wehr setzt?« Anonym, per Mail

Man kann sehr gut verstehen, warum Sie reagiert haben, wie Sie reagiert haben. In so einer Situation ist man doch völlig überrumpelt und perplex, zumal in der Öffentlichkeit, in einer engen, vollen U-Bahn, wo einem sowieso alles unangenehm ist und man eigentlich nur raus will. Und eine Zehnjährige will man natürlich nicht unbedingt damit konfrontieren, dass ihre Mutter soeben sexuell belästigt wurde. Insofern vollstes Verständnis, das mal vorab.

Rein theoretisch also: Hätten Sie besser anders reagiert? Ich finde diese von Ihnen aufgeworfene Frage eigentlich eine Überforderung. Wer Opfer einer sexuellen Belästigung wird, hat sich nicht auch noch irgendwie so oder so zu verhalten. Es reicht doch schon, damit irgendwie zurechtzukommen. An einem anderen Tag, in einer anderen Verfassung hätten Sie dem Mann möglicherweise eine gelangt. Oder ihn angebrüllt. Oder angezeigt. Natürlich würde man sich wünschen, der Typ wäre nicht so einfach davongekommen. Vermutlich macht er in der nächsten vollen U-Bahn das Gleiche wieder.

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Ihre Frage bezieht sich aber hauptsächlich auf Ihre Rolle als Mutter. Und hier möchte ich Sie aus der Schusslinie nehmen. Ihre Tochter scheint von dem Vorfall nichts mitbekommen zu haben, Sie hätten dies sonst erwähnt. Es ist also in erster Linie eine Sache zwischen dem Täter und Ihnen: Hätten Sie in diesem Moment anders reagieren können, hätten Sie anders reagiert. Grämen Sie sich nicht. Nächstes Mal sagen Sie vielleicht etwas. Wobei ich Ihnen natürlich wünsche, dass es nicht zu einem nächsten Mal kommt.

Und hier noch ein Tipp, falls Sie noch mal nach Berlin kommen: Gucken Sie am besten in der U-Bahn auch so grimmig wie alle anderen, in feindseliger Erwartung irgendeiner Aggression, die dann wegen des grimmigen Gewappnetseins hoffentlich nicht kommt.