Der Musiker als Kassenzahnarzt

Der Chart-Hit »Supergirl« steht für eine neue Generation von Popsongs, die fast ohne Aufwand im Hinterhof hergestellt werden. Wichtigste Regel: Sie dürfen nicht selbst geschrieben sein. 

Gut, man muss natürlich erst mal sagen: Applaus! Immerhin beweisen Anna Naklab und ihre Produzenten hier, dass sie den Musikgeschmack der Gegenwart durchschauen wie ein Goldfischglas. Auf Platz 2 der Singlecharts steht diese Woche »Supergirl«, ihre House-Version des 15 Jahre alten Reamonn-Hits. Erfolgreicher ist nur Felix Jaehns Remix von »Ain't Nobody (Loves Me Better)«, der seit mittlerweile sieben Wochen auf Platz 1 wohnt. Wo er damals fast nahtlos »Are You With Me« abgelöst hat, einen anderen House-Remix, der seinerseits den Remix »Cheerleader« an der Chartspitze ersetzte.

Die Top 5 sind ein Staffellauf der Coverversionen. Und am Hit »Supergirl« lässt sich das Rezept für kommerziell erfolgreiche Musik in seltener Klarheit ablesen:

Meistgelesen diese Woche:

1.) Man nehme einen alten Hit, der möglichst noch irgendwo im Unterbewusstsein der Deutschen lagert.

2.) Man lasse ihn neu einsingen, im besten Fall von einer attraktiven, jungen Frau.

3.) Man bastle einen Vierviertel-Housebeat drum herum; er sollte langsam genug sein, um ins Morgenprogramm von Radio Alpenwelle zu passen – und gerade noch schnell genug, um mit viel gutem Willen bzw. Bier auf der Abifeier tanzbar zu sein.

Fertig.

Kann man finden, wie man will, aber so sieht es aus, das Schema F, beziehungsweise H wie House-Remix. Und die Charts gehören denen, die das verstanden haben – einer relativ neuen Art von Popstar übrigens: Männern zwischen 20 und 30, die im Kinderzimmer mit dem Beatbasteln angefangen haben. Sie dürften in den letzten drei Jahren mit dem Schema Millionen verdient haben, sie heißen zum Beispiel Robin Schulz (28, aus Osnabrück, etwa: »Sun Goes Down«), Jacob Dilßner alias Wankelmut (27, aus Berlin, etwa: »One Day«), Felix De Laet alias Lost Frequencies (21, aus Brüssel, etwa: »Are You With Me«) oder Nicolas Demuth alias Parra for Cuva (23, aus Northeim, etwa: »Wicked Games«). Hinter Alle Farben, dem Produzenten von »Supergirl«, steckt der 29-jährige Frans Zimmer aus Berlin, der kürzlich in einem Interview erklärte: »Jetzt ist die Zeit für Selfmade-Leute. (...) Der Coolness-Faktor besteht darin, (...) über Youtube um die Ecke zu kommen.«

Man könnte auch sagen: Die Generation Laptop ist erwachsen – und dass die Musikindustrie immer weniger Geld umsetzt, gleicht diese Generation aus, indem sie ihre Hits im Hinterhof herstellt, mit quasi Null Aufwand. Da ist der Remix natürlich die ökonomischste Lösung.

Auch Anna Naklab weiß das. Sie ist 21 und keineswegs zufällig in den Erfolg reingestrauchelt: Mit Parra for Cuva, ihrem Schulfreund aus Northeim, stellte sie vor zwei Jahren »Wicked Games« ­– einen Remix von Chris Isaak – auf Soundcloud und stieg damit in die Charts. Sie wiederholt dieses Ritual gerade einfach nochmal.

Ihrer stolzen Northeimer Lokalzeitung hat sie vor ein paar Tagen verkündet, als nächstes würde sie gerne mal einen eigenen Song veröffentlichen. Bei allem löblichen Enthusiasmus: Man kann es ihr nicht empfehlen. Schließlich haben eigene Songs den Nachteil, dass man sie erst schreiben und dann im Gehör der Menschen verankern muss, bis sie erfolgreich werden. Bei alten Hits wie dem Reamonn-Riemen »Supergirl« macht man’s dagegen flott und ökonomisch wie ein flinker Kassenzahnarzt: Nur schnell ’ne neue Krone draufkleben, das Fundament sitzt ja noch!

Erinnert an: Das Amazon-Prinzip »Kunden kauften auch...«
Wer kauft das? Nostalgische Fans der 2010 aufgelösten Band Reamonn sowie Abiturienten, die das Original gar nicht kennen, weil sie vor 15 Jahren noch Pumuckl hörten.
Was dem Lied gut tun würde: Ein Gnadenschuss.