Wahrheit

Das Internet macht es leicht, die Ideen anderer als eigene auszugeben. Aber kann man das Diebstahl nennen? Dirk von Gehlen, Redakteur von jetzt.de, über die Fragwürdigkeit des Begriffs "geistiges Eigentum"

Reality Hunger – A Manifesto hat das, was Axolotl Roadkill anfangs nicht hatte: einen Anhang. Auf neun Seiten benennt der US-Autor David Shields für jeden der 618 Einträge eine Quelle. Das sei, erklärt Shields in einem kurzen Nachwort, ein Zugeständnis an seinen Verlag. Ihm wäre es lieber, der Leser schneide den Anhang einfach weg.

Das in den USA viel diskutierte Buch besteht aus Zitaten, Gedanken und Aphorismen, die überwiegend von anderen Autoren stammen; Shields hat das geliehene Material montiert und in Form gebracht. Der große Unterschied zu Hegemann: Die Zitate und Adaptionen seien »kein Fehler, sondern ein Feature« seines Buches, erläutert Shields. Ziel des Experiments: David Shields will unsere Vorstellung von Original und Kopie, von Wahrheit und Lüge auf die Probe stellen. Mit seinem Manifest will er der Zitatkultur, die häufig unter dem Stichwort »Copy/Paste« kritisiert wird, zu intellektueller Würdigung verhelfen. Helene Hegemann hat abgeschrieben, sie hat, wie der Jurist sagen würde, »sich die Urheberschaft an einem fremden Werk« angemaßt. David Shields hingegen zeigt auf, dass nicht im Abschreiben der Kern der Lüge liegt, sondern in der Selbstinszenierung desjenigen, der seine Quellen verschweigt. Es sei, schreibt Shields, für einen Künstler heute gar nicht möglich, sich den Einflüssen der Medien und der Umwelt zu entziehen: »Da ist plötzlich dieser Slogan oder diese Melodie in seinem Kopf, die ihm aber nicht gehört und die er deshalb nicht nutzen darf.« Natürlich: Auch das ist eine Anspielung. Und zwar von Jonathan Lethem, aus seinem 2007 erschienenen Roman Du liebst mich, du liebst mich nicht.

Der Kulturwissenschaftler Michael Hutter vom Wissenschaftszentrum Berlin hat diese Frage unlängst sogar noch weiter gedacht: Er spricht von »der Schauermär vom geistigen Diebstahl«, für ihn ein denkbar irreführender Begriff. Denn Geist kann nicht im materiellen Sinne gestohlen werden. »Geist wird schlimmstenfalls erschlichen – so, wie man in ein Konzert schleicht und mithört, ohne dafür bezahlt zu haben.« Dadurch nehme man aber – anders als beim Diebstahl eines Fahrrads – niemandem etwas weg. »Geistige Inhalte sind öffentliche Güter, das heißt, sie können von vielen gleichzeitig genutzt und sie können leicht erschlichen werden.«

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In diesem Sinne ist das Internet – oft als Ort des Diebstahls und der Lüge beschrieben – einer der geistreichsten Orte, die man sich denken kann. Hier gehen alle Inhalte in einen dem Geist vergleichbaren Aggregatzustand über: Sie werden digitalisiert – und können damit nicht gestohlen werden, zumindest solange man die klassische Definition des Diebstahls zugrunde legt. »Daten kann man nicht stehlen«, hat selbst die bayerische Justizministerin Beate Merk unlängst gesagt, um damit den Kauf einer Steuersünder-CD zu rechtfertigen. Was sie meint: Eine digitale Datei verschwindet nicht, wenn man sie wegnimmt, also kopiert. Das Original bleibt davon unberührt.

Dank der Digitaltechnik ist es heute so leicht wie nie zuvor, Musik, Texte, Filme und andere Inhalte zu verbreiten. Damit sind alle Geschäftsmodelle, die auf dem Verkauf von CDs, DVDs oder bedrucktem Papier bestanden, grundsätzlich infrage gestellt. Natürlich kann es keine Lösung sein, sich einfach alles kostenlos zu besorgen. Man muss Wege suchen, die Nutzung geistiger, digitalisierter Inhalte angemessen zu bezahlen.

Aber diese Wege wird man nicht finden, wenn man die Herausforderung umgeht, die mit der digitalen Kopie verbunden ist: die an unsere Sprache. Für den Prozess der identischen Vervielfältigung haben wir keinen Begriff. Sicher ist nur: Diebstahl ist nicht das richtige Wort. Erst wenn man akzeptiert, dass man mit der Rede vom Diebstahl in die Irre läuft, löst man den Vorgang aus dem moralisch ungenauen Kontext des Stehlens – und schafft so den Rahmen für eine mögliche Lösung.

Ein anschaulicher Vergleich für all diese Vorgänge stammt übrigens von Thomas Jefferson, dem dritten Präsidenten der Vereinigten Staaten: »Wer eine Idee von mir empfängt, mehrt dadurch sein Wissen, ohne meines zu mindern, ebenso wie derjenige, der seine Kerze an meiner entzündet, dadurch Licht empfängt, ohne mich der Dunkelheit auszusetzen.«

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Illustration: Christoph Niemann