Selman: »Ich lebe den Kleine-Jungs-Traum«

Er baut Raketen, spielt Football, liest die großen Philosophen. Und er sucht immer noch nach Antworten.


Zuhause lebt noch bei den Eltern
Ausbildung/Beruf Elektroniker, ab Herbst Berufsoberschule
Liebe keine Freundin
Einkommen 1300 Euro netto
Lieblingsessen türkisch und indisch
Lieblingsstar Christoph Waltz, Jean Reno
Größter Wunsch glücklich sein und nichts bereuen
Nächster Urlaub Interrail durch Europa

Selman ist Elektroniker und baut jetzt unbemannte Forschungsraketen im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt in Oberpfaffenhofen. Manchmal, wenn er morgens in seine Abteilung »Mobile Raketenbasis« geht, bleibt er bei der Kontrollbrücke der Weltraumstation ISS stehen: dann, wenn auf riesigen Leinwänden Live-Übertragungen von den Astronauten zu sehen sind. Selman lebt seinen Kindheitstraum.

Vor sieben Jahren spielte er mit Plastikwaffen im Wald, Softair-Battle mit nachgemachten Uzi-Gewehren und Walther-Automatikpistolen. Er und seine Freunde, eine Gruppe 13-Jähriger, filmten sich dabei in Posen, die sie aus Filmen über amerikanische Spezialeinheiten in geheimer Mission kannten, und unterlegten die Videos mit Musik. Und Selman liebte Magic, ein Fantasy-Strategie-Kartenspiel, bei dem man eine Mannschaft aus Geistern und Dämonen zusammenstellt, mit getauschten oder auf Ebay gekauften Karten, um dann seine Mitspieler mit dem Kartendeck »zu vernichten«. Heute steht er dem Gegner beim American Football gegenüber, in der Running-Back-Position, als derjenige, der mit dem Ball weit nach vorn laufen muss, zum sogenannten Touchdown. Seine Mannschaft, die Razorbacks, steht auf Platz vier in der Regionalliga.

Alles, was er als Kind liebte, mag er immer noch: Technik und Computer, komplexe elektronische Systeme, Strategie und Taktik. Seine Stimme klingt jetzt so tief, wie er es sich als 13-Jähriger wünschte; da verstellten seine Freunde und er im Wald ihre Stimmen, das sollte cooler klingen.

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Zusammen mit seinen beiden Brüdern wohnt Selman noch bei seinen Eltern, in Überacker bei Fürstenfeldbruck in der Nähe von München. Vor dem Haus stehen fünf BMW, aufgemotzt, ein Z4, ein 530 Diesel und drei aus der Dreier-Baureihe, aber Selman, ganz Kenner, sagt »E 36, E 46, E 30« dazu. Ihm gehört einer der Dreier, auch ein Kindheitstraum. Fatih Kurban, der Vater, arbeitet seit 27 Jahren bei BMW als Kfz-Mechaniker, alle in der Familie sind BMW-Fans. Die Familie ist das Wichtigste in meinem Leben, sagt Selman – neben dem Sport, »aber das ist ja auch irgendwie Familie«.

Dreimal die Woche geht er zum Training, heute, am Freitag, warten um fünf Uhr auf dem Sportgelände siebzig Fürstenfeldbrucker Jungs im Alter von 15 bis 33 Jahren mit Brustpanzern und roten T-Shirts. Auch Selman trägt Schulterschutz, Helm, Bein-, Hüft- und Steißschoner, und er sieht ein wenig aus wie damals mit 13, als seine Freunde und er bei ihren Spielen im Wald Trainingsanzüge, Mundschutz vom Baumarkt und Skibrillen trugen. Aber jetzt schießen sie sich nicht mehr zum Schein ab, jetzt krachen die Helme gegeneinander. »Hey, Alter, ich reiß dir den Kopf runter!«, »Du Psychopath!«, »Willst du mich dissen?«, schreien sie.

Am Ende aber klopfen alle einander auf die Schultern und heben sich gegenseitig hoch, die Gelenke knacken. Abklatschen, einhaken, ausspucken: Die braune Soße, die Selman ins Gras spuckt, kommt vom Kautabak, uramerikanischer und unverzichtbarer Begleiter beim American Football. Selman kommt mit feuchten Haaren aus der Umkleide, tief hängende Jeans, T-Shirt, Mütze – ein Styler zweifellos, er hat auch mal mit dem Gedanken gespielt, Modedesigner zu werden.

Raketen bauen, sich beim Football kloppen? Klingt nach Testosteronmaschine, nach männlichem Klischee. Auf den zweiten Blick aber ist Selman ein überlegter Mensch geworden, sucht ständig Antworten: Was ist richtig, was ist falsch, was würde meine Mutter sagen?

Natürlich hat er in den vergangenen sieben Jahren das ganze Repertoire pubertierender Jugendlicher durchgespielt: Hat sich mit gefälschtem Ausweis älter gemacht und sich so Zugang zu Clubs verschafft, ist nachts über den Zaun ins Freibad gestiegen, hat aus Spaß ein rotes Bobby-Car hinten an sein Mofa gebunden und ist damit durch Fürstenfeldbruck gefahren. Der Mofa-Führerschein war ein Geschenk seiner Eltern, als er mit den Waffenspielen aufhörte. Einzig Drogen ließ er aus, er hatte nie Lust auf dieses »synthetische Zeug«, findet Drogen »räudig«. Die Fürstenfeldbrucker Jungs von den Razorbacks trinken lieber Weißbier.

Im Herbst aber beginnt für Selman ein neues Leben: Ab September geht er wieder zur Schule, nach seinem Realschulabschluss und der Ausbildung zum »Elektroniker für Geräte und Systeme« will er nun sein Abitur nachmachen, auf der Berufsoberschule in Fürstenfeldbruck. Er wird dann nur noch vier Stunden in der Woche im Raumfahrtzentrum in Oberpfaffenhofen arbeiten. Anschließend will er studieren, Ingenieur oder ESE, »Embedded Systems Engineering«, sein jetziger Arbeitgeber will ihn dabei unterstützen. »Ich lebe den Kleine-Jungs-Traum«, sagt er.

Genau genommen lebt Selman mehrere Leben: ein deutsches, ein türkisches und ein amerikanisches, das Football-Leben. Wenn ihn seine Freunde mit »Hey, Kanake« ärgern wollen oder ihn sein Trainer »meinen Lieblings-Taliban« nennt, findet er das lustig.

Und dann ist da noch ein Leben, es ist ziemlich neu – er hat angefangen, »Philosophen zu lesen und so ’nen Käse«, sagt er, Nietzsches Also sprach Zarathustra, Sartres Das Spiel ist aus, Kafkas Die Verwandlung, weil es ihn interessiert, wie verschieden man die Welt sehen kann, und »weil mir noch der persönliche Feinschliff fehlt«. Das macht er nur für sich allein, er erzählt kaum jemandem davon.

Sein Lieblingsplatz im Sommer ist der Emmeringer See, da trifft er sich mit Freunden und redet über die Filme von Quentin Tarantino oder Penélope Cruz. An diesem heißen Tag im August sitzen ein paar Mädchen auf der künstlichen Insel, werfen ihre Haare in den Nacken. Eigentlich hatte er gehofft, er würde diesen Sommer eine Freundin finden, aber jetzt ist der Sommer fast vorbei. »Egal«, sagt er und wischt mit einer schnellen Handbewegung durch die Luft: »Weißt du was? Ich leb jetzt einfach mal drauflos.«

Fotos: Konrad R. Müller