Gut möglich, dass Sie von Tino Sehgal noch nie etwas gehört haben, obwohl der Wahl-Berliner zu den erfolgreichsten zeitgenössischen Künstlern gehört. Denn Sehgals Kunst existiert nur im Moment – oder in der Erinnerung. Man muss sie gesehen haben, um sie und ihn zu kennen – denn der in London geborene und im braven Böblingen aufgewachsene Sehgal erlaubt kein Foto, keinen Film, keinen Katalog und noch nicht einmal Werbeposter von seinen Ausstellungen. Sehgal will der Überflussgesellschaft nicht noch ein Produkt aufdrücken.
Seine Tänzer und Sänger vollziehen das, was er ihnen vorgibt: Sie bewegen sich wie Fischschwärme oder scheinbar orientierungslos, sie singen, sitzen, liegen, starren, küssen, rennen, sie drehen sich und laufen hintereinander her, und vor allem plaudern sie aus ihrem Leben, manchmal in stockfinsteren Räumen. Wer sich Sehgals Arbeiten anschaut, ist sehr schnell sehr begeistert. Ihre Schlichtheit zieht einen in den Bann. Auch der Kontrast. Seghal füllt Museen – mit Leben.
Manche kritisieren sein Bilderverbot als »Spleen«, manche jubeln ihn in den Himmel. Die New York Times schrieb: »So ein Künstler wird nur alle dreißig Jahre geboren.«
Wer ist der Mann, der kaum neue Arbeiten produziert, sondern alte stetig wiederaufführt und dem die Kuratoren der Welt dennoch zu Füßen liegen? Wir haben ihn begleitet, ein halbes Jahr lang, haben ihn in Paris, Dresden, Wien und Berlin beobachtet und gesprochen, um herauszufinden, wie Sehgal tickt, der mit nur 40 Jahren schon alles erreicht zu haben scheint.
Sehgal hat den Goldenen Löwen der Biennale in Venedig erhalten und bekam als jüngster Künstler überhaupt die komplette Rotunde im New Yorker Guggenheim-Museum ganz für sich, er hatte Einzelausstellungen im Berliner Martin-Gropius-Bau und in Amsterdams Stedeleijk-Museum, er war auf der Kasseler Documenta präsent und hat die Tate Modern bespielt, das größte Museum der Welt. In ein paar Tagen stellt Sehgal in Frankreichs größtem Museum aus, im Pariser Palais de Tokyo. Allein in London haben 1,6 Millionen Menschen seine Kunst gesehen. Innerhalb von nur 17 Jahren hat er die besten Museen der Welt bespielt. Millionen Menschen haben seine Arbeit gesehen, Millionen Menschen lieben sie. Was kommt als Nächstes? Ist der Erfolg zur Routine geworden? »Es ist für mich schon normal geworden, dass die Menschen meine Arbeit mögen.«
Thorsten Schmitz' Porträt von Tino Sehgal lesen Sie hier mit SZ Plus:
Foto: Adrian Crispin