Alles auf Anfang

Große Freiheit oder große Leere? Nach einem Jahr im Ruhestand ist nichts mehr, wie es war. Zwölf Rentner und Pensionäre erzählen.

Bernd Kunze, 66, war Leiter der Großküche eines Erfurter Klinikums
»Ich wollte so richtig loslegen: den Dachboden isolieren, die Garage aufräumen. Und dann saß ich zu Hause und eine große Leere überkam mich. Der Winter kündigte sich an, das Wetter war mies, und ich konnte mich zu nichts aufraffen. Ich denke, ich hatte einfach noch nicht begriffen, dass ich nichts mehr bestimmen, für nichts mehr geradestehen muss. Meine Rettung war, dass ich noch ein paar Monate weiterarbeiten konnte, als Berater der Großküche an der Uni Greifswald. So habe ich den Ruhestand etwas hinausgezögert. Aber jetzt werde ich einen zweiten Anlauf nehmen, es hilft ja nichts. Für meine Arbeit habe ich mein Privatleben immer zurückgestellt, nun muss ich es völlig neu aufbauen. Mich mit Haus und Garten beschäftigen, wieder Kontakt zu alten Freunden aufnehmen oder mit meiner Frau ins Gewandhaus zu einem Konzert fahren. Ich glaube zwar nicht, dass mich das so zufrieden macht wie früher der Beruf. Aber ich will es zumindest versuchen.«
Was haben Sie Neues gelernt?
»Auch mal zurückzustecken.«
Bodo Franz, 61, war stellvertretender Leiter des LKA Hamburg
»Wenn man Polizeibeamter war, legt man seinen Beruf nicht ohne Weiteres ab. Bei jedem Martinshorn frage ich mich: Was könnte da los sein? Nur leider erfahre ich in den meisten Fällen nicht, was geschehen ist. Das ist ein großer Kontrast zu der ungeheuren Menge an Informationen, die ich als Kriminalbeamter verarbeitet habe, und für mich bis heute unbefriedigend. Ich hoffe, das wächst sich irgendwann raus. Mein Ersatz sind jetzt die Familie, wir haben einen kleinen Enkel, und unsere Zwergpapageien. Momentan halten wir 35 Tiere in mehreren Volieren, jetzt habe ich endlich die Muße, mir die Tiere in Ruhe anzugucken und nach dem Rechten zu sehen. Es kommt immer wieder vor, dass ein Küken nicht gefüttert wird oder eine Fehlbildung hat. Da liegt dann auf einmal ein totes Würmchen im Nest. Früher habe ich das manchmal nicht bemerkt und das tote Küken erst spät rausgenommen. So etwas passiert mir jetzt nicht mehr.«
Was haben Sie Neues gelernt?
»In Ruhe die Dinge zu pflegen, die während des Berufslebens zu kurz gekommen sind.«

Friedel Frechen, 65, war Pressesprecher der Stadt Bonn
»Die ersten Wochen waren wie eine Entziehungskur. Ich habe die Lokalzeitungen abbestellt und, wenn es ging, auch keine Nachrichten mehr gehört. Das war nötig, weil ich ja meine biologischen und intellektuellen Reaktionsmuster kenne: Wenn ich etwas gesehen hätte, auf was ich in meiner früheren Funktion als Pressesprecher hätte reagieren müssen, dann wäre bestimmt wieder das volle Programm abgelaufen – ich hätte überlegt, was nun zu tun ist, Strategien entwickelt, Schlagzeilen und Statements formuliert - und mich vielleicht ziemlich aufgeregt. Viele hatten mir ja prophezeit, ich würde nie loslassen können, aber durch diese radikalen Maßnahmen ist mir der Cut gelungen. Er musste aber auch gelingen, mein Job war oft sehr belastend und ihn komplett hinter mir zu lassen eine Frage des Selbstschutzes. Ich stehe immer noch um 5.30 Uhr auf und sitze um acht gestriegelt und gebügelt am Frühstückstisch, lese inzwischen aber eine überregionale Tageszeitung. Lokale Nachrichten nehme ich nur noch selektiv zur Kenntnis.«
Was haben Sie Neues gelernt?
»Ich habe das Genießen wiederentdeckt.«

»Ich war froh, als ich endlich aufhören konnte«

Meistgelesen diese Woche:

Werner Schwengel, 67, war Bäckermeister in Hamburg
»Ich bin mit 14 in die Lehre gegangen und habe 52 Jahre lang gearbeitet. Lang hatte ich zwei Bäckereien, da habe ich teilweise schon abends um zehn angefangen zu backen und dann die ganze Nacht durch. Vor fünf Jahren habe ich den einen Laden verkauft, seitdem ging es erst morgens um vier los. Aber auch das wurde mir irgendwann zu viel. Man muss ja nicht arbeiten, bis man umfällt! Ich war froh, als ich endlich aufhören konnte, und habe die Arbeit in der Backstube bisher noch keine Sekunde vermisst. Für den Ruhestand habe ich mir nichts Besonderes vorgenommen. Aber eines war mir klar: Ich will mich nicht mehr anstrengen. Ich finde das fürchterlich, wenn sich Leute in meinem Alter noch so aufführen, als müssten sie Bäume ausreißen. Ich werde keine Fernreisen machen, mir keine Harley-Davidson kaufen und auch bestimmt nicht mit dem Rennrad rumrasen. Ich will jetzt einfach meine Ruhe haben. Und ich habe mir geschworen, nie wieder etwas zu backen.«
Was haben Sie Neues gelernt?
»Nichts.«

Dieter Krocker, 61, war Direktor bei Opel

»Im Berufsleben war mein Tag immer komplett verplant. Einige der gewohnten Ordnungsprinzipien versuche ich auch nach meinem aktiven Berufsleben anzuwenden. Meine Woche ist nach Blöcken geordnet: An bestimmten Tagen kümmere ich mich um Haus und Garten, an anderen um Familie, Freunde, Freizeit und meine diversen Ehrenämter, zum Beispiel den Vorsitz in unserem Tennisverein. Hinzu kamen im letzten Jahr größere Themen wie die Feier zu meinem 60. Geburtstag, eine Rundreise durch Spanien und ein unerwarteter Klinikaufenthalt. Das musste alles erledigt werden, ich war voll verplant und hatte nur wenig Zeit, die neue Phase zu reflektieren. Mein Alltag gliedert sich, so kann man es sagen, in Tausende Miniprojekte, die ich sorgfältig abarbeite. Das gibt mir die Gewissheit, dass ich meine Zeit sinnvoll verbringe. Entscheidend dafür ist, dass man bestimmten Routinen folgt und nicht einfach so in den Tag hineinlebt. Ich schlafe jetzt zwar eine Stunde länger als früher, aber spätestens um acht lege ich los.«
Was haben Sie Neues gelernt?
»Freundschaften zu pflegen und vielfältiger zu leben.«

Wolfgang Schramm, 69, war Leiter der Abteilung für Transfusionsmedizin und Hämostaseologie an der Uniklinik München

»Mich bekümmert heute, dass ich mir nicht mehr Zeit für meine Frau und unsere Töchter genommen habe. Erst im Ruhestand ist mir so richtig klar geworden, wie sehr ich meine Familie vernachlässigt habe. Verflixt nochmal, wir hätten häufiger etwas unternehmen müssen, doch es gab immer hundert Argumente, warum es heute gerade nicht geht. Ich kann das nun nicht mehr ändern, aber mir wenigstens vornehmen, in Zukunft mehr für die Familie da zu sein. Obwohl ich die Verbindungen zur Klinik komplett beendet habe, habe ich mein berufliches Leben aber nicht auf Null gefahren. Meine Zeit ist jetzt zum Teil mit Ehrenämtern ausgefüllt: Ich engagiere mich als Vorstand in der "Bayerischen Kinderhilfe Rumänien", halte Vorträge auf wissenschaftlichen Tagungen, bin im Vorstand einiger Forschungs – und und humanitären Stiftungen und zusätzlich im Verwaltungsrat meiner heimatlichen Donau-Ries-Kliniken. Außerdem werde ich wohl ein Seniorenstudium an der Münchner Hochschule für Philosophie aufnehmen.«
Was haben Sie Neues gelernt?
»Dass man manche Interessensgebiete, wie gemeinsame Reisen mit Familie und Freunden und Konzerte, einfach zu kurz gekommen sind.«

»Mein Ausgleich ist die Literatur«


Hans Steinert, 66, war Fachbereichsleiter Finanzen bei der AOK Bayern

»Seit ich begann, mir Gedanken über die freie Zeit im Ruhestand zu machen, habe ich mir die intensivere Beschäftigung mit der Literatur fest vorgenommen. Und so ist es auch gekommen. Die Literatur ist mein Ausgleich für den Alltag. Wenn ich lese, ziehe ich mich in die Welt der Bücher zurück, dann gehe ich auf die Suche nach etwas, womit ich mich identifizieren kann. Meine Lieblingsschriftsteller sind Philip Roth und Wilhelm Genazino. In ihren Büchern steckt eine Lebensphilosophie, die zeigt, wie man mit dem Leben und seinen Wechselfällen umgehen und ihm einen Sinn geben kann. Im Ruhestand habe ich nun auch endlich Zeit dafür, auf Spaziergängen das Gelesene zu überdenken und meine Erkenntnisse weiterzugeben. Ich glaube, wenn man abends sagen kann, heute war ein schöner und interessanter Tag, hat man schon viel erreicht. Auf jeden Fall ist mein Leben vielseitiger geworden, seit ich Ruheständler bin, die Literatur hat mir dabei geholfen. Und ab und zu ein guter Krimi zur Ablenkung ist natürlich auch nicht verkehrt.«
Was haben Sie Neues gelernt?
»Neu entdeckt habe ich die Malerei und die klassische Musik.«

Franz-Peter Osterkamp, 63, war Direktor eines Gymnasiums in Rüsselsheim

»Ich glaubte, gut vorbereitet zu sein. Ich hatte Erfahrungsberichte gelesen und mich mit Freunden unterhalten, die schon im Ruhestand sind. Das hat allerdings wenig geholfen. Als das neue Schuljahr startete, habe ich mich äußerst seltsam gefühlt. Ich empfand es schon beinahe als ungerecht, zu Hause zu sein, während Freunde und Bekannte ihrer Arbeit nachgingen. Mir wurde in dieser Zeit erst richtig bewusst, dass ich keine gesellschaftlich relevante Tätigkeit mehr ausübe. Seitdem arbeite ich daran, im Privaten meinen Lebenssinn zu finden. Ich nehme mir vor, meinen Tagen eine Struktur zu geben und sie mit Tätigkeiten zu füllen, die mir Spaß machen, zum Beispiel Schach spielen, Sprachkurse und Musik machen. Aber es gibt immer wieder Tage, an denen ich nichts sonderlich Aufregendes oder Erfüllendes erlebe. Auch während meines Berufslebens war nicht jeder Tag ein erfüllter. Aber im Unterschied zu heute waren meine Alltage von außen strukturiert. Für diese Struktur und damit auch meine innere Zufriedenheit bin ich heute allein verantwortlich - da gibt es keine Ausnahme mehr. Allmählich glaube ich, ich kriege das hin.«
Was haben Sie Neues gelernt?
»Die alleinige Verantwortlichkeit für das eigene Wohlbefinden zu haben kann ganz schön anstrengend sein!«

Horst Körner, 65, war Leiter eines Jugendzentrums in Berlin

»Ich war nie ein Familienmensch. Ich bin gerne zur Arbeit gegangen, meine Frau hat sich neben Ihrer Berufstätigkeit um den Haushalt gekümmert; an Werktagen haben wir nicht viel gemeinsam unternommen. Jetzt bin ich zu Hause, die beruflichen Verdienste, die ich erworben habe, zählen nichts mehr, und ich muss mir woanders Bestätigung suchen. Da wir beide nicht mehr erwerbstätig sind, hätte ich mich mit meiner Frau gemeinsam um den Haushalt kümmern können. Doch als wir darüber gesprochen haben, war schnell klar, dass meine Frau weiterhin für diesen Bereich allein zuständig sein möchte. Es ist ja auch ein bisschen anmaßend, wenn ein Mann 30 Jahre lang zu Hause wenig gemacht hat und dann auf einmal meint, sich überall einmischen zu müssen. Überflüssig komme ich mir als Rentner nicht vor, weil sich die Rollen, Werte und die Beziehungen ändern und neue auf meine Person passende Aktivitäten gefunden werden sollten; dies erfordert innere Arbeit. Obwohl ich dachte, dass ich mich auf das Alter gut vorbereitet hätte, habe ich gesehen, dass die Wirklichkeit des Alters anders ist als die Phantasie über das Alter. Auch das junge Alter ist eine Lebensphase mit Chancen und neuen Herausforderungen.«
Was haben Sie Neues gelernt?
«Ich lerne gerade, mir neue Lebensziele zu suchen; nicht nur die Berufsarbeit bietet vielfältige Lernchancen zur Weiterentwicklung.«

»Es gibt doch wirklich Interessanteres als den Beruf«

Klaus Höcker, 65,  war Busfahrer bei der BVG in Berlin
»In einer Stadt wie Berlin einen Linienbus zu steuern kann einem schon mal zum Hals raushängen. Man steht im Stau, vielleicht noch bei Hitze, die Fahrgäste meckern - stressig. Ich habe zwar immer versucht, alles gelassen zu nehmen, bin abends aber doch oft todmüde ins Bett gefallen. Es war deshalb überhaupt kein Problem für mich, in Rente zu gehen. Jetzt helfe ich ein paar mal im Monat bei Stadtrundfahrten aus - ganz in Ruhe, quasi im Entspannungsmodus. Ich fahre gemütlich durch die Stadt und muss nicht mehr kassieren. Dass viele Leute, die in Rente gehen, erst mal in ein Loch fallen, kann ich beim besten Willen nicht verstehen. Ich meine, es gibt doch wirklich interessantere Dinge als den Beruf und die Karriere. Warum hängen die Leute so daran? Ich habe immer nach der Devise gelebt, dass man arbeitet, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen - nicht mehr und nicht weniger.«
Was haben Sie Neues gelernt?
»Ich nehme die Dinge jetzt noch gelassener als früher.«
Werner Föhlinger, 66, war Dezernent bei der Deutschen Rentenversicherung in Speyer
»Auch früher im Urlaub konnte ich immer schnell den Schalter umlegen. Genauso war es bei meinem Eintritt in den Ruhestand. Obwohl ich gerne gearbeitet und meine Kollegen geschätzt habe, hatte ich keine Probleme, alles hinter mir zu lassen. Ein Grund dafür ist bestimmt, dass ich mir nicht überflüssig vorkomme. Die Leute aus unserem Dorf kommen zu mir, wenn sie Probleme mit ihrer Rente oder Krankenversicherung haben. Ich helfe ihnen dann mit Anträgen und Formularen - der Werner kennt sich aus, heißt es bei uns. Außerdem bin ich generell nicht der Typ, der zu Hause sitzen und sinnieren würde. Es gibt viele Dinge, manchmal auch ganz kleine, die mir Freude bereiten: eine Radtour zum Baggersee, Blödsinn machen mit meinen Enkelkindern. Schon jeder Tag beginnt für mich mit einem kleinen Glücksmoment. Der Wecker klingelt nach wie vor um sechs, wie früher, als ich noch berufstätig war. Ich höre ihn mir kurz an, schalte ihn aus und freue mich darüber, dass ich noch nicht aufstehen muss.«
Was haben Sie Neues gelernt?
»Word, Excel und den Umgang mit dem Internet. Da gibt's ja so viele Informationen!«

Hans Völler, 67, war Lehrer am Berufskolleg in Paderborn
»In den ersten Wochen nach dem Ruhestand, den ich um 2 Jahre hinausgeschoben habe, habe ich mein Arbeitszimmer aufgeräumt, auch im Garten und am Haus gab’s ein bisschen was zu tun. Und jetzt? Es ist nicht leicht für mich, morgens nirgendwo hin zu müssen. Ich schlendere so in den Tag hinein, das muss ich leider sagen. Ich hätte morgens gerne irgendwelche Termine. An die Schule denke ich mit ein bisschen Wehmut zurück. Ich hatte mich täglich auf meine Schüler und Kollegen gefreut. Es ging ja nicht immer nur um’s Fachliche. Wir haben uns auch über persönliche Dinge und politische Themen ausgetauscht. Soziale Kontakte sind sehr wichtig im Leben, das wird mir im Ruhestand immer klarer. Schlimm, wenn sie zu schwach wären. Da sind bei mir die Kinder, Enkel, meine Freundin, gute Freunde, Brüder, ein Sport-, ein Tanzkurs sowie ein regelmäßiges Treffen mit ehemaligen Kollegen. Im Tagesverlauf wird die Zeit knapp, der Morgen muss noch strukturierter werden.
Was haben Sie Neues gelernt?
Aktivitäten mit alten Freunden sind die besten.

Fotos: Gianni Occhipinti