Kommt ein Kunde ins Fahrradgeschäft und sagt: »Ich hätte gern eine Kettenbürste.« Fragt der Fahrradhändler: »Wieso?« Der Kunde denkt: Seltsam, so was passiert mir immer nur im Fahrradladen. Wenn ich in der Bäckerei sage »Ich hätte gern ein Körnerbrot«, fragt nie jemand »Wieso?«. Nur Fahrradhändler tun so was. Vielleicht, denkt der Kunde, weil ich das falsche Wort gesagt habe. So wie neulich, als ich von »Zahnrädern« sprach und der Fahrradhändler tat, als würde er mich nicht verstehen, weil es in seiner Welt »Ritzelpaket« heißt. Möglicherweise, denkt der Kunde, heißt es nicht »Kettenbürste«, sondern »Gelenkblätterpinsel« oder »Gliedschrubber«.
»Weil ich die Kette bürsten will«, sagt der Kunde vorsichtig. »Dafür gibt es doch diese schmalen, vorne gebogenen Dinger, die …« »Und warum wollen Sie die Kette bürsten?«, unterbricht der Fahrradhändler kühl. »Weil sie verdreckt ist«, sagt der Kunde. »Aha«, sagt der Fahrradhändler mit düsterer Zufriedenheit, denn genau diesen Punkt wollte er erreichen: Jetzt kann er beweisen, was der Kunde falsch gemacht hat. »Wenn Sie die Kette gepflegt hätten, kämen Sie jetzt gar nicht auf die Idee, sie bürsten zu wollen. Sie müssen die Kette regelmäßig mit einem leicht geölten Tuch reinigen.«
»Also, haben Sie eine Kettenbürste oder nicht?«, sagt der Kunde gereizt, denn er wollte nicht erzogen werden, sondern etwas kaufen.
»Nein«, sagt der Fahrradhändler seelenruhig triumphierend und fügt hinzu: »Ich glaube nicht an Kettenbürsten.«
Wenn die Fahrradsaison beginnt, erzählen Menschen in ganz Deutschland einander Geschichten wie die von der Kettenbürste. Sie erzählen, wie ein Fahrradhändler sie beim Aussuchen eines Schlosses beobachtet und dann, als sie sich für eins aus dem mittleren Preissegment entscheiden, halblaut kommentiert: »Ah, okay, ich dachte, du willst dein Rad behalten.« Sie erzählen, wie sie mit ihrem Kind einen Fahrradladen betreten – ein wichtiger Moment, das erste größere Fahrrad – und wie sie sagen »Hallo, wir würden uns gern ein paar 26er anschauen«, und der Fahrradhändler sagt »Ja gut, dann dreht den Kopf ein bisschen nach links, da hängen unsere 26er, die könnt ihr euch anschauen, bis sie jemand Probe fahren will«.
Früher gab es einen Ort der sicheren Demütigung im Einzelhandel - das war der Plattenladen. Der Laie betrat den Plattenladen in der Angst, auf einen Musiksnob zu treffen, der einem beim Kassieren das Gefühl gab, man würde das neue Smiths-Album sowieso nicht verstehen. Später war es ähnlich mit den Computerverkäufern, wer wusste schon genau Bescheid über Druckerkabel und Festplatten? Heute erfüllt diese Funktion der mufflige Fahrradhändler. Offenbar möchte er ausschließlich Rennradkomponenten an Spezialisten verkaufen und über Ritzelpakete, Lenkerhörner und Kalibrierbuchsen fachsimpeln. Stattdessen muss er sich rumschlagen mit Pack, das einfach nur von A nach B radeln will, und dafür ein Gefährt braucht, welches das Pack dann nie angemessen warten und aufpumpen wird. Über seine Menschenfeindlichkeit täuscht der Händler notdürftig hinweg, indem er seinem Laden einen heiteren Namen wie »Rad und Tat« oder »Radhaus« gibt.
»Das musst du pflegen«, sagt der Fahrradhändler, fassungslos angesichts des zur Inspektion vorbeigebrachten Rades, »und pflegen heißt: putzen!« Er sagt es im Ton des Vaters, der einen vor Jahren anwies, man müsse sein Rad dringend mal wieder auf Vordermann bringen. Der Fahrradhändler hat das Gefühl, er müsste die Ware vor dem Kunden schützen, er sieht sich als Erziehungsberechtigter aller Gelegenheitsradler und er kann gerade noch herunterschlucken, sein Gegenüber »Kaputtmacher« zu nennen wie früher die Eltern.
Der Fahrradhändler scheint dabei seltsam unfroh. Der Plattenhändler früher schien wenigstens noch eine gewisse Freude daraus zu ziehen, seine Kunden herablassend zu behandeln. Aber der Fahrradhändler wirkt, als habe er den Beruf einmal aus übergeordneten Motiven ergriffen, vielleicht sogar, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen, wo sich alle mit Muskelkraft auf gut gepflegten Ritzeln fortbewegen. Und stattdessen kriegt er jetzt unbeantwortbare Fragen gestellt wie die, was denn besser sei, Ketten- oder Nabenschaltung. Er soll banale Reparaturen wie Reifenflicken annehmen - an Rädern, die die Kunden womöglich im Internet bestellt oder bei Lidl gekauft haben! Und er muss sich immer wieder anhören, jemand bräuchte ein »Dings, also so eins für da hinten, wo das andere Dings …«.
Deshalb quält er seine Kunden mit unverständlichen Gegenfragen: »Was willste für ein Ventil – französisch, Sclaverand oder Schrader?« Er gibt bösartige Ratschläge: »Dein Hinterrad blockiert beim Zurückschieben? Dann klapp halt den Ständer ein!« Und er macht schmerzhaft faule Scherze: »Also, die Luftpumpe würde ich immer abmachen, sonst kommst du wieder und hast zwei davon.«
Im Grunde sind der menschenfeindliche Fahrradhändler und der gedemütigte Kunde Gefangene einer Entwicklung, die große Teile der Warenwelt betrifft: Prinzipiell einfache Produkte, die ganz grundsätzliche Bedürfnisse befriedigen, werden immer komplizierter und störungsanfälliger, egal ob Kaffeemaschinen oder Fahrräder. Um sie zu erwerben und zu benutzen, muss man eigentlich Fachmann sein. Man ist aber nur Verbraucher. Darunter leiden das Produkt und der Verkäufer, und weil zumindest der auch nur ein Mensch ist, zahlt er es dem Kunden heim, indem er ihn schlecht behandelt.
Theoretisch mag man das verstehen, praktisch nervt es wie die Hölle. Und die grausame Ironie daran ist, dass es im Grunde nur einen Weg gibt, sich dem zu entziehen: indem man so selten wie möglich einen Fahrradladen betritt. Das wiederum schafft man aber nur, wenn man sein Fahrrad pfleglich behandelt. Zum Beispiel, indem man regelmäßig die Kette mit einem leicht geölten Tuch reinigt und immer gleich das teuerste Schloss von allen kauft. Und dann? Dann hat der mufflige Fahrradhändler am Ende sogar noch recht behalten. Verdammt.
Fotos: Mikael Colville Andersen (aus »Cycle Chic«/Prestel Verlag)