Sobald es ums Spazieren geht, haben meine Frau und ich einen unlösbaren Konflikt. Je älter wir werden, desto mehr wollen wir beide zur Erholung durch die nähere Umgebung laufen. Aber sie durch die Natur, und ich nicht.
Durch eine Verkettung von günstigen Umständen wohnen wir nur ein paar Hundert Meter von einem Park und kaum mehr als einen halben Kilometer vom Fluss entfernt. Dies sind mit die beliebtesten Spaziergegenden der Stadt. Menschen kommen mit dem Auto aus anderen Bezirken hierher, ich möchte dafür nicht mal vor die Haustür treten. Sobald ich den »Elbwanderweg« erreiche, befällt mich die Art von innerer Unruhe, die doch eigentlich durchs Spazierengehen geheilt werden soll. Also sage ich zu meiner Frau, dass ich Spazierengehen »langweilig« finde, womöglich eine Spätfolge täglicher Corona-Ausflüge. Aber dann stellt sich heraus, dass ich, während sie in Parks flaniert, allein in die Stadt hineinlaufe und mich umso wohler fühle, je tiefer ich in scheinbar unwirtliche Gegenden vordringe. Als sie sich darüber amüsiert, sage ich den Satz, der ein klein bisschen mein Leben verändert: »Ich gehe einfach am liebsten in Gewerbegebieten spazieren.«
Gewerbegebiete sind in Flächennutzungsplänen meistens grau markiert, weil sie so uninteressant und deprimierend sind. Diesen gesellschaftlichen Konsens drückt der Architekturjournalist Florian Heilmeyer aus, wenn er sie »Un-Orte des architektonischen Verbrechens« nennt: »Dem ästhetisch interessierten Menschen gilt das Gewerbegebiet als Brutstätte des Hässlichen. Es sind Landschaften aus Asphalt und kistige Gebäude aus farbigem Wellblech, die wir nur mit dem Auto durchfahren (…)«
Von wegen, ich komme immer zu Fuß. Während ich mich beim Fischimporteur am Autobahnzubringer mit einem panierten Seelachsfilet für die Fortsetzung meiner Runde stärke, denke ich darüber nach, ob es einfach meinen Narzissmus bedient, mich gegen den Spazierstrom zu stellen und als Einziger gern zwischen Lagerhallen herumzulaufen. »Würden wir mit offenen Augen durch unsere Gewerbegebiete gehen, uns müsste jedes Mal das Blut gefrieren«, schreibt Heilmeyer: »Aber niemand schreit.« Nun laufe ich mit offenen Augen hier rum und schreie nicht, wie kann das sein?
Eingangs habe ich die Unruhe beschrieben, die mich befällt, wenn ich im Park spazieren gehe. Sie kommt, glaube ich, daher, dass das alles hier für mich gemacht wurde und ich es dennoch nicht würdigen kann. Müsste ich nicht eigentlich wissen, wie die Bäume heißen, und zwar alle, nicht nur die Birken? Warum tut das Grün nicht, wie meine Frau es nennt, meinen Augen gut, sondern ich gleite rastlos darüber, unfähig, mich an irgendetwas festzuhalten? Warum bin ich nicht in der Lage, die simple, im Wort Naherholungsgebiet enthaltene Anweisung zu erfüllen und mich zeitnah zu erholen?
Für einen Spaziergang verschwinde ich in einer anderen Identität, es hat etwas Befreiendes
Ich fühle mich wohler in einer Welt, in der es nicht um mich geht. Auf den Firmenschildern im Gewerbegebiet steht »Kemna, EinzA, Borco, Aspa«, nichts davon verstehe ich, aber da ich keine Geschäftsbeziehungen zu Kemna, EinzA, Borco und Aspa habe, muss ich es auch nicht. Die Bürogebäude sind nicht deshalb mit Waschbeton verkleidet, die Lagerhallen nicht deshalb mit hellgrauem Blech, damit mein Auge sich daran erfreut. Die Gehwege sind nicht für mich, sondern dafür, dass man von Transthermos zur Wurstbude kommt oder vom Reifencenter Bahrenfeld zur Bushaltestelle. Wer mir entgegenkommt, hält mich nicht für einen erholungsfreudigen Spaziergänger, sondern für jemanden, der seinem Gewerbe nachgeht. Für einen Spaziergang verschwinde ich in einer anderen Identität, es hat etwas Befreiendes.
Mir ist bewusst, dass das nicht für alle gilt. Die Geografin Leslie Kern beschreibt in ihrem Buch Feminist City, dass Städte eine von Männern für Männer gemachte Umgebung sind, in der Frauen und Menschen, die nicht so aussehen wie ich, sich längst nicht überall mit der gleichen Sicherheit und Selbstverständlichkeit bewegen können. Ich wünschte, ich hätte eine Antwort auf die Frage, wie sicher Gewerbegebiete für alle Menschen sind. Während der Geschäftszeiten sind sie belebt und divers, außerhalb davon ausgestorben. Beides empfinde ich als friedlich, aber ich kann mir vorstellen, dass es anderen anders geht. Trifft aber das Gleiche nicht auch auf Parks zu? Die Gewerbegebiete sind keine ideale Welt, sondern die sachliche Variante der romantisch gestalteten.
Seit ein paar Jahren ist in den sozialen Medien eine Ästhetik sehr beliebt, die als »liminal spaces« bezeichnet wird. Damit sind »Schwellenorte« oder »Übergangsorte« gemeint, also leere Flure, Treppenhäuser, Durchgänge, Unterführungen und so weiter. Sie haben etwas Unheimliches, weil man sich nicht geborgen darin fühlen kann. Andererseits sind sie anziehend, weil sie Aufbruch, neue Ereignisse, vielleicht ein neues Leben versprechen.
Noch der banalste Übergangsort ist eine Erinnerung daran, dass wir alle unterwegs sind
Diese Qualität finde ich auch in den Gewerbegebieten. Sie bestehen zu großen Teilen aus Schwellenorten, an denen Menschen und Dinge sich vorübergehend aufhalten, um dann an andere Orte aufzubrechen. Parkplätze sind Schwellenorte, die Bushaltestellen an den Personalausgängen, die Wartezone am Eingang der an den Stadtrand ausgelagerten Führerscheinbehörde. Die Regenunterstände für die Zigarettenpausen, die Logistikzentren, die nur dazu da sind, dass Waren möglichst schnell wieder unterwegs sind. Mich entspannt der Anblick dieser Orte, an denen es nicht ums Dableiben geht, sondern nur ums Ankommen und Weggehen. Sie erinnern mich an den Song des irischen Singer-Songwriters Van Morrison, Dweller On The Threshold, in dem er über sich singt: »Ich bin ein Bewohner der Schwelle«, und damit den Zustand vor einer Erleuchtung, vor einer Erkenntnis als eigentlich schöner beschreibt als den Moment der Erleuchtung selbst. Es mag übertrieben klingen, wenn ich behaupte, dass der Anblick asphaltierter Parkzonen mich mit der gleichen spirituellen Ekstase erfüllt wie der Schwellenzustand den großen Mystiker Morrison. Aber noch der banalste Übergangsort ist eine Erinnerung daran, dass wir alle unterwegs sind und das Beste womöglich erst noch kommt.
Eine der erfolgreichsten und meistgestreamten Fernsehserien der Geschichte ist auch eine Liebeserklärung an das Gewerbegebiet. Die US-Version von The Office lief von 2005 bis 2013 im Fernsehen und ist außerordentlich beliebt auf Netflix und in zahllosen Videoschnipseln. Und das, obwohl oder weil sie eine Illustration dessen ist, was der Gewerbegebiete-Kritiker Heilmeyer inmitten von Hallen und Parkplätzen beschreibt: »Dazwischen sitzen manchmal, wie abgeworfen, ein paar missratene Bürogebäude, in denen ein paar Unglückliche jede Woche ihre 38,5 Stunden absitzen.« Diese Geringschätzung empfinde ich nicht, wenn ich durchs Gewerbegebiet laufe. Im Gegenteil, die gut oder schlecht gepflegten Grünpflanzen zwischen den Lamellenvorhängen, die verzierten Namensschilder hinter den Frontscheiben der fürs Wochenende geparkten Lkw, die überflüssigen schmiedeeisernen Ornamente an den Handläufen zu Disponentenbüros – das nehme ich als Spuren einer Menschlichkeit wahr, die nicht kleiner oder größer ist als meine eigene. Auch wenn die Gewerbegebiete in meinem Beisein meistens leer sind, bin ich dort nicht allein, weil ich überall sehe, wie Menschen versuchen, ihr Leben mit Würde und Freude zu leben.
In einer Schlüsselszene von The Office kauft der Chef, Michael, das Aquarell des Bürogebäudes, das die Rezeptionistin Pam für eine Amateur-Ausstellung gemalt hat. »Das ist mein Fenster! Das ist mein Auto! (...) Das ist unser Gebäude!«, ruft Michael. Ich glaube, dass wir uns etwas vormachen, wenn wir glauben, dass unser Leben größer ist als das, oder größer sein muss. Und wenn wir es kleinmachen, was haben wir dann noch? Ganz am Ende von The Office, in der letzten Folge, im letzten Satz, sagt Pam: »Es steckt viel Schönheit in gewöhnlichen Dingen. Ist das nicht genau das, worum es geht?«
Und, ja, in diesem Sinne finde ich die Schönheit der Parks und Spazierwege verordnet, vorgegeben, während die Schönheit der gewöhnlichen Dinge im Gewerbegebiet sich anbietet, um entdeckt oder ignoriert zu werden, ganz wie man möchte.